Begegnung in schwarz-weiß
Ein Fotoband zeigt Chile im Widerstand gegen Diktatur und Neoliberalismus

Zwielicht in einer Küche voller Menschen. An einem Holztisch voller Töpfe und Teller isst ein Kind. Rundherum eilen geschäftige Leute, eine Frau kocht, andere helfen, weitere Menschen haben Zutaten für die große Portion Mittagessen mit, einige stehen schon wartend um den Herd und unterhalten sich. Sonnenlicht fällt durch ein großes, vergittertes Fenster in das ansonsten dunkle Zimmer. Draußen sieht man die kleinen, graffitibedeckten Häuser des Viertels La Victoria in Santiago de Chile – eine Bastion des Widerstands gegen die Diktatur Pinochets von 1973 bis 1990 in Chile, wie der Titel des Fotos erklärt.
Das Foto zeigt eine Volksküche im Jahr 1986 und ist eines der vielen eindrücklichen Fotos aus dem Bildband Erinnerungen an mein geschundenes Land von José Giribás Marambio. Der Fotograf, dessen Karriere mit dem ersten Putschversuch der Militärs 1973 begann, floh kurz nach der wenig später erfolgreichen Machtergreifung durch Pinochet vor der politischen Verfolgung ins Berliner Exil. Erst ab dem Jahr 1986 konnte er zeitweise wieder in sein Heimatland zurückkehren, um das Leben im von der Diktatur gezeichneten Chile zu dokumentieren. Vor allem lichtete er dabei Chilen*innen ab, die trotz Verfolgung, Folter und Verschwindenlassen unermüdlichen Widerstand gegen die Diktatur leisteten. Die Fotos in schwarz-weiß werden immer wieder durch Erklärungen, Kommentare und Reflektionen des Fotografen ergänzt, die nicht nur das Abgebildete beschreiben, sondern häufig auch die Entstehung der Bilder und ihre persönliche oder politische Bedeutung transparent machen.
Komplexität in der Trennung von Tätern und Opfern werden reflektiert
Auch wenn der Fokus des Bildbands auf dem Widerstand liegt, beginnt er mit den Portraits von drei Soldaten. Der Fotograf reflektiert anhand dieser Begegnung die Komplexität, die in der moralischen Trennung von Tätern und Opfern liegt. Die späteren Fotos, die während der Besuche des in den 80er Jahren schon im Exil lebenden Giribás entstanden, zeigen oft Straßenszenen, Proteste und polizeiliche Repressionsmaßnahmen und portraitieren die chilenische Opposition jener Zeit. Wichtige Figuren und Gruppen der Opposition, wie beispielsweise Mónica Echeverria Yañez von der Gruppe Mujeres por la Vida („Frauen für das Leben“), werden vorgestellt. Giribás schafft es, dass die Modelle sich in seinen Portraits auf eine persönliche Weise öffnen und vermittelt so durch die Fotografie eine Beziehung zwischen Betrachter*innen und Abgebildeten. Dabei spielt er gekonnt mit den Lichtverhältnissen der körnigen, schwarz-weißen Fotos. Er setzt Fokus und Perspektive bewusst ein, um den betrachtenden Blick zu lenken: So ist auch mal der Vordergrund verschwommen und der Hintergrund fokussiert, so dass man wie aus den Augen des auf einem der Fotos abgebildeten Kindes die Polizisten in einigen Metern Abstand betrachtet.
Der Bildband zeigt Fotos eines Exilierten, der trotz der Entfernung doch nie auf Distanz gegangen zu sein scheint und mit dem Herzen bei „seinem geschundenen Land“ bleibt. Und das bis heute: Die Bilder, die den ersten Teil des Bandes abschließen, zeigen die Straßenkämpfe des estallido („Ausbruch“) 2019 und 2020. Auf diese Weise werden die Kontinuitäten, die trotz des Übergangs zur Demokratie 1990 in Bezug auf soziale Ungleichheit, Polizeigewalt und staatliche Repression weiter bestehen, subtil aufgezeigt. Das Buch soll eine Mahnung sein, um das Geschehene im Gedächtnis zu behalten oder auch erst richtig aufzudecken und öffentlich zugänglich zu machen. Es ist ein fotografisches Plädoyer für und ein Beitrag zu einer lebendigen Erinnerungskultur, die die Überlebenden von Folter und Verfolgung ins Zentrum stellt, deren Erfahrungen vermittelt und ihre Kämpfe weiterführt. Die Würde der Protestierenden und der Folterüberlebenden, die auf den letzten Seiten porträtiert sind, zieht sich als zentrales Element durch das Buch. Anders als viele andere Fotograf*innen versteckt sich Giribás Marambio dabei nicht hinter einem vermeintlich objektiven Blick durch die Kamera. Auch Teile seiner eigenen Geschichte werden erzählt, seine fotografische Arbeit und die weiterer Kollegen mitdokumentiert. Der Fotograf tritt als engagierter Teilnehmer der abgebildeten historischen Momente auf, deren Dokumentation ein wichtiger Beitrag zur Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses darstellt. Erinnerungen an mein geschundenes Land ist ein Fotoband, der für Menschen mit persönlichem Bezug zu Chile sicherlich ganz besonders berührend, aber auch für alle anderen eine politische und künstlerische Bereicherung ist.
José Giribás Marambio // Erinnerungen an mein geschundenes Land // Kerber // 2024 // 128 Seiten // 42 Euro