“Bei Gedächtnisschwund gibt es keine Versöhnung”
Interview mit Gonzalo Justiniano, dem Regisseur von “Amnesia”
Lateinamerika Nachrichten: Warum hast Du in Deinem Film ‘Amnesia’ auf einen direkten Bezug zu Chile und der dortigen Militärdiktatur verzichtet?
Gonzalo Justiniano: Um das Thema des Films in aller Tiefe zu behandeln, muß man es als etwas darstellen, was allen Menschen passieren kann, überall auf diesem Planeten. Über die Besonderheiten der chilenischen Vergangenheit hinaus gibt es ein universales Phänomen, nämlich daß der Mensch von Zeit zu Zeit den Fehler begeht, sich selber bzw. seinen Bruder zu zerstören. Ich bin also davon ausgegangen, daß die Thematik mehr Gewicht bekommt, wenn die belegten Details und eine geschichtsgetreue, realistische Behandlung des Themas in den Hintergrund treten.
Andererseits ist “Amnesia” auch ein sehr chilenischer Film, die Landschaften, die Städtebilder, die Namen lassen unschwer auf Chile schließen.
Natürlich geht es um ein Thema, das erkennbar im Zusammenhang mit Chile steht. Das ist ganz offensichtlich. Wenn Du aber einen Film machst, der nicht nur starke chilenische Elemente und Bezüge auf die Geschichte des Landes enthält, sondern sich eindeutig nur auf Chile bezieht, geht dabei der Aspekt verloren, daß solche Dinge auch woanders geschehen. So etwas hat es in Europa gegeben, in den Ländern des Ostblocks. Auch in Frankreich nach dem Algerien-Krieg, nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, in Spanien. Ich wollte es nicht überbetonen, daß der Film in Chile spielt.
Welche Bedeutung hat für Dich die Tatsache, daß der Film gerade jetzt zum ersten Mal in Deutschland gezeigt wird, 50 Jahre nach dem Ende des Faschismus und der Befreiung der Nazi-Konzentrationslager?
Das ist sehr beeindruckend. Bevor dieser Film gezeigt wurde, habe ich heute einen Bericht über die Bombardierung von Dresden gesehen, die man als Racheakt ansehen muß. Ich bin da sehr neugierig und habe versucht, etwas darüber zu lesen, wie es hier gewesen ist. Durch meinen Film habe ich gemerkt, daß nicht alles die Schuld eines Verrückten ist. Die gesamte Gesellschaft ist dafür verantwortlich. Und dabei gibt es bestimmte Gruppen, die die falschen Führer anstacheln, bis diese schließlich glauben, sie hätten die ungeteilte Unterstützung der Bevölkerung und könnten aufgrund dieser Machtbefugnisse über das Leben der anderen Menschen bestimmen. Der Prozeß hier in Deutschland ist ziemlich kompliziert, denn es gibt eine neue Welle des Rassismus mit seinen traurigen Auswüchsen in den letzten Jahren. Ich weiß nicht, inwieweit die Verantwortung hier richtig übernommen worden ist.
Und wie ist das mit der Verantwortung in der chilenischen Geschichte?
Ich habe eine totale Abneigung gegen das ganze militärische System, das ist ein großer Irrweg. Wenn der Mensch aufhört, primitiv zu sein, werden die Armeen abgeschafft. Wenn wir die Geschichte Chiles betrachten, ist dieser faschistische Wahnsinn, der aus einer bestimmten Ecke des Heeres kommt, nicht allgemein gültig. Das Heer gehört nicht allein diesen Leuten, es gab dort auch andere. Dabei muß man an Carlos Prats erinnern, den ehemaligen Oberbefehlshaber des Heeres, der von seinen eigenen Leuten ermordet wurde. General Schneider wurde ebenfalls ermordet. Das waren loyale Militärs. Ein Teil der Armee hat sich jetzt die patriotischen Werte zu eigen gemacht und bildet sich ein, den wahren Patriotismus zu vertreten, nur weil sie diesen Krieg des Brudermordes angezettelt haben. Das muß klar gesagt werden.
Der Film ‘Amnesia’ spricht von Schuldigen und von Opfern, es klingen aber auch Zwischentöne an. Welche Rolle spielt Ramírez, war er Opfer, oder war er ein Mitläufer?
Ich war sehr beeindruckt von einigen Fällen, wo junge Wehrpflichtige vor die Wahl gestellt wurden, zu töten oder selbst getötet zu werden. Viele wurden des Verrats angeklagt oder verschwanden, weil sie sich geweigert hatten, andere Menschen umzubringen. In diesem Sinne ist Ramírez natürlich Opfer. Ich habe mich oft gefragt, was passieren würde, wenn ich selber in einer solchen Situation wäre, schließlich gibt es bei uns Wehrpflicht. Wenn ich gezwungen wäre, einen anderen Menschen umzubringen. Ich glaube, ich hätte es nicht getan.
Der Soldat Ramírez spürte allerdings auch eine gewisse Bewunderung für Sergeant Zúñiga …
Natürlich, da mischen sich viele Gefühle, gerade dieses Wechselspiel hat mich interessiert. Wir sprechen von sehr allgemeinen Themen, ich wollte hauptsächlich einen Film machen, der auf zwei Personen aufgebaut ist, die für konkrete Erfahrungen stehen. Es muß viele Zúñigas geben. Er hatte keine Ahnung, was in Chile und in der Welt passierte. Von einem Tag auf den anderen fühlte er sich als Held und hatte die Vorstellung, die Erde zu säubern. Viele Militärs haben so gesprochen. Aber ich glaube, auch diese Leute sind auf die eine oder andere Art Opfer. Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß so jemand ruhig schlafen kann. Viele dieser Leute haben sich umgebracht oder sind verrückt geworden. Im Grunde genommen wissen sie sehr wohl, daß sie sich falsch verhalten haben.
Im Film spricht Zúñiga vom kontrollierten Gedächtnisschwund. Ist das ein sehr verbreitetes Phänomen in Chile?
Das ist ein ironisches Spiel, es ist wie die Ironie des Lebens. Alle wissen, daß ein bestimmter Politiker, der im Fernsehen auftritt, soundsoviele Leute auf die Straße gesetzt hat und eine sehr bedeutende politische Stellung innehatte, während im Land gemordet wurde. Jetzt ist keine Rede mehr davon, jetzt ist er ein Demokrat! Das kann ja wohl nicht sein. Das menschliche Wesen ist in dieser Beziehung sehr merkwürdig, denn der Mensch legt bei vielen Themen einen Mantel des Vergessens über sich. Wenn wir uns andauernd selber hinterfragen und nicht ständig betäuben oder alles verdrängen würden, wäre das Leben unerträglich und schrecklich. In diesem Sinn handelt es sich in Chile um einen kollektiven Prozeß, einen falschen Gedächtnisschwund.
Wo liegt das Problem dabei?
Dahinter stehen die Leute, die am meisten Interesse daran haben, einfach umzublättern und nie mehr zurückzuschauen. Wer in Chile durch die Straßen geht, fragt sich unwillkürlich, wieso die Menschen alle so nett sind, wieso sie sich so freundlich verhalten. Wie kann das möglich sein? Das war ein bißchen der Ursprung des Films, alle die Leute zu sehen, die sich herzlich begrüßen und unterhalten. Und hinterher merkst Du, was die alles auf dem Kerbholz haben … Ich wollte diese Leute in meinem Film darstellen.
Gibt es eine Beziehung zwischen kollektivem Gedächtnisschwund und der Amnestie?
‘Nicht Vergessen’ ist der Leitspruch. Amnestie vielleicht. Das ist der Leitspruch in Südafrika, wo viele für eine Amnestie sind, aber nicht für das Vergessen.
Aber diese Diskussionen gibt es in Lateinamerika auch!
Natürlich, das ist ein sehr kompliziertes Thema, besonders weil Pinochet nie geschlagen wurde. Er wurde in Wahlen besiegt, er hat aber noch einen großen Teil der Macht. Und die Regierung hat Angst vor ihm, auch wenn sie es nicht zugibt, große Angst. Bei allem, was sie tun, blikken sie zur Seite, um zu sehen, ob der Herr womöglich böse wird. Es sei daran erinnert, daß es unter der Aylwin-Regierung zweimal Aufruhr gab: Einmal, weil Pinochet wegen Unregelmäßigkeiten beim Ausstellen von Schecks überprüft werden sollte, und beim anderen Mal ging es um Menschenrechtsverstöße. Beide Male hat das Heer reagiert. Darum ist bei uns alles etwas merkwürdig. Es gibt Äußerungen, die einen wirklich sprachlos machen, so wie die des Senatspräsidenten in Chile: ‘Der Preis für die Demokratie ist das Vergessen.’ Damit bin ich nicht einverstanden.
Funktioniert das denn überhaupt?
Angeblich will sich niemand erinnern. Es ist aber erstaunlich, daß Fernsehsendungen über die Zeit der Diktatur hervorragende Einschaltquoten erzielen. Das heißt, daß alle das sehen wollen. Wovor man aber Angst hat, ist eine ernsthafte und verantwortungsbewußte Auseinandersetzung über die jüngere Vergangenheit und über die Frage der Verantwortung. Dann heißt es immer – ähnlich wie bei den Personen im Film – das sei ein unerfreuliches Thema, es müßten positive Dinge gezeigt werden.
Hast Du den Film deswegen gerade jetzt gedreht?
Ich habe das Gefühl, in einer sehr heuchlerischen, verlogenen Gesellschaft zu leben. Wir sollen uns selbst betrügen. Wie gesagt, wenn man heute durch Santiago geht, mit all den sympathischen, netten Leuten, kann man gar nicht glauben, daß so etwas geschehen ist. Dabei sind schlimme Dinge passiert. Ich bin der Meinung, wenn es keine richtige Aufarbeitung gibt und die wichtigsten Themen in Bezug auf die Vergangenheit nicht auf das Tapet gebracht werden, werden wir keine solide Demokratie aufbauen, sondern nur eine Scheindemokratie, eine heuchlerische Demokratie. Man muß erst richtig reinemachen und die ganze Fäulnis beseitigen, bevor man ruhig in einem Haus wohnen kann.
Wie wurde der Film in Chile aufgenommen?
Im allgemeinen ziemlich gut, offensichtlich wurde jegliche Polemik darüber vermieden. Alle beglückwünschten mich ganz allgemein, aber niemand wollte über das Thema polemisieren. Das heißt, sehr wenige. Alle sprachen von der guten Musik, von der hervorragenden Darstellung, von dem genialen Julio Jung (Darsteller des Soldaten Ramírez, Anm. der Red.). Aber das eigentliche Thema wurde nicht eingehend behandelt, man ging eher darüber hinweg.
Welche Rolle können die Filmemacher bei der Aufarbeitung der Vergangenheit spielen?
Eins verstehe ich nicht: Mir wird immer gesagt, schon wieder diese Themen. Zeig’ mir einen einzigen Film, in dem es um dieses Thema geht! Alle denken, es hätte zwanzig Filme darüber gegeben. Es gibt nicht einen einzigen, nun gut, bis auf ‘Náufragos’ (‘Schiffbrüchige’) von Miguel Littin, der auch dieses Thema behandelt hat. Das verstehe ich überhaupt nicht, und oft wird mir das Gefühl vermittelt, ich müßte mich schuldig fühlen, weil ich dieses Thema verfilmt habe. In Chile zu leben, ist etwas ganz Besonderes, es ist ein Land mit einem ganz besonderen politischen Übergang, mit dem Diktator nebenan, der alles kontrolliert. Eigentlich sollte die Armee im Dienste des chilenischen Volkes stehen, und nicht das Volk im Dienste der Armee. Das ist heutzutage ein bißchen durcheinander gekommen.
