Argentinien | Nummer 531/532 - September/Oktober 2018

BILDUNGSPOLITIK MIT NEBENWIRKUNGEN

Neue Reformen und Budgetkürzungen der Macri-Regierung gefährden das nationale Bildungssystem

Hunderttausende Dozent*innen und Studierende aus ganz Argentinien folgten am 30. August in Buenos Aires dem Aufruf ihrer Gewerkschaften zu einer Massendemonstration für einen Inflationsausgleich der Lehrkräftegehälter und ein angemessenes Budget ihrer Universitäten. Der „nationale Universitäts-Protestmarsch“ war der bisherige Höhepunkt der Proteste gegen die Bildungspolitik von Präsident Mauricio Macri, in der sich Zukunftsvisionen für Bildung mit wirtschaftlichen Interessen mischen.

Von Ina Friebe

„Hier gibt niemand auf!“ Kunsthochschule Belgrano kämpft gegen Schließung (Foto: Joaquín Berardino)

Seit Anfang August geht nichts mehr an den 57 argentinischen Universitäten: Aus Empörung über die desaströse Situation der staatlichen Hochschulen streiken die Lehrkräfte. Sie beklagen, dass die finanziellen Mittel nicht einmal für elementare Materialien und die grundlegende Deckung der universitären Ausgaben reichen. Seit der Amtsübernahme Macris im Dezember 2015 ist der Anteil der Investitionen im Bildungssystem an den städtischen Ausgaben auf rund 18 Prozent gesunken – nun ist er so niedrig wie nie. Hinzu kommen die gescheiterten Tarifverhandlungen um die Lehrgehälter. Während die Gewerkschaften eine Lohnerhöhung um mindestens 30 Prozent als Inflationsausgleich forderten, war die Regierung am Jahresanfang nur zu einem Zugeständnis von 15 Prozent bereit, das Mitte August auf circa zehn Prozent zurückgestuft wurde – bei einer Inflationsrate von fast 30 Prozent. Bereits 20 nationale Universitäten haben den Notstand verhängt, weil die Unileitungen befürchten, die Löhne nur noch wenige Monate lang auszahlen zu können.

„Wir wissen, dass das aktuelle politische System auf Lügen basiert!“

Als wäre die Situation nicht schon dramatisch genug, sorgen die zwei jüngsten Bildungsreformen der neoliberalen Regierung für weitere Aufregung. Die „weiterführende Schule der Zukunft“ (secundaria del futuro) und die Dozent*innenuni „UniCABA“ sind zwei Projekte, die die Qualität des argentinischen Bildungssystems durch ein „zukunftsweisendes Programm“ verbessern sollen. Bei Lehrkräften, Schüler*innen und Studierenden treffen die Pläne jedoch auf großen Widerstand. Bereits im letzten Herbst kam es zur Besetzung von 29 Schulen durch Schüler*innen, die die Reformprojekte als wenig zukunftsweisend empfinden. Kritikpunkte sind unbezahlte Assistenzen in Firmen, zusammengestauchte Unterrichtsinhalte und eine drastische Verkürzung der Präsenzzeit von Lehrer*innen, die zu 70 Prozent nur noch als Begleitung eines technologiebasierten Lernens auftreten sollen. Dennoch startete ein entsprechendes Pilotprojekt mit 17 Schulen der Hauptstadt ins Schuljahr 2018.

Gleichzeitig erzürnt das UniCABA-Projekt die derzeit streikenden Hochschullehrkräfte, die den freien Zugang, die Unabhängigkeit und die Qualität der Ausbildung in Gefahr sehen. Die neue Dozent*innenuni soll als alleinige Einrichtung die 29 Institute der Hauptstadt ersetzen, die für die Ausbildung von Lehrkräften zuständig sind. Eine knappe Ankündigung in Form eines PDF-Dokumentes stammt aus dem November 2017. Obwohl konkretere Informationen fehlen, soll die UniCABA bereits Anfang 2019 ihren Betrieb aufnehmen. Die entsprechende parlamentarische Abstimmung findet angeblich schon in den nächsten Wochen statt. Die Professor*innen der betroffenen Institute beschweren sich über einen Mangel an Information und Kommunikation: Es sei unklar, wer genau das Projekt UniCABA erarbeitet habe und welches pädagogische Konzept dem Ganzen zugrunde liege. Es habe weder ein Dialog mit Vertreter*innen der Gewerkschaften noch eine angemessene Debatte stattgefunden. Die betroffenen Studierenden und Professor*innen erschreckt diese autoritäre Durchsetzung des Projektes. „Wir fühlen uns sehr desinformiert“, empört sich Camila Ramirez, Studentin der Kunsthochschule Manuel Belgrano. „Es ist unmöglich, dass für ein Projekt von solchem Ausmaß die Meinung derer, die für die Ausbildung zuständig sind, außer Acht gelassen wird.“

Zudem mag nach den wiederholten Entlassungswellen der vergangenen Jahre im öffentlichen Dienst niemand daran glauben, dass alle Arbeitsplätze nach dem Ersatz von 29 Intituten mit einer Uni erhalten bleiben („29 x 1“). „Angeblich wird keine Professur gestrichen“, erklärt Joaquín Berardino, Mitstudent von Ramirez. „Aber wir wissen, dass das aktuelle politische System auf Lügen basiert!“ Dozent*innen und Studierende sorgen sich darüber hinaus um die Unabhängigkeit und Qualität der Ausbildung. Die Leitung der zukünftigen Dozent*innenuni soll ein*e von der Regierung beauftragte*r Rektor*in sowie eine Kommission aus parlamentarischen Vertreter*innen übernehmen – eine Absage an die Autonomie und die demokratische Organisation, die die Hochschulen bisher auszeichnet. „Die Qualität der Ausbildung wird stark darunter leiden, dass die unterschiedlichsten Disziplinen in einem Gebäude unterrichtet werden und den Schülern nicht mehr die Aufmerksamkeit und Förderung zukommen kann wie vorher“, ergänzt Berardino. Sollte die Regierung als Beschwichtigung eine Koexistenz der bisherigen Hochschulen mit der UniCABA vorschlagen, befürchten die Studierenden eine Abwertung ihrer akademischen Titel und eine extreme Kürzung finanzieller Mittel, die ihre Schulen unweigerlich zum Auslaufmodell machen würden.

Reformen sind ein Angriff auf die öffentliche Bildung

Warum diese weitreichenden Reformen? Die Regierung beklagt einen Lehrer*innenmangel und eine Absolvent*innenrate an den Unis, die mit etwa 30 Prozent zu den niedrigsten weltweit gehört. Dass sich am argentinischen Bildungssystem einiges verbessern ließe, möchte wohl niemand bestreiten. Doch gerade im UniCABA-Projekt sind die neoliberalen Interessen der Politiker*innen klar zu erkennen. Einerseits waren an den Arbeitsausschüssen Unternehmer*innen statt Dozent*innen beteiligt, andererseits erinnert der Diskurs der Regierung in vielerlei Hinsicht an ein Dokument der Weltbank, das Vorschläge zur angeblichen Verbesserung der lateinamerikanischen Bildungssysteme beinhaltet. Das frei verfügbare PDF „Excellent Teachers“ stellt die Lehrer*innen als den Schwachpunkt der schlechten lateinamerikanischen Bildungssysteme und die Autonomie der ausbildenden Hochschulen als Hindernis für die Qualität der Ausbildung dar. Auch das technologiebasierte Lernen findet sich im Weltbank-Leitfaden wieder, in dessen Argumentation das Bildungssystem als Dienstleister der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit erscheint. Und die versucht die Regierung verzweifelt zu steigern, gilt es doch, die Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) einzuhalten: Im Gegenzug für den versprochenen Kredit über 50 Milliarden Dollar müssen die Staatsausgaben gekürzt und das Haushaltsdefizit abgebaut werden.

Bei vielen Argentinier*innen ruft das negative Erinnerungen an die Wirtschaftskrise der Jahrtausendwende hervor, im Zuge derer das Land von IWF-Krediten abhängig war. Außerdem lässt sich vermuten, dass die Regierung von Macri nicht ohne erste Resultate auf dem G20-Gipfel Ende November in Buenos Aires dastehen möchte, auf dem auch über das Thema Bildung gesprochen wird.

„Ich weiß nicht, was die wirklichen Beweggründe des UniCABA-Gesetzes sind, aber wahrscheinlich geht es wieder nur um ökonomische Interessen“, meint auch Ramirez, die die Entwicklung des argentinischen Bildungssystems an ihr Heimatland Chile erinnert. Dort wird ein Großteil der Hochschulbildung von privaten oder ausländischen Geldgebern finanziert und viele Jugendliche müssen sich für ein Studium hoch verschulden, während in Argentinien auch Hochschulen keine Gebühren erheben. „In Chile ist die Bildungspolitik ein Geschäft. In Argentinien besteht die Gefahr, dass es zu einer ähnlichen Situation kommt, wenn die Möglichkeit einer kostenlosen, qualitativ hochwertigen Hochschulbildung verschwindet, die vielen benachteiligten Jugendlichen Zukunftsperspektiven und Arbeitschancen vermittelt.“

Um gegen den Tausch von „29 x 1“ und die prekäre Situation der Hochschulbildung zu protestieren, wird es voraussichtlich weitere Protest­märsche geben. Zusätzlich organisieren viele der betroffenen Institute Aktionstage, