Bewegte Territorien
Raúl Zibechis neues Buch handelt vom emanzipatorischen Potential der städtischen Peripherien
Seit einem guten Jahrzehnt wählt Lateinamerika überwiegend links. Die Länder, in denen noch immer offen neoliberale Regierungen an der Macht sind, lassen sich mittlerweile an einer Hand abzählen. Den Wahlsiegen linker Politiker_innen vorausgegangen waren häufig massive Mobilisierungen sozialer Bewegungen, die in vielen Fällen bis heute die neuen Regierungen stützen und gegen Versuche eines rechten Rollbacks verteidigen. Gemeinsam ist vielen dieser Mobilisierungen, dass sie ohne straffe Organisierung stattfanden. Zeigt sich in Lateinamerika also ein aus emanzipatorischer Sicht zu begrüßendes Modell für das Zusammenspiel von Regierungen und Bewegungen? Mitnichten, argumentiert der uruguayische Bewegungsintellektuelle Raúl Zibechi in seinem bereits 2008 veröffentlichten und nun auf Deutsch erschienenen Buch Territorien des Widerstands. Nicht kurzfristige politische Erfolge, sondern die langfristige politische Dynamik in den Peripherien der lateinamerikanischen Metropolen ist das, was ihn interessiert. Territoriale soziale Beziehungen, die vor allem aus ländlichen Räumen bekannt sind, seien mittlerweile auch in den Armenvierteln der Städte zu beobachten. Auf diese Territorien bezogen, in denen die maßgeblichen Aufstände der letzten Jahre ihren Ausgangspunkt hatten, verwirft der Autor die aus dem europäischen und nordamerikanischen Kontext stammende Analysekategorie „soziale Bewegung“. Stattdessen schlägt er den Begriff „Gesellschaften in Bewegung“ vor. Diese verortet er in den autonomen und selbstverwalteten Räumen inmitten der hegemonialen Gesellschaftsform.
In diesen Territorien sieht Zibechi Widerstand gegen das bestehende System, aber auch konkrete Ansätze für nicht-kapitalistische Lebensformen, in denen sich Gebrauchswerte gegen Tauschwerte durchsetzen. Die verbreitete Meinung, die linken Regierungen hätten Räume der Partizipation für Bewegungen geöffnet, hält der Autor für zu kurz greifend. Vielmehr seien die Bewegungen heute schwächer und fragmentierter als je zuvor. Sozialprogramme und die Einbeziehung von Aktivist_innen in Regierungsarbeit führten zu einer Schwächung, Spaltung und Einhegung des Widerstands.
Im Gegensatz zu den Strategien rechter Regierungen sei dafür keine Repression nötig. Die staatliche Durchdringung der Armenviertel und die „Kunst, die Bewegungen zu regieren“ stelle jedoch einen ebenso „tiefgreifenden Angriff auf erkämpfte autonome Räume“ dar. Die „Hoffnung auf einen radikalen antikapitalistischen Wandel“ gehe somit nicht von Regierungen, sondern von diesen Territorien aus, in denen vielfältige soziale Beziehungen existierten, die als „Grundlage für eine Rekonstruktion der Gesellschaft“ dienen könnten.
Zibechi zeichnet in seinem Buch kein umfassendes Bild des Kontinents. Die Analyse ist, wie er selbst schreibt, vorläufig und wirkt dementsprechend teilweise fragmentarisch. Die konkreten Beispiele beziehen sich meist auf die Andenländer, den Cono Sur und die Zapatist_innen im mexikanischen Chiapas. Das Verhältnis zwischen Regierungen und Bewegungen scheint tatsächlich durchaus differenzierter zu sein. Aber Zibechi bietet theoretische und praktische Ansatzpunkte, um sich der emanzipatorischen Dimension der Armenviertel ein Stück weit anzunähern. Anstatt umfassende Antworten zu geben, wirft er selbst viele Fragen auf. Und zwar konsequent jenseits der Regierungen formuliert.
Raúl Zibechi // Territorien des Widerstands. Eine politische Kartografie der urbanen Peripherien Lateinamerikas // Assoziation A // Berlin/Hamburg 2011 // 176 Seiten // 16,90 Euro