Chile | Nummer 249 - März 1995

“Bei Gedächtnisschwund gibt es keine Versöhnung”

Interview mit Gonzalo Justiniano, dem Regisseur von “Amnesia”

Interview: Bettina Bremme und Jens Holst

Lateinamerika Nachrichten: Warum hast Du in Deinem Film ‘Amnesia’ auf einen direkten Bezug zu Chile und der dortigen Militärdiktatur verzichtet?
Gonzalo Justiniano: Um das Thema des Films in aller Tiefe zu behan­deln, muß man es als etwas darstellen, was allen Menschen passieren kann, überall auf die­sem Planeten. Über die Besonderheiten der chi­lenischen Vergangenheit hinaus gibt es ein universales Phänomen, nämlich daß der Mensch von Zeit zu Zeit den Fehler begeht, sich sel­ber bzw. seinen Bruder zu zerstören. Ich bin also davon ausgegangen, daß die Thematik mehr Ge­wicht bekommt, wenn die belegten Details und eine geschichtsgetreue, realistische Behandlung des Themas in den Hinter­grund treten.
Andererseits ist “Amnesia” auch ein sehr chilenischer Film, die Landschaften, die Städtebilder, die Namen lassen un­schwer auf Chile schließen.
Natürlich geht es um ein Thema, das erkennbar im Zusammenhang mit Chile steht. Das ist ganz offensichtlich. Wenn Du aber einen Film machst, der nicht nur starke chilenische Elemente und Bezüge auf die Geschichte des Landes enthält, sondern sich eindeutig nur auf Chile be­zieht, geht dabei der Aspekt verloren, daß sol­che Dinge auch woanders geschehen. So etwas hat es in Europa ge­geben, in den Län­dern des Ostblocks. Auch in Frankreich nach dem Al­gerien-Krieg, nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, in Spanien. Ich wollte es nicht überbetonen, daß der Film in Chile spielt.
Welche Bedeutung hat für Dich die Tat­sache, daß der Film gerade jetzt zum er­sten Mal in Deutschland gezeigt wird, 50 Jahre nach dem Ende des Faschismus und der Befreiung der Nazi-Konzentrati­onslager?
Das ist sehr beeindruckend. Bevor die­ser Film gezeigt wurde, habe ich heute ei­nen Bericht über die Bombardierung von Dres­den gesehen, die man als Ra­cheakt an­sehen muß. Ich bin da sehr neu­gierig und habe versucht, etwas darüber zu lesen, wie es hier gewesen ist. Durch meinen Film habe ich gemerkt, daß nicht alles die Schuld eines Ver­rückten ist. Die gesamte Ge­sellschaft ist dafür verant­wortlich. Und dabei gibt es bestimmte Gruppen, die die falschen Führer ansta­cheln, bis diese schließlich glauben, sie hätten die un­geteilte Unterstüt­zung der Bevölkerung und könnten aufgrund dieser Macht­befugnisse über das Leben der an­deren Menschen bestimmen. Der Prozeß hier in Deutschland ist ziemlich kompli­ziert, denn es gibt eine neue Welle des Ras­sismus mit seinen traurigen Auswüch­sen in den letzten Jahren. Ich weiß nicht, inwieweit die Verantwortung hier richtig über­nom­men worden ist.
Und wie ist das mit der Verantwortung in der chilenischen Ge­schichte?
Ich habe eine totale Abneigung gegen das ganze militärische System, das ist ein großer Irrweg. Wenn der Mensch aufhört, primitiv zu sein, werden die Armeen ab­geschafft. Wenn wir die Geschichte Chiles betrachten, ist dieser faschistische Wahn­sinn, der aus einer be­stimmten Ecke des Heeres kommt, nicht allgemein gültig. Das Heer ge­hört nicht allein diesen Leu­ten, es gab dort auch andere. Dabei muß man an Carlos Prats erinnern, den ehema­li­gen Oberbefehlshaber des Heeres, der von seinen eigenen Leuten ermordet wur­de. General Schneider wurde ebenfalls er­mordet. Das waren loyale Militärs. Ein Teil der Armee hat sich jetzt die patrioti­schen Werte zu eigen ge­macht und bildet sich ein, den wahren Patriotismus zu ver­tre­ten, nur weil sie diesen Krieg des Bru­dermordes angezettelt haben. Das muß klar gesagt werden.
