Bewegen sie sich doch?
Nach Ausrufung des Ausnahmezustandes gibt es nun Verhandlungen
Die Gespräche waren durch Vermittlung der Kirche und offensichtlich auch des Oppositionspolitikers Carlos Palenque zustandegekommen. Ein Besuch Palenques in der Präsidentenvilla am Abend des 23. April, der zunächst Spekulationen über ein politisches Techtelmechtel ausgelöst hatte, scheint dazu gedient zu haben, die Herstellung von Kontakten zu abgetauchten GewerkschaftsführerInnen in die Wege zu leiten. Fünf Tage später versammelten sich die GewerkschafterInnen zu einem geheimen Spitzentreffen, auf dem von ihrer Seite aus der Weg zu der Übereinkunft freigemacht wurde.
Wochenlange Streiks, insbesondere der LehrerInnengewerkschaft, und tägliche Demonstrationen, die den Verkehr im Zentrum von La Paz lahmlegten, waren der Verhängung des Ausnahmezustandes vorausgegangen. Am Dienstag, dem 18. April, schien sich der Konflikt zwischen Regierung und Gewerkschaften endlich einer Lösung zu nähern, ein vorläufiges gemeinsames Dokument lag vor. Wenige Stunden später klebte das Land vor Fernsehern und Radios. Die Führung des Gewerkschaftsdachverbandes COB hatte das Papier abgelehnt, und Präsident Sánchez de Lozada daraufhin den Ausnahmezustand verhängt.
Aber die BewohnerInnen von La Paz nehmen die Regelungen des Ausnahmezustandes nur bedingt ernst. Allein für das erste Wochenende gingen 2.800 Anträge auf Genehmigung von privaten Festen ein. Die Behörden lehnten nur wenige ab. In La Paz ist die Atmosphäre entspannt, und Präsident Sánchez de Lozada kann mit viel Zustimmung dafür rechnen, endlich mit den permanenten Demonstrationen und Blockaden aufgeräumt zu haben. Die Einschränkungen des Nachtlebens sind eine unbequeme Begleiterscheinung, nicht mehr, und viele Vorschriften wurden schon nach wenigen Tagen wieder aufgehoben. In Santa Cruz de la Sierra, der zweitgrößten Stadt des Landes, gilt nicht einmal mehr das Nachtfahrverbot, der Ausnahmezustand wurde “flexibilisiert”, so die offizielle Sprachregelung.
In Puerto Rico im extremen Norden Boliviens, in Colcha K in der eisigen Kälte des südlichen Atliplano, und in anderen entlegenen Militärbasen sind die rund 300 GewerkschftsführerInnen interniert, die laut der jüngsten Vereinbarung Anfang Mai freigelassen werden sollen. In La Paz saß Kokabauern-Chef Evo Morales mit mehreren Funktionären der Cocalero-Gewerkschaft eine Woche in Untersuchungshaft, wesentlich länger als die 48 Stunden, die von der Verfassung erlaubt werden. Inzwischen ist auch er in die Provinz verbannt worden. JournalistInnen berichten einiges über polizeiliche Übergriffe auf sie.
Zweifellos hat es die Regierung bei der Durchsetzung des Ausnahmezustandes nicht besonders genau genommen mit der Verfassung, auf die sie sich beruft. Schon der Einsatz am Abend des 18. April, bei dem die gesamte Führung der COB verhaftet wurde, war offensichtlich illegal, der Ausnahmezustand war noch gar nicht ausgerufen. Die Kritik von den großen Oppositionsparteien, von Intellektuellen und JournalistInnen richtet sich vor allem gegen diesen Rückfall in Methoden des Umgangs mit Opposition, die mit dem von der Regierung propagierten “neuen Bolivien” nichts zu tun haben. Aber von massiver Begeisterung für die Gewerkschaftspositionen ist nichts zu spüren. Eher herrscht tiefe Enttäuschung darüber vor, daß alle Beteiligten offenbar nicht dazu fähig waren, zu konstruktiven Verhandlungen zu finden und damit die Grenzen der bolivianischen Demokratie aufgezeigt haben.
