Nummer 288 - Juni 1998 | Sport

Bayers brasilianische Tradition

„Wenn es ein Brasilianer ist, ist es gut!“

Lateinamerikanische Spieler hatten es lange Zeit schwer, in Deutschland Fuß zu fassen. In der Regel waren es Eintagsfliegen, die sich mit der deutschen Kälte schwertaten. Selbst wenn es sich dabei um Nationalspieler wie Perus Julio Baylon oder Argentiniens Carlos Babington in den siebziger Jahren handelte. Erst mit der Etablierung Bayer Leverkusens in der Bundesliga änderte sich das. Seitdem sind hierzulande zumindest die Brasilianer in den Stadien präsent.

Martin Ling

Der erste Brasilianer, Zeze, fand schon früh seinen Weg nach Deutschland und spielte 1964/65 beim damals amtierenden Meister 1. FC Köln, dem Erzrivalen von Bayer Leverkusen. Fünf Spiele, ein Tor und tschüß und weg. Bis 1987 agierten nur noch zwei weitere Brasilianer in der Bundesliga. Raoul Tagliari brachte es beim MSV Duisburg in zwei Jahren (1964-66) auf 9 Einsätze mit beachtlichen vier Toren, während Buca beim Hamburger SV 1979/80 die Eintagsfliege par excellence repräsentierte: ein Spiel, kein Tor. Dann herrschte Sendepause bis eben 1987. Bayer Leverkusen ist bekanntermaßen ein weltweit operierender Chemie-Konzern. Die Wertschätzung der Werkstruppe hält sich außerhalb des Sichtfeldes des Bayer-Kreuzes in Grenzen. Da war es eine verlockende Aussicht, dem dürftigen Image mit brasilianischer Fußballkultur zu begegnen, zumal mit Brasilien exzellente Firmenkontakte bestehen. Der erste Brasilianer entpuppte sich als Volltreffer und Schnäppchen zugleich. Lächerliche 375.000 DM mußte Brasilien für Tita zahlen, einen Nationalspieler wohlgemerkt. Dabei hatten ihn die Verantwortlichen von Bayer nicht einmal persönlich begutachtet. Ein Video genügte, sie vom Kauf zu überzeugen. Vermittelt wurde der Deal von einem in Brasilien tätigen freien Journalisten, Heinz Prellwitz, der zudem Südamerikamitarbeiter von adidas ist. Tita blieb zwar nur ein Jahr, hinterließ aber bleibenden Eindruck. Bei den Fans, die mit dem Gewinn des UEFA-Cups zum ersten Mal einen Titel zu feiern hatten, zu dem Tita mit seinen Toren einen entscheidenden Beitrag leistete. Und bei Manager Reiner Calmund, dem Tita mit „dickes Bandito“ einen illustren Spitznamen verpaßte. Calmund ließ sich dennoch nicht abhalten, weiter auf die brasilianische Karte zu setzen. Schon ein Jahr darauf verpflichtete er den damaligen Kapitän der brasilianischen Nationalmannschaft, Jorginho. Der Videobeweis allein genügte da schon nicht mehr. Calmund beobachtete Jorginho mehrfach persönlich, bevor er ihn für eine knappe Million DM verpflichtete. Auch der dritte Brasilianer bei Bayer, Paulo Sergio, der von 1993-1997 wirbelte, erwies sich als Volltreffer. Die brasilianischen Spieler stellten sozusagen den in Brasilien omnipräsenten Wahlslogan von Bayer: „Wenn es Bayer ist, ist es gut!“ – vom Kopf auf die Füße, denn in Leverkusen gilt seitdem: „Wenn es ein Brasilianer ist, ist es gut!“
Von derartigen Erfolgen motiviert, baute Bayer allmählich ein einzigartiges Talentsichtungssystem in Brasilien auf. Der Ex-Bayer Spieler und jetztige Talentscout Norbert Ziegler hat heute für jede Position im Spielsystem von Trainer Christoph Daum eine ganze Auswahl an Spielern in seinem Computer abgespeichert. Wenn Daum eine bestimmte Spielposition zu besetzen hat, schaut Norbert Ziegler in seinen Computer, gibt die gewünschte Anfrage ein, zum Beispiel Mittelfeld, defensiv, Rechtsfuß.

Spielersuche per Computer

Ein Mausklick, und mehrere Spieler erscheinen samt ihrer Bewertung auf dem Bildschirm. Jeder Spieler wird vor seiner Verpflichtung inzwischen mehrfach, mindestens zehnmal über einen mehrjährigen Zeitraum beobachtet und nach bestimmten Kriterien, wie „Technik“, „Schnelligkeit“ und „Kondition“ bewertet. Spieler, die für Bayer in Frage kommen, müssen in einer Notenskala von 0 („untauglich“) bis 10 („Ronaldo“) einen Wert von mindestens 8,0 erreichen. Ein perfektes System, da sollte nichts mehr schiefgehen. Kurioserweise wurden die nach diesem System verpflichteten Spieler vier, fünf und sechs nicht in Leverkusen glücklich. Rodrigo und Ramon Hubner wurden nach nur einer Saison (1995/1996) wieder nach Brasilien zurückverkauft, Ze Elias nach ebenfalls nur einer Saison (1996/97) nach Italien weitergereicht. Ein materieller Verlust entstand Bayer dadurch freilich nicht. Alle drei konnten mit Gewinn weiterverkauft werden, so daß es kein Grund gibt, von diesem System abzulassen. Von den aktuell spielenden Brasilianern hat sich Emerson wieder als Volltreffer erwiesen und auch Stürmer Rink soll gehalten werden, obwohl er noch keinen Stammplatz ergattern konnte. Mit der zehn Millionen DM-Neuverpflichtung des Flamengo Verteidigers Ze Roberto – Mitglied des aktuellen WM-Kaders – machte Bayer deutlich, daß weiter auf die brasilianische Karte gesetzt wird.

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