Der Film ‘Amnesia’ spricht von Schul­digen und von Opfern, es klingen aber auch Zwischentöne an. Welche Rolle spielt Ramírez, war er Opfer, oder war er ein Mitläufer?
Ich war sehr beeindruckt von einigen Fäl­len, wo junge Wehrpflichtige vor die Wahl gestellt wurden, zu töten oder selbst getötet zu werden. Viele wur­den des Ver­rats angeklagt oder verschwanden, weil sie sich ge­weigert hatten, andere Men­schen umzubringen. In diesem Sinne ist Ra­mírez natürlich Opfer. Ich habe mich oft gefragt, was passieren würde, wenn ich selber in einer solchen Situation wäre, schließlich gibt es bei uns Wehrpflicht. Wenn ich gezwungen wäre, einen anderen Men­schen umzubringen. Ich glaube, ich hät­te es nicht getan.
Der Soldat Ramírez spürte allerdings auch eine gewisse Bewunderung für Sergeant Zúñiga …
Natürlich, da mischen sich viele Ge­füh­le, gerade dieses Wechsel­spiel hat mich in­teressiert. Wir sprechen von sehr all­gemeinen The­men, ich wollte haupt­sächlich einen Film machen, der auf zwei Per­so­nen aufgebaut ist, die für konkrete Erfahrungen stehen. Es muß viele Zúñigas ge­ben. Er hatte keine Ahnung, was in Chi­le und in der Welt passierte. Von ei­nem Tag auf den anderen fühlte er sich als Held und hatte die Vorstellung, die Erde zu säubern. Viele Militärs haben so ge­sprochen. Aber ich glaube, auch diese Leu­te sind auf die eine oder andere Art Op­fer. Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß so jemand ruhig schlafen kann. Viele dieser Leute haben sich umgebracht oder sind verrückt geworden. Im Grunde ge­nom­men wissen sie sehr wohl, daß sie sich falsch verhalten haben.
Im Film spricht Zúñiga vom kontrol­lierten Gedächtnisschwund. Ist das ein sehr verbreitetes Phänomen in Chile?
Das ist ein ironisches Spiel, es ist wie die Ironie des Lebens. Alle wissen, daß ein bestimmter Politiker, der im Fernsehen auftritt, soundsoviele Leute auf die Straße gesetzt hat und eine sehr bedeu­tende poli­tische Stellung innehatte, während im Land gemordet wurde. Jetzt ist keine Rede mehr davon, jetzt ist er ein Demokrat! Das kann ja wohl nicht sein. Das menschliche We­sen ist in dieser Beziehung sehr merk­würdig, denn der Mensch legt bei vielen Themen einen Mantel des Vergessens über sich. Wenn wir uns andauernd selber hin­terfragen und nicht ständig betäuben oder alles verdrängen würden, wäre das Le­ben unerträglich und schrecklich. In die­sem Sinn handelt es sich in Chile um ei­nen kollektiven Prozeß, einen falschen Ge­dächtnisschwund.
Wo liegt das Problem dabei?
Dahinter stehen die Leute, die am mei­sten Interesse daran haben, einfach umzu­blättern und nie mehr zurückzuschauen. Wer in Chile durch die Straßen geht, fragt sich unwillkürlich, wieso die Menschen al­le so nett sind, wieso sie sich so freund­lich verhalten. Wie kann das möglich sein? Das war ein bißchen der Ursprung des Films, alle die Leute zu sehen, die sich herzlich begrüßen und unterhalten. Und hin­terher merkst Du, was die alles auf dem Kerbholz haben … Ich wollte diese Leute in meinem Film darstellen.
Gibt es eine Beziehung zwischen kol­lektivem Gedächtnisschwund und der Am­nestie?
‘Nicht Vergessen’ ist der Leitspruch. Amnestie vielleicht. Das ist der Leitspruch in Südafrika, wo viele für eine Amnestie sind, aber nicht für das Vergessen.
Aber diese Diskussionen gibt es in La­teinamerika auch!
Natürlich, das ist ein sehr kompliziertes Thema, besonders weil Pi­nochet nie ge­schlagen wurde. Er wurde in Wahlen be­siegt, er hat aber noch einen großen Teil der Macht. Und die Regierung hat Angst vor ihm, auch wenn sie es nicht zugibt, große Angst. Bei allem, was sie tun, blik­ken sie zur Seite, um zu sehen, ob der Herr womöglich böse wird. Es sei daran er­innert, daß es unter der Aylwin-Regie­rung zwei­mal Aufruhr gab: Einmal, weil Pi­nochet wegen Unregelmäßigkeiten beim Ausstellen von Schecks überprüft werden sollte, und beim anderen Mal ging es um Menschen­rechtsverstöße. Beide Male hat das Heer reagiert. Darum ist bei uns alles et­was merkwürdig. Es gibt Äußerungen, die einen wirklich sprachlos machen, so wie die des Senatspräsidenten in Chile: ‘Der Preis für die Demokratie ist das Ver­gessen.’ Damit bin ich nicht einverstan­den.
Funktioniert das denn überhaupt?
Angeblich will sich niemand erinnern. Es ist aber erstaunlich, daß Fernsehsen­dungen über die Zeit der Diktatur hervor­ragende Ein­schaltquoten erzielen. Das heißt, daß alle das sehen wollen. Wovor man aber Angst hat, ist eine ernsthafte und verantwortungsbe­wußte Auseinanderset­zung über die jüngere Vergangenheit und über die Frage der Verantwortung. Dann heißt es immer – ähnlich wie bei den Per­sonen im Film – das sei ein uner­freuliches Thema, es müßten positive Dinge gezeigt werden.
Hast Du den Film deswegen gerade jetzt gedreht?
Ich habe das Gefühl, in einer sehr heuchlerischen, verlogenen Ge­sellschaft zu leben. Wir sollen uns selbst betrügen. Wie gesagt, wenn man heute durch San­tiago geht, mit all den sympathischen, net­ten Leuten, kann man gar nicht glauben, daß so etwas geschehen ist. Dabei sind schlimme Dinge passiert. Ich bin der Mei­nung, wenn es keine richtige Aufarbeitung gibt und die wichtigsten Themen in Bezug auf die Vergangenheit nicht auf das Tapet gebracht werden, werden wir keine solide De­mokratie aufbauen, sondern nur eine Scheindemo­kratie, eine heuchlerische De­mo­kratie. Man muß erst richtig reinema­chen und die ganze Fäulnis besei­tigen, be­vor man ruhig in einem Haus wohnen kann.
Wie wurde der Film in Chile aufge­nom­men?
Im allgemeinen ziemlich gut, offen­sichtlich wurde jegliche Polemik darüber vermieden. Alle beglückwünschten mich ganz allgemein, aber niemand wollte über das Thema polemisieren. Das heißt, sehr wenige. Alle sprachen von der guten Mu­sik, von der hervorragenden Darstel­lung, von dem genialen Julio Jung (Darsteller des Soldaten Ramírez, Anm. der Red.). Aber das eigentliche Thema wurde nicht eingehend be­handelt, man ging eher dar­über hinweg.
Welche Rolle können die Filmemacher bei der Aufarbeitung der Vergan­genheit spielen?
Eins verstehe ich nicht: Mir wird immer gesagt, schon wieder diese Themen. Zeig’ mir einen einzigen Film, in dem es um dieses Thema geht! Alle denken, es hätte zwanzig Filme darüber gegeben. Es gibt nicht einen einzigen, nun gut, bis auf ‘Náufragos’ (‘Schiffbrüchige’) von Miguel Littin, der auch dieses Thema behandelt hat. Das verstehe ich überhaupt nicht, und oft wird mir das Gefühl vermittelt, ich müßte mich schuldig fühlen, weil ich die­ses Thema verfilmt habe. In Chile zu le­ben, ist etwas ganz Besonderes, es ist ein Land mit einem ganz besonderen politi­schen Übergang, mit dem Diktator ne­benan, der alles kontrolliert. Eigentlich sollte die Armee im Dienste des chileni­schen Volkes stehen, und nicht das Volk im Dienste der Armee. Das ist heutzutage ein bißchen durcheinander gekommen.
Soll der Film ein Beitrag zum Rückzug der Armee sein?
Eher ein Beitrag, zur eigenen Würde zurückzufinden, damit die Chi­lenInnen nicht weiter mit Füßen getreten werden. Dabei muß man al­lerdings sehr vorsichtig sein, denn natürlich will niemand den al­ten Konflikt wieder aufnehmen, der zu ei­ner Art Bürgerkrieg führen würde. Die Stoßrichtung des Films ist, die Gesell­schaft zu ‘säubern’. Es geht nicht an, daß bestimmte Leute Privilegien genießen
Noch einmal zurück zu Deinem Film: In der Schlußszene verzichten Ra­mírez und Carrasco darauf, sich an dem bru­talen Sergeanten zu rächen. Warum hast Du dieses Ende gewählt?
Es war sehr schwierig, ein Ende für diesen Film zu finden. Es han­delt sich um ein gewichtiges und ernsthaftes Thema. Es taucht die Frage auf, was Du mit diesem Menschen machen würdest. Würdest Du selbst Gerechtigkeit an ihm üben? Wür­dest Du ihn der Justiz überge­ben? Gut, ich glaube, nur ganz wenige würden ihn lau­fen lassen. Das wäre dumm. Aber auch die Rache führt zu nichts. Rache ist aber auch ein natürliches Gefühl der Leute, die darüber frustriert sind, daß sie in einem Land Leben, wo es keine Gerechtigkeit gibt. Die beste und zivilisierteste Form ist die Verfolgung all dieser Fälle durch die Justiz. Ich bin gegen die Rache. Sie zieht eine Spirale der Gewalt nach sich, von der keiner sagen kann, wohin sie uns führt.
Was wäre geschehen, wenn Du einen anderen, einen gewaltsamen Schluß ge­wählt hättest?
Ein US-amerikanischer Film hätte so aufgehört. Mit einer Detaildarstel­lung des zerfetzten Gehirns und einem Blutfleck hinter dem Baum. Viele kritisieren mich, wa­rum hast Du diesen Mörder nicht umge­bracht? Ich denke schon, daß man all den Tätern eine Lektion ertei­len muß. Al­lerdings gibt es genügend Leute, die viel zu clever sind, um mit der traumatisieren­den Erfahrung zufrieden zu sein, erneut ei­nen Menschen umzubringen.
Wäre es denn überhaupt möglich ge­wesen, den Film mit einem Racheakt am Schluß in Chile zu zeigen?
Diesen Film habe ich unter Pinochet als Oberbefehlshaber der Armee gemacht. Sich auf solche Themen einzulassen, birgt weiterhin gewisse Risiken in sich, denn einige Herrschaften fühlen sich über die Ge­setze erhaben und agieren mit dem Ge­fühl, dies ungestraft tun zu können. Ganz persönlich bin aber auch ich mit einem sol­chen Ende nicht einverstanden, mit der Rache, und darum habe ich es so gemacht. Sonst hätte ich gelogen und Effekthasche­rei betrieben. Und darüber hinaus hätte ich mehr Probleme bekommen.
Viele halten das Vergessen für eine unabdingbare Voraussetzung der Ver­söhnung. Was hältst Du von dieser Vor­stellung?
Das ist eine Lüge. Ich prangere ja ge­rade diesen Zustand des Ge­dächt­nis­schwunds an, der uns auferlegt werden soll. Daraus wird nichts Gutes kommen. Versöhnung wird es erst geben, wenn die­jenigen, die Fehler begangen ha­ben, um Verzeihung bitten. Und be­stimmte Herr­schaften haben nie um Ver­zeihung gebe­ten! Mit einem auferlegten Gedächt­nischwund gibt es keine Versöh­nung, es entsteht etwas sehr Brüchiges.
Interview: Bettina Bremme und Jens Holst

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren