Basisbewegung und Demokratie in Chile
Anfänge der Basisbewegungen
Bereits um die Jahrhundertwende beginnen sich die Arbeiter, angeregt durch die Entwicklung in Europa, vor allem in den Städten und den entstehenden Industriezentren zu organisieren. Die Lebensbedingungen der chilenischen ArbeiterInnen sind zu dieser Zeit unvorstellbar schlecht. Die Erschließung der Ressourcen des fast völlig auf den Rohstoffexport von Salpeter und Kupfer beschränkten Landes ist nur durch eine menschenverachtende Ausbeutung der chilenischen ArbeiterInnen möglich. Die aktive Bevölkerung beläuft sich zu dieser Zeit bei einer Gesamtzahl von 3,25 Millionen Einwohnern auf etwa 1,25 Millionen, von denen rund eine Million lohnabhängig beschäftigt sind.
Verschiedene Arbeitskämpfe und Unruhen in Valparaíso (1903), Santiago (1905) und Iquique (1907) werden durch das brutale Vorgehen der Armee und ohne nennenswerte Erfolge für die Betroffenen beendet. Allerdings sind diese Arbeitskämpfe Anzeichen einer zunehmenden Organisierung: In den Industriezentren werden erste Arbeitervereinigungen gebildet, aus denen später die unabhängigen Gewerkschaften entstehen. 1911 entsteht daraus der erste Arbeiterverband Chiles (FOCH).
Ebenfalls um die Jahrhundertwende entstehen die “juntas de vecinos” ( Nachbarschaftsräte), mit deren Entstehung der Versuch unternommen wird, die Befriedigung der Grundbedürfnisse wie Bildung und Gesundheit zu organisieren und soziale Strukturen und selbstbestimmte Stadtteilarbeit aufzubauen. Mit der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei im Jahre 1912, die zehn Jahre später unter dem Einfluß der III. Internationalen in Kommunistische Partei Chiles (PC) umbenannt wird, übernimmt sie gemeinsam mit der 1923 gegründeten Sozialistischen Partei Chiles PS) die Organisierung der Arbeiterschaft.
Dennoch bleibt die nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiterbewegung bis zum Jahr 1938 präsent. Durch ein politisches Bündnis zwischen dem 1936 gegründeten chilenischen Gewerkschaftsdachverband CTCh, der PS, der PC und einer der ältesten Parteien Chiles, der Radikalen Partei (PR) kommt es zur Volksfront-Regierung (“Frente Popular”) unter dem Präsidenten Pedro Aguirre Cerda. In dieser Phase werden das Sozialwesen und das Arbeitsrecht reformiert und die industrielle wie strukturelle Entwicklung des Landes vorangetrieben.
Unter diesen Bedingungen setzt eine starke Landflucht in die sich entwicklenden städtischen Ballungszentren ein. Der Bevölkerungsanteil der LandarbeiterInnen nimmt zwischen 1940 und 1960 von 43% auf 27% ab, Santiago z.B. erreicht im Jahre 1940 die Millionen-Grenze. Doch für die neuen StädterInnen gibt es weder Arbeit noch Wohnungen, und so entstehen seit 1947 die sog. callampas oder poblaciones marginales, die Armenviertel rund um die größeren Städte, in denen die zuströmenden Menschen meist langfristig eine Bleibe finden. Die Arbeiterorganisationen, Gewerkschaften und Linksparteien nehmen sich in der Folgezeit der Problematik der pobladores, der Bewohner dieser Slums an und werden zu ihrem Sprachrohr.
“La victoria” – erste Landbesetzungen
Dies ändert sich zumindest teilweise mit dem 30. Oktober 1957: Verzweifelt wegen des Wohnungsmangels besetzen Hunderte von obdachlosen Arbeiterfamilien unbebauten Boden des Großgrundbesitzes La Feria am Rande von Santiago. Dies ist die erste Landbesetzung in Chile und Lateinamerika, es entsteht der Stadtteil La Victoria. Die BewohnerInnen beginnen, Ihr Zusammenleben selbständig zu organisieren; sie wählen als kollektive Leitung der Siedlung ein Kommando der pobladores. 1966 wird eine junta de vecinos gegründet, der neben der politischen Leitung die Aufgabe zufällt, die Befriedigung der Grundbedürfnisse zu organisieren. Überwiegend in Eigenarbeit errichten die pobladores eine eigene Schule, eine Poliklinik sowie ein Strom- und Wasserleitungsnetz. Erst später und nach der Anerkennung ihrer Rechtstitel auf den Landbesitz erhalten sie von den christdemokratischen bzw. sozialistischen Regierungen Frei und Allende Unterstützung. La Victoria wird zum Vorbild späterer Landbesetzungen und der Selbstorganisation der pobladores, dieser Stadtteil ist berühmt für seine kämpferische Haltung bei der Durchsetzung ihrer Forderungen nach Selbstbestimmung der politischen Basis. Obwohl viele pobladores – ebenso wie die Siedlungsleitung – naturgemäß enge Bindungen zu den linken Parteien unterhalten, bleiben sie immer unabhängig. Überall in Chile erkämpfen sich nach dem Beispiel von La Victoria Basisgruppen neue Lebensräume. AdMapu beispielsweise, die größte Organisation der Mapuche, der ursprünglichen Bevölkerung des Landes, blickt heute auf einen über 30jährigen Kampf um die Rückerstattung des ihnen von Kolonisatoren, Großgrundbesitzern und dem chilenischen Staat geraubten Landes. In den allwöchentlichen Vollversammlungen der organisierten Mapuches, die in sog. comunidades zusammenleben und nur in dieser Organisationsform bestimmte kollektive Sonderrechte in Anspruch nehmen können, wird über politische Fragen, neue Projekte und v.a. die Möglichkeiten,und v.a. die Möglichkeiten diskutiert, der allmählichen Aushöhlung des vor gut 100 Jahren erkämpften Sonderstatus zu begegnen
1965 schließlich wird die Bewegung der Revolutionären Linken, MIR, gegründet, die sich als Vertreterin der Basisbewegung des Industrie- und Landarbeiterproletariats versteht. Nach eigener Darstellung wird der MIR von ehemaligen Parteimitgliedern der Kommunistischen (PC) und Sozialistischen (PS) Parteien Chiles zusammen mit pobladores ins Leben gerufen. Das Ziel seines politischen Kampfes ist die proletarische Revolution.
Movimiento Popular – Volksbewegung
Mit dem Wahlsieg des sozialistischen Präsidenten Allende werden ab 1970 die bereits von seinem Vorgänger Eduardo Frei versprochenen und langersehnten Strukturreformen in der chilenischen Volkswirtschaft in Angriff genommen. Bis 1972 sind eine vollständige Landreform durchgeführt sowie die wichtigsten Industriezweige nationalisiert worden. Gleichzeitig mit den Reformen erhält auch die Basisbewegung massive Unterstützung; Allende versucht, die sozialen Bewegungen in seine Politik einzubinden, die seiner Regierung entscheidend zur Macht verholfen hatten.
Viele Landbesetzungen werden legalisiert, besetzte Stadtteile werden an die Wasser- und Stromversorgung angeschlossen und bekommen vom Staat Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Die drei Jahre der Unidad-Popular-Regierung werden auch in den eigenen Reihen sehr unterschiedlich eingeschätzt, wobei der innen- und außenpolitische Druck auf Allende zweifelsohne von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Ein totaler Wirtschaftsboykott der westlichen Industriestaaten verschärfte die Situation erheblich, so daß viele der gut gemeinten Reformen ohne die notwendigen strukturellen Maßnahmen zum Scheitern verurteilt sind. So versucht Allende, der innenpolitisch zusätzlich durch die Opposition von Christdemokraten, Konservativen und Faschisten und den destabilisierenden Terror rechtsradikaler Gruppen behindert wird, die Probleme des Landes durch die Einbeziehung der Bevölkerung zu überwinden. Administrative Maßnahmen wie die Beschaffung und Verteilung der Güter des täglichen Bedarfs sollten die Basisorganisationen in die politische Verantwortung einbinden und dadurch die Unidad-Popular-Regierung stützen. Während des Streiks der chilenischen Unternehmerverbände 1972 müssen “kommunale Arbeiterräte” die Aufrechterhaltung von Produktion und Versorgung und Produktion übernehmen, um den völligen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern.
Als die Drohungen und der Terror der Rechten immer offener werden und im Juni 1973 in einem Putschversuch junger Offiziere gipfeln, fordert die Gewerkschaftsbasis zusammen mit anderen Basisorganisationen und v.a. dem MIR die Bewaffnung der ArbeiterInnen. Die Errungenschaften der Volksregierung sollen verteidigt werden! Gegen die Institutionalisierung der Basisbewegung durch die Allende-Regierung regt sich allerdings auch Widerstand. Verschiedene Gruppen machen einerseits durch konkrete Aktionen wie Fabrik- und Landbesetzungen und die Bildung von Selbstverteidigungskomitees Druck auf die Regierung, damit diese verstärkt der wachsenden innenpolitischen Gefahr von rechts begegnet, bedrängen aber andererseits die Regierung, indem sie in Eigeninitiative Reformmaßnahmen forcieren.
Friedhofsruhe
Am 11. September 1973 schließlich putscht das Militär unter Führung von General Pinochet gegen die sozialistische Regierung und alle sie unterstützenden Kräfte. Das Vorgehen ist dabei selbst für lateinamerikanische Verhältnisse äußerst brutal, wer vorher direkt oder indirekt die Politik Allendes unterstützt hat, ist nun rücksichtsloser Verfolgung, Folter, Mord und Verbannung ausgesetzt. Sämtliche Organisationen der Volksmacht , von den Stadtteilkomitees bis hin zur gewählten Regierung werden zerschlagen, ihre Vertreter beseitigt oder aus dem Land geworfen. Durch den Militärputsch wurden bestimmte Voraussetzungen geschaffen, die für das Verständnis der weiteren Entwicklung Chiles von Bedeutung sind und hier kurz genannt werden sollen:
1. Die Parteistrukturen der Arbeiterpartei sind zerschlagen; die Parteien selbst haben ihre führenden Vertreter verloren.
2. Parteien und Gewerkschaften sind verboten, ebenso wie die Organisationen der Basisbewegung.
3. Die spätere Umstrukturierung der Wirtschaft nach monetaristischen Gesichtspunkten führt zum Konkurs vieler chilenischer Betriebe, mit der Folge einer extrem hohen Arbeitslosigkeit.
4. Für mehr als die Hälfte der Bevölkerung bedeutet dies nicht nur den Verlust ihrer Menschenrechte, sondern auch Einbußen beim Lebensstandard.
5. Die produzierende Industrie wird zugunsten des Dienstleistungssektors verdrängt.
6. Die linke Kulturbewegung der Allendezeit und die neu entstehende Kultur des Widerstandes können nur im Untergrund arbeiten.
7. Der Bildungsbereich wird von der militärischen Doktrin dominiert, Offiziere der Armee werden als Universitätsrektoren “delegiert”.
8. Ökologische Gesichtspunkte haben im monetaristischen Wirtschaftsmodell keinen Platz.
9. Die traditionelle Rollenverteilung zwischen Mann und Frau gerät durch die Abwesenheit vieler Männer (Verfolgung, Exil, Gefängnis und Mord an Funktionären der UP-Regierung) vor allem in den unteren Gesellschaftsschichten ins Wanken. Die Frauen beginnen, in traditionellen Männerdomänen politische Arbeit zu leisten; dies soll jedoch nicht die tragende Rolle, welche Frauen schon vorher in der chilenischen Basisbewegung inne hatten, schmälern.
“Frauen sind am direktesten betroffen”
So sind es vorwiegend Frauen, die als erste nach dem Putsch wieder mit politischer Arbeit in der Öffentlichkeit beginnen. Dies entspringt aus der Notwendigkeit, die politische Linke neu zu organisieren, die permanenten Menschenrechtsverletzungen vonseiten des Regimes ausgesetzt ist. Frauen sind von den neuen Lebensumständen am direktesten betroffen. Sie sind im besonders hohen Maße arbeitslos geworden, und innerhalb der Familien tragen sie die Hauptlast der neuen Armut. Denn gerade die Frauen erleben täglich hautnah die Schwierigkeit, ihre Familien sattzubekommen. Bei den politisch verfolgten Frauen kommt in den KZs des Regimes zu den üblichen Foltermethoden noch die sexuelle Gewalt hinzu.
Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt 1977 bei ca. 20%, der Lohnindex sinkt gegenüber 1970 auf 62,9%. In den Elendsvierteln von Santiago erreicht die Arbeitslosigkeit teilweise 90%. Von dieser Situation sind im besonderen Maße die Kinder betroffen: “5.000 Säuglinge sind nach Aussagen chilenischer Kinderärzte infolge akuter Unterernährung von Hungertod bedroht. Sollten sie gerettet werden, bleiben körperliche und geistige Schäden. 30-40% aller Kinder leiden an Unterernährung, 350.000 leben von den Resten aus Mülltonnen.”
Grundnahrungsmittel, Gas, Wasser und Strom werden zu Luxusartikeln. In Anbetracht dieser Notlage ist das “Nationale Programm der Junta für die Frauen” an Zynismus und Sexismus kaum zu überbieten: “1. Solidarität mit der Junta; Frauen fühlen sich in Sicherheit und haben ihre Ruhe wiedergewonnen, obwohl sie wenig zu essen haben. 2. Die Frau soll Beispiel für ein tugendhaftes Leben sein. 3. Die Frauen müssen Arbeiten zuhause selber machen, um zu sparen. (…)” Wenn hier von “wiedergefundener Ruhe” die Rede ist, dann wohl nur von Friedhofsruhe: 22.000 Frauen sind durch den Putsch zu Witwen geworden. Frauen finden nur noch in der Grauzone des Dienstleistungsgewerbes Arbeit, die schlecht bezahlt ist. Viele Frauen müssen sich sogar prostituieren, um sich und ihre Familien durchzubringen. Vor diesem Hintergrund wird die Organisierung im Gefängnis und in den Elendsvierteln zur Notwendigkeit, um der alltäglichen Repression etwas entgegensetzen zu können. Viele Frauen tragen die Nachbarschaftshilfen, andere organisieren die Kinderbetreuung, damit sie überhaupt arbeiten gehen können.
Durch diese Erfahrungen schreiten Emanzipation und Selbstbestimmung der Frauen sowohl innerhalb der Familie als auch im Sozialgefüge der poblaciones voran. Zwar hatte schon die Unidad Popular den chilenischen Frauen zum Beispiel im Betriebs- und Arbeitsgesetz gleiche Möglichkeiten, Rechte und Bezahlung eingeräumt, aber gleichzeitig auch die Doppelbelastung Familie/Arbeit verschärft. In den Jahren der Repression entsteht mit der Selbstorganisierung und den mitgebrachten Erfahrungen derjenigen Frauen, die aus dem europäischen und nordamerikanischen Exil zurückgekehrt sind, die Grundlage der heutigen chilenischen Frauenbewegung.
Der Kampf gegen die Repression
Nach den Menschenrechtsorganisationen der Anfangsjahre und parallel zur Organisierung in den Gefängnissen und KZs des Regimes gründen sich sogenannte wirtschaftliche Volksorganisationen zur Subsistenzsicherung der Bevölkerung. Mit der wachsenden Verelendung der städtischen Randbevölkerung wächst auch deren Organisationsgrad, was sich in der Entstehung von Volksküchen, Bildungseinrichtungen, Kindergruppen, Polikliniken, Kollektivwerkstätten und Selbstverteidigungsgruppen niederschlägt. Die städtischen Basisorganisationen reagieren allerdings nicht nur in Form dieser strukturellen Maßnahmen auf diese Misere, sondern zunehmend auch mit Demonstrationen und offenem Widerstand. In diesen Jahren ist es besonders schwierig, zwischen den Interessen der sozialen Bewegung und der im Neuaufbau begriffenen Parteistrukturen von PC, PS, MIR, Gewerkschaften, Studentenvereinigungen, Basiskirche und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu unterscheiden.
In den 70er Jahren ist der Widerstand gegen die Diktatur relativ punktuell, Grabenkämpfe innerhalb der Opposition können größtenteils vermieden werden. Die Einigkeit stärkt die Arbeiterbewegung so weit, daß 1978 erste Streiks in den Kupferminen stattfinden. 1979 führt das Militärregime mit dem Plan Laboral eine restriktive Arbeitsgesetzgebung ein, die zwar einige Rechte der ArbeiterInnen aufnimmt, sie aber faktisch in wesentlichen Punkten beschneidet. Das Streikrecht wird dadurch ausgehöhlt, daß übergreifende Streiks verboten und jeder Ausstand per se auf 60 Tage beschränkt ist. Die Bildung von Dachgewerkschaften ist verboten, die Gewerkschaftsbewegung wird systematisch zersplittert.
Nationale Protesttage: Die Jahre 1983-86
Die Selbstorganisationen des Volkes gründen 1981 eine landesweite Koordination CODEPU, das “Komitee zur Verteidigung der Rechte des Volkes”. Die Selbsthilfegruppen integrierten bereits in den vergangenen Jahren zunehmend politische und kulturelle Themen in ihre Arbeit. Sie entwickeln stärkere Widerstandsformen, die ihren Ausdruck u.a. in den nationalen Protesttagen der Jahre 1983-86 finden. In diesen Jahren tragen vor allem die Basisgruppen den Protest aus den Armenvierteln heraus in die Stadtzentren. Mehrere nationale Protesttage werden mit Demonstrationen der pobladores eingeleitet und durch Streiks der ArbeiterInnen und Sabotageaktionen in Fabriken und Versorgungstruktur (vor allem das Stromnetz wird in Mitleidenschaft gezogen…) unterstützt. Während die Pobladores der marginalen Viertel aus den Erfahrungen der Repression heraus, den tausendfachen Verschleppungen und Einsätzen der Armee auf Demonstrationen, schon seit 1973 Selbstverteidigungsgruppen gegründet haben, ruft seit 1984 die neue “Frente Patriótico Manuel Rodriguez” FPMR zum nationalen militanten Widerstand auf und beginnt die Aktionen der pobladores und ArbeiterInnen mit Sabotageakten zu unterstützen. Die Frente begründet ihr Eintreten in den politischen Kampf mit der unübersehbaren Institutionalisierung des Regimes, der zunehmenden Mobilisierung der Bevölkerung im Widerstand und der Notwendigkeit, diese Mobilisierung durch militärische Aktionen wirkungsvoll zu unterstützen.
Die Diktatur in der Krise
Diese Einschätzung der Frente Patriótico spiegelt in etwa auch die neue Haltung vieler Gruppen an der Basis wider. Vor allem Mitte 1986 kommt die Hoffnung auf, das Regime könne durch den Volkswiderstand in die Enge getrieben oder gar gekippt werden. Wenn auch die teilweise als avantgardistisch kritisierte Haltung der Frente nicht überall auf Gegenliebe stößt, so reflektieren deren Vorstellungen auf jeden Fall die kämpferische Stimmung der Jahre 1983-86, in deren Verlauf sich eine bedeutende Veränderung in der politischen Landschaft vollzieht. Diejenigen, die am meisten Angst vor einer unkontrollierten bzw. unkontrollierbaren Entwicklung des Widerstands im Land haben, die Parteien, können die von den ArbeiterInnen und pobladores erkämpften Freiräume nutzen, um ihre Rückkehr auf die politische Bühne vorzubereiten. Dies gilt in besonderem Maße für die Christdemokratische Partei (DC), die sehr früh ihre Arbeit wieder aufnehmen und sich so z.B. in der Gewerkschaftsbewegung etablieren konnte. Dieser Vorsprung ist bis heute in den Führungsgremien der Gewerkschaften zu spüren.
Zunehmend erheben Funktionäre der halblegal auftretenden linken Parteien den Führungsanspruch innerhalb der Protesttage. Sie benützen die Aktionen in den Poblaciones, um ihre Presseerklärungen und damit auch ihre Inhalte in der Öffentlichkeit zu lancieren und beginnen damit, ihre Parteienhegemonie der angeblichen “VolksvertreterInnen”, zu installieren. Auch hierüber sind die Meinungen vielfach geteilt, interne Kämpfe um die neuen Führungspositionen spalten die Parteien. MIR zerfällt in ein halbes Dutzend Gruppierungen, welche Inhalte vom Festhalten am bewaffneten Kampf bis hin zur Einführung der Parteiendemokratie vertreten. Die Spaltungen betreffen auch die sozialistische Partei Chiles. Die einen begrüßen den Rückgewinn des politischen Terrains, die anderen kritisieren daran, daß gerade das Einlassen auf die Plattform der Verfassung von 1980 über kurz oder lang zu Verhandlungen mit den Militärs führen muß; das bedeutet die Anerkennung der Militärs als politische Instanz – entgegen den Beteuerungen der 70er Jahre.
“Fahrplan in die Demokratie”
Tatsächlich verläßt die PDC 1986 auf dem Höhepunkt der Protesttage die Oppositionsplattform und beginnt Verhandlungen mit dem Regime. Den Verlockungen eines “Fahrplanes in die Demokratie”,, welcher das am 5. Oktober 1988 stattgefundene Plebiszit (das die Opposition mit ca. 55% Nein-Stimmen gegen Pinochet gewinnt) und die Parlamentswahlen für den 14. Dezember 1989 vorsieht, kann sich auf Dauer keine der “Volksparteien” entziehen… “Die von den Christdemokraten angeführte gemäßigte Opposition ist generell gegenüber dem Militär verhandlungs- und kompromißbereit. Diese Haltung kommt klar zum Ausdruck in den beiden Grundsatzdokumenten “Acuerdo Nacional” von 1985 und “Bases de Sustentacion de un Regimen democratico” von 1986. So spricht sich hier die gemäßigte Opposition generell für eine nationale Versöhnung aus, erkennt in einer gemischten Wirtschaftsordnung das Recht auf Privateigentum ausdrücklich an, will Strafverfolgung wegen Menschenrechtsverletzungen nur in belegbaren Einzelfällen vornehmen und lehnt Kollektivverurteilungen (also Verurteilungen des Militärs als Institution) ab; sie akzeptiert, daß das Verfassungsgericht Parteien für verfassungswidrig erklärt, die sich nicht an die demokratischen Spielregeln halten.”
Viele fragen sich, welche Spielregeln in einem Land gelten können, in dem die Militärs auf Jahre hinweg die Richter bestimmen, eine Verfassung von 1980 nur mit einer unmöglich zu erringenden Zweidrittelmehrheit in den Parlamenten zu ändern ist und Wahlgesetz und Verfassung den Militärs immer eine überdimensionale Präsenz in den Parlamenten sichern. Bisher sind ebenfalls weder die Geheimdienste noch die Militärs in irgendeiner Weise durch das Volk zu kontrollieren.
Die meisten Parteien sehen diesen Abschnitt als Redemokratisierung Chiles im Sinne einer parlamentarischen Demokratie an. Tatsächlich beteiligen sich alle Linksparteien, von MIR renovado bis zu den Sozialisten Almeydas am Plebiszit. Viele Basisgruppen jedoch verbinden mit dem Plebiszit sehr viel weitergehende Forderungen: Sie verlangen, ihre in der Vergangenheit aufgestellten Forderungen in den Redemokratisierungsprozeß miteinzubeziehen, vor allem die Beteiligung der Basis am politischen Geschehen. Diese ganzen Forderungen, wie nach einem “Nein zur Straffreiheit für die Militärs”, nach Gerechtigkeit für die Opfer des Regimes, nach der rückhaltlosen Aufklärung der begangenen Verbrechen, nach einem sozialistischen Wirtschaftsmodell, nach einer Auflösung der Militär- und Geheimdienststrukturen, nach dem Recht auf Ausbildung und Bildung (bei den Mapuche vor allem in ihrer eigenen Sprache, dem mapudungu), dem Recht auf Arbeit und Wohnung und nach Sozialstrukturen und nicht zuletzt nach Freilassung ALLER politischen Gefangenen, auch solcher aus militanten Organisationen, beinhaltet das “No – hasta vencer”.
“Keine Verhandlungen mit dem Regime!”
Gerade der Bedarf nach einer radikalen Umwandlung des privatmarktwirtschaftlichen Modells der Junta bedeutet für viele Pobladores die Umsetzung ihrer Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit in einem Land, in dem nach Einschätzungen von SozialarbeiterInnen 1989 ca. 5 Mio. Menschen an oder unterhalb der Armutsgrenze leben (bei insgesamt 14 Millionen Einwohnern Chiles), ca. 600.000 Kinder unter 14 Jahren obdachlos und ohne Familie sind und sich teilweise individuell oder für Kinderbanden prostituieren oder klauen gehen müssen, um zu überleben, mehrere hunderttausend Kinder und Jugendliche drogenabhängig oder spielsüchtig sind. Forderungen, die allein mit einer Beteiligung am politischen System der Herrschenden Utopie bleiben müssen.
So kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen den sozialen Bewegungen und den Parteien. Das heißt nicht, daß die Basisgruppen allgemein die Arbeit der Parteien, der mit ihnen verbundenen NGOs (Nichtregierungsorganisationen) und anderer parteilicher Strukturen ablehnen, zumal innerhalb der Gruppen viele Parteimitglieder mitarbeiten. Allerdings ist die Enttäuschung über die Funktionalisierung der Basisstrukturen nicht zu übersehen: “Merkst Du, wovon ich rede? Wir kämpfen, bauen eine Kraft auf, die den Pin8 an die Wand drückt und Sie verhandelt in unserem Namen, unsere Bewegung hinter sich. Arschlöcher! Erst das Plebiszit und dann in eineinhalb Jahren diese Wahl, die sie jetzt schon vorbereiten. Bald gibts wieder Abgeordnete und saftige Diäten, schicke Parteibüros haben wir jetzt schon. Politik wird wieder eine saubere Angelegenheit. Und wir bleiben die Angeschissenen in der gleichen Scheiße! An der Wirtschaftspolitik wird sich sowieso nichts ändern, auch nicht an der Bildungs- oder Gesundheitssituation.”
Diese Einschätzung teilen – wenngleich auch etwas weniger krass ausgedrückt – viele AktivistInnen der Poblaciónes. Eine Frau aus der chilenischen Frauenbewegung schreibt dazu: “Im Zuge der stärkeren Präsenz von Parteien seit 1987 absorbieren sie die sozialen Bewegungen (nicht nur der Frauen), oder sie gaben ihnen schlichtweg keine Partizipationsmöglichkeiten bei Verhandlungen, Verträgen der Ausarbeitung eines Regierungsprogramms und ebensowenig bei der Ernennung der Parlamentskandidaten. Einige Leiterinnen der sozialen Bewegung gaben der politischen Aktivität den Vorrang; so geschehen mit wichtigen Leiterinnen und aktiven Mitgliedern der Frauenbewegung, die sich auf Führungsebene der Bündnisparteien begaben oder dazu übergingen, sich an Kommissionen für ein Programm der nächsten Regierung zu beteiligen.” Bei der Institutionalisierung der Basisbewegung spielen ebenfalls die NGOs eine tragende Rolle, oft durch Parteistiftungen finanzierte Institutionen, welche verhältnismäßig gute Arbeitsbedingungen für alternative Forschungen bieten. So wird an diesen oft kritisiert, daß sie zwar die Folgen der Repression ausreichend dokumentiert haben, aber keine strukturelle Forschung zu Lösungsmöglichkeiten der Krise betreiben. Die Enttäuschung über die Parteistrukturen rührt also auch daher, daß Parteien in direkter politischer Konkurrenz zu den Basisgruppen aus diesen neue AktivistInnen anwerben, verlockend durch die gebotenen Arbeitsbedingungen: “Kaum tauchen in unseren Gruppen, ich meine den Basisorganisationen, fähige Kader auf, die wir in mühevoller Kleinarbeit geformt haben, denn es ist noch keiner vom Himmel gefallen, werden sie von der “cupula” (Spitze) der Parteien oder Gewerkschaften umworben, bekommen Unterstützung, werden vielleicht zum Studium ins Ausland geschickt und weg sind sie und Du kannst sie getrost vergessen. Wer einmal aus seiner Población entwurzelt wird, kommt selten wieder. Im besten Fall wird er einer unserer Genossen Parteistrategen, die im Trockenen sitzen und schön reden.”
In diesem Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis der Parteien, sich zu etablieren und den durch viele Erfahrungen in der alltäglichen Konfrontation erstarkten und selbstbewußter auftretenden Basisgruppen wird sich die Politik der “Redemokratisierung” Chiles innerhalb der Linken abspielen. Die Basisbewegung hat dabei viele gute Argumente auf ihrer Seite, vor allem was die Kämpfe der Jahre 1983-86 angeht. Sie können auf eine ganze Bandbreite gewachsener Strukturen zurückgreifen.
Die Krise der Linken
Dennoch: Die Linke Chiles insgesamt befindet sich in einer Krise, die der weltweiten ähnelt. Nach Jahren der Militärdiktatur wollen viele Menschen nichts mehr von Gewalt hören, auch nicht von revolutionärer. Der tägliche Kampf ums Brot läßt nicht viel Raum für Utopien. Aus dem solidarischen Widerstand ist in den langen Jahren der Diktatur eine Ellenbogengesellschaft geworden, nach dem Motto: “Rette sich, wer kann”. Es ist schwierig für die Älteren, mit dem Trauma der erlittenen Niederlage umzugehen, genauso wie es für die in der Diktatur herangewachsene Generation schwierig ist, aus den traumatischen Verhältnissen heraus an den Aufbau ihrer Zukunft zu gehen. Nicht umsonst beschäftigt sich in Chile eine für Lateinamerika bedeutende Anzahl von SoziologInnen, PsychologInnen, PsychotherapeutInnen und SozialarbeiterInnen mit dem Thema der “traumatisierten Gesellschaft”.
Diese Legitimierungskrise trifft zuerst die etablierten linken Parteien: Bei den Parlamentswahlen schneiden sie schlecht ab. Es gelingt den Christdemokraten und den sozialdemokratischen Fraktionen der SozialistInnen, die wichtigsten Ämter der neuen Regierung unter sich aufzuteilen, obwohl doch insgesamt 17 Mitte-Linksparteien in der “Konzertation für die Demokratie” zusammengeschlossen sind. Bei den kommunalen Neuwahlen zu den 1973-89 vom Pinochet-Regime als Disziplinierungsinstrument in den Poblaciones eingesetzten “juntas de Vecinos” treten zum ersten Mal wieder KandidatInnen der verschiedenen Links-Parteien an. Die Wahlbeteiligung der Pobladores liegt in vielen Stadtteilen allerdings nur bei ca. 30%.
Spätestens nach der Wahl 1989 muß sich die parlamentarische Linke fragen lassen, ob sie nicht die meisten ihrer politischen Prinzipien am Eingang zum Parlament wie einen zu schäbig gewordenen Mantel ablegt, ob sie nicht die Basisbewegung nur für ihren politischen Staffellauf in die Parlamente funktionalisiert hat, hinter der Ziellinie aber ohne die anderen MitstreiterInnen aufs Siegertreppchen treten will. Noch ist die Situation nicht ausweglos: Es kann viel dadurch gewonnen werden, über die Massenmobilisierung zu Brennpunkten hinaus die gewachsenen Strukturen der Pobladores, Landarbeiter und Mapuche als eine Stärke der Linken zu begreifen und als politische Kraft anzuerkennen. Nur so kann durch die Zusammenarbeit die Basis für einen Erhalt der erkämpften Freiräume breiter werden. Wenn nicht, dann droht den Parteien der Verlust des Momentes der radikalen Mobilisierung und ihr politisches Konzept wird zum Papiertiger: Von Rechts leicht zu kontrollieren?
Basisbewegungen wieder in der Opposition?
In diesem Sinne sehen sich viele der Basisgruppen heute als neue Opposition. Die aufgeworfenen Fragen verlangen jedoch nicht nur eine Antwort aus Chile, sondern auch von der Solibewegung in der BRD, die sich seit Jahren viel zu wenig um eigenständige Perspektiven einer selbstorganisierten, herrschaftsfreien Gesellschaft bemüht und Politik meist mehr als Forderung an irgendwelche Parteien versteht, denn als soziale Kämpfe: “Nun, erst einmal denke ich, solltet Ihr euch um Eure Dinge kümmern. Für hier nehmt Ihr Euch manchmal zu wichtig. Ihr seid uns erst glaubwürdig, wenn Ihr Euer eigenes politisches Projekt habt und nicht nur nach Chile kommt und uns erzählt, was wir tun können. Klar, Euer Geld wird immer willkommen sein. Egal, wem Ihr es anbietet. Solidarisiert Euch aber mit den Teilen des chilenischen Volkes, die auch nach der offiziellen Einsetzung der Demokratie für einen grundsätzlichen Wandel kämpfen müssen, um eine Chance zu haben, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben zu verwirklichen. Dann hört auf, die Gruppierungen und Parteien zu unterstützen, die das Projekt der Scheindemokratie propagieren. Informiert in Euren Ländern über die Situation im Land, über die Armut, die Folter, das Morden, die Ungerechtigkeit und die Lügen der Demokratisierung. Und unterstützt solche Gruppen von Menschen, die angefangen haben, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Es gibt viele Basisgruppen, die ein radikales politisches Projekt verfolgen, oder unterstützt die NGOs, die mit solchen Gruppen zusammenarbeiten. Aber vor allem: Informiert in Euren Ländern über die Situation hier und bekämpft den Imperialismus dort, wo er herkommt. Da ist jede/r von Euch unentbehrlich.”