Die “drei verdammten
Gesetze”
Die Regierung war in den Wochen zuvor gleich an mehreren Konfliktfronten in Atem gehalten worden. Am aktivsten waren in der Hauptstadt die LehrInnengewerkschaft und in ihrem Schlepptau die COB. Sie alle haben den “drei verdammten Gesetzen” den Kampf angesagt, den drei großen Reformvorhaben der Regierung Sánchez de Lozada. Dabei handelt es sich um die “Kapitalisierung”, die bolivianische Version der Privatisierung von Staatsbetrieben, um die ley de participación popular, das Gesetz, mit dem Dezentralisierung und demokratische Teilhabe von unten möglich gemacht werden sollen, und schließlich um die Reform des Bildungswesens.
Für die LehrerInnengewerkschaft bildet, wie nicht anders zu erwarten, die Bildungsrefrom die Zielscheibe. Die Reform, so die Kritik der trotzkistischen Gewerkschaftsführung, werde zu Massenentlassungen von LehrerInnen und zur Abschaffung der Kostenfreiheit und damit zu einer “Elitisierung” der Bildung führen. Auch seien in dem Gesetz keine klaren Konzepte wie Antiimperialismus und Antifeudalismus enthalten, und es stelle ein Angriff auf das Gewerkschaftswesen überhaupt dar. Die participación popular sorge darüberhinaus mit der Gründung von lokalen “Schulkomitees” mit Beteiligung der Eltern dafür, die Autorität der LehrerInnen in ihrer Schule zu untergraben.
Tatsächlich garantiert das Gesetz zur Bildungsreform die kostenlose Bildung auf Grundschulniveau, nicht aber ausdrücklich für weiterführende Schulen. Als Bildungsziele stehen statt Antiimperialismus und Antifeudalismus so verwerfliche Begriffe wie “demokratisch, national, interkulturell und zweisprachig” im Gesetz. Gerade der interkulturelle Ansatz des Gesetzes, eines der Hauptanliegen des Aymara und Vizepräsidenten Víctor Hugo Cárdenas, gehört zu den Punkten, die in Bolivien auf breite Zustimmung stoßen. Die Notwendigkeit einer Reform des Bildungswesens ist in der Öffentlichkeit unumstritten. Zu offensichtlich ist die katastrophale Qualität der staatlichen Schulbildung, der Hauptgrund dafür, daß fast nur Kinder aus Familien, die private Schulen bezahlen können, später für höhere Positionen in Frage kommen. Zwar haben viele volles Verständnis für die Forderung der LehrerInnen nach höheren Löhnen, aber der radikale ideologische Diskurs der Gewerkschaftsspitze findet kein Echo. “Was bringen diese Lehrer bloß den Kindern bei”, so ein oft gehörter Satz.
Ein Kampf um Macht
Präsident Sánchez de Lozada hat nicht ganz unrecht, wenn er behauptet, daß es in diesem Konflikt vor allem um die Macht der Gewerkschaften geht. Die Bildungsreform sieht vor, daß auch UniversitätsabsolventInnen anderer Fächer nach einer entsprechenden Prüfung unterrichten dürfen. Ebenso sollen Beförderungen und Besetzungen von Führungsposten nach fachlichen Kriterien und nicht nach Dienstalter und bisherigem Rang besetzt werden. Die LehrerInnen sollen auch nach Beginn ihrer Berufslaufbahn immer wieder Qualitätsnachweise erbringen. Zu diesen Regelungen, die die Macht der Gewerkschaft erheblich einschränken, kommt ein weiteres pikantes Detail: LehrerInnen sollen nicht mehr automatisch Gewerkschaftsmitglied sein, und die Gewerkschaft soll in Zukunft selbst ihre Mitgliedsbeiträge einziehen. Bisher behielt der Staat die Beiträge von den Löhnen ein, nach Angabe der Tageszeitung La Razón rund 700.000 US-Dollar im Jahr.
Sowohl für die LehrerInnengewerkschaft als auch für die ganze COB geht es um die Verteidigung von Besitzständen, die zum Teil real gar nicht mehr vorhanden sind. Noch vor zehn Jahren war die COB mehr als ein Gewerkschaftsdachverband, sie war die Gegenmacht zum Staat. Sie, und vor allem die Gewerkschaft der Minenarbeiter, war ihrem Selbstverständnis nach die Avantgarde des Volkes gegen die repressive Staatsmacht. Tatsächlich waren es vor allem die Gewerkschaften, die Widerstand gegen die Diktaturen leisteten. Aber auch unter demokratisch gewählten Regierungen rückte die COB nicht von diesem Anspruch ab. Hernán Siles Zuazo, der von 1982 bis 1985 erste demokratisch gewählte Präsident nach der García-Meza-Diktatur, kann ein Lied davon singen, weil die COB für die völlige Lähmung seiner Regierung sorgte. Die Schließung der meisten staatlichen Minen ab 1985 raubte der COB den bestorganisierten Teil ihrer Basis und damit die Grundlage ihrer Macht. Heute vertritt sie nur einen Teil der bolivianischen Gesellschaft, ihre Mitglieder eben, aber nicht wenige Funktionäre nehmen rhetorisch weiterhin “das bolivianische Volk” für ihre Positionen in Anpruch. Die Gewerkschaftsführungen kämpfen “im Namen des Volkes” gegen Reformen, über deren Vor- und Nachteile zwar heftig diskutiert wird, die aber doch prinzipiell weitgehend akzeptiert werden, und sie tut das mit einem radikalen Diskurs, der sogar für die eigene Basis nicht mehr glaubwürdig ist. “Die Lehrergewerkschaft hat doch keine Basis, es sind die Führungsgrüppchen, die die radikale Linie einschlagen”, so eine Lehrerin in La Paz. “Ich habe versucht, über andere Formen zur Vertretung unserer Forderungen zu reden, aber du hast keine Chance. Die Führung gibt die Parolen vor, und die Dummen plappern sie nach.”
Für die Kokabauern ist es nichts Neues, im Chapare, der Hauptkokaanbauprovinz im Departement Cochabamba, mit Polizei und Militär zu tun zu haben. Für sie geht es weniger um die großen Reformen der Regierung als konkret um ihre Kokafelder. Die Regierung Sánchez de Lozada hat in den knapp zwei Jahren ihrer Amtszeit einen Schlingerkurs verfolgt. Immer wieder gab es Verhandlungen über die Reduzierung der Kokaanbaufläche, dann wieder Militäreinsätze im Chapare. Eine kohärente Kokapolitik ist nicht in Sicht.
Kokapolitik in Bolivien wird wesentlich von der US-Botschaft mitgestaltet. Das Credo der US-Position: Kokasträucher müssen vernichtet werden, damit der Kokainproduktion der Rohstoff fehlt. Seit kurzem ist der US-Druck auf Bolivien erheblich angestiegen. Unzufrieden mit den schleppenden “Fortschritten” stellten die USA ein Ultimatum: Bis Ende Juni müssen 1.700 Hektar Kokafelder ausgerissen sein, sonst wird die US-Hilfe für die Zahlungsbilanz eingestellt – für die Stabilitätspolitik der bolivianischen Regierung ein Horrorszenario. Aber die Kokafelder sind nicht ohne weiteres zu vernichten. Die cocaleros verfügen im Moment über die wohl schlagkräftigste Gewerkschaft und wehren sich gegen jede Einschränkung ihrer Produktion.
Zunächst sollte ein schon öfter angewandtes Mittel helfen: Kokabauern wurden 2.500 US-Dollar pro Hektar ausgerissener Kokapflanzungen angeboten. Medienwirksam reiste Innenminister Sánchez Berzaín in den letzten Wochen mehrmals mit einem Koffer voller Dollars in den Chapare und ließ sich bei der Übergabe fotografieren. Auch jetzt beteuert die Regierung, daß Bauern nicht zur Aufgabe ihrer Pflanzungen gezwungen würden, und daß das Angebot der 2.500 Dollar weiter bestünde. Ob die Sondereinheiten des Militärs im Chapare der “Freiwilligkeit” bei Bedarf nachhelfen, sei dahingestellt. Aber es ist durchaus wahrscheinlich, daß sich genügend Kokabauern finden, die zu diesem Schritt bereit sind. Zwar verlieren sie eine lukrative Einnahmequelle, aber für viele Campesinos ist die permanente Unsicherheit des Kokaanbaus inzwischen so zur Belastung geworden, daß sie an den Umstieg auf andere Produkte denken. Außerdem bleibt der Weg, eine Kokapflanzung auszureißen und weiter im Wald wieder eines anzulegen, eine in den vergangenen Jahren übliche Praxis.
Der Ausnahmezustand verhilft der Regierung zum nötigen Freiraum zur Durchsetzung dieses Programmes. Die Gewerkschaft der cocaleros hatte mit dem Ultimatum der USA ein Druckmittel von unschätzbarem Wert in der Hand. Jede Verzögerung des Vernichtungsprogrammes von Kokafeldern mußte die Regierung in schwere Probleme stürzen. Kenner der Situation im Chapare weisen darauf hin, daß auch die Gewerkschaft gegenüber den Bauern starken Druck ausübt. Auch ihr gegenüber scheint die Entscheidungsfreiheit der Campesinos sehr relativ zu sein. Es ist wohl kein Zufall, daß die Regierung den Ausnahmezustand gerade zu diesem Zeitpunkt verhängte und damit die Gewerkschaft lahmlegte. Die Verfassung erlaubt den Ausnahmezustand für maximal 90 Tage im Jahr, also bis Mitte Juli, kurz nach Ablauf des Ultimatums.
Auch die Regierung weiß, daß ihr der Ausnahmezustand nur eine Atempause verschafft hat, die Probleme aber dadurch nicht gelöst sind. Zwar bleiben die organisierten Proteste im Land bislang punktuell. Aber früher oder später muß sie zu einer Einigung mit Gewerkschaften und Kokabauern kommen, wenn sie ihren Anspruch der Demokratisierung Boliviens nicht völlig ad absurdum führen will. Präsident Sánchez de Lozada genießt nicht zuletzt deswegen immer noch relativ großes Vertrauen in der Öffentlichkeit, weil man ihm das ernsthafte Interesse an Demokratisierung glaubt, auch wenn seine großen Reformvorhaben mit einer Vielzahl von Problemen belastet sind.
“Dialog” war nach der Verhängung des Ausnahmezustandes eines der meistbenutzten Worte – von VertreterInnen der Oppositionsparteien über Kircheleute bis hin zu einigen PolitikerInnen der Regierungsparteien. Zweifellos will auch der größte Teil der Bevölkerung, enttäuscht vom Rückfall der Regierung in undemokratische Methoden, und ebenso von der Verbohrtheit wichtiger Teile der Gewerkschaftsführung, nichts anderes.
Die erste Vorausssetzung für einen Dialog, die Freilassung aller Verhafteten, sagte die Regierung am 29. April zu. Über eine mögliche Übereinkunft zwischen der Regierung und der Gewerkschaft der Kokabauern war allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nichts bekannt.
Auch der Ausnahmezustand soll einstweilen noch weiter gelten. Regierungssprecher Ernesto Machicao sprach allerdings davon, die Maßnahme könne aufgehoben werden, sobald Garantien für den sozialen Frieden vorlägen. Dafür wäre allerdings notwendig, daß Regierung und Gewerkschafter nicht beim ersten Schritt stehenbleiben, sondern die politische Kultur des “Alles oder Nichts”, des “gegenseitigen Niederkämpfens und Vernichtens”, wie es der Politologe Carlos Toranzo nennt, durch Kompromißfähigkeit ersetzen.