Soll der Film ein Beitrag zum Rückzug der Armee sein?
Eher ein Beitrag, zur eigenen Würde zurückzufinden, damit die ChilenInnen nicht weiter mit Füßen getreten werden. Dabei muß man allerdings sehr vorsichtig sein, denn natürlich will niemand den alten Konflikt wieder aufnehmen, der zu einer Art Bürgerkrieg führen würde. Die Stoßrichtung des Films ist, die Gesellschaft zu ‘säubern’. Es geht nicht an, daß bestimmte Leute Privilegien genießen
Noch einmal zurück zu Deinem Film: In der Schlußszene verzichten Ramírez und Carrasco darauf, sich an dem brutalen Sergeanten zu rächen. Warum hast Du dieses Ende gewählt?
Es war sehr schwierig, ein Ende für diesen Film zu finden. Es handelt sich um ein gewichtiges und ernsthaftes Thema. Es taucht die Frage auf, was Du mit diesem Menschen machen würdest. Würdest Du selbst Gerechtigkeit an ihm üben? Würdest Du ihn der Justiz übergeben? Gut, ich glaube, nur ganz wenige würden ihn laufen lassen. Das wäre dumm. Aber auch die Rache führt zu nichts. Rache ist aber auch ein natürliches Gefühl der Leute, die darüber frustriert sind, daß sie in einem Land Leben, wo es keine Gerechtigkeit gibt. Die beste und zivilisierteste Form ist die Verfolgung all dieser Fälle durch die Justiz. Ich bin gegen die Rache. Sie zieht eine Spirale der Gewalt nach sich, von der keiner sagen kann, wohin sie uns führt.
Was wäre geschehen, wenn Du einen anderen, einen gewaltsamen Schluß gewählt hättest?
Ein US-amerikanischer Film hätte so aufgehört. Mit einer Detaildarstellung des zerfetzten Gehirns und einem Blutfleck hinter dem Baum. Viele kritisieren mich, warum hast Du diesen Mörder nicht umgebracht? Ich denke schon, daß man all den Tätern eine Lektion erteilen muß. Allerdings gibt es genügend Leute, die viel zu clever sind, um mit der traumatisierenden Erfahrung zufrieden zu sein, erneut einen Menschen umzubringen.
Wäre es denn überhaupt möglich gewesen, den Film mit einem Racheakt am Schluß in Chile zu zeigen?
Diesen Film habe ich unter Pinochet als Oberbefehlshaber der Armee gemacht. Sich auf solche Themen einzulassen, birgt weiterhin gewisse Risiken in sich, denn einige Herrschaften fühlen sich über die Gesetze erhaben und agieren mit dem Gefühl, dies ungestraft tun zu können. Ganz persönlich bin aber auch ich mit einem solchen Ende nicht einverstanden, mit der Rache, und darum habe ich es so gemacht. Sonst hätte ich gelogen und Effekthascherei betrieben. Und darüber hinaus hätte ich mehr Probleme bekommen.
Viele halten das Vergessen für eine unabdingbare Voraussetzung der Versöhnung. Was hältst Du von dieser Vorstellung?
Das ist eine Lüge. Ich prangere ja gerade diesen Zustand des Gedächtnisschwunds an, der uns auferlegt werden soll. Daraus wird nichts Gutes kommen. Versöhnung wird es erst geben, wenn diejenigen, die Fehler begangen haben, um Verzeihung bitten. Und bestimmte Herrschaften haben nie um Verzeihung gebeten! Mit einem auferlegten Gedächtnischwund gibt es keine Versöhnung, es entsteht etwas sehr Brüchiges.
Interview: Bettina Bremme und Jens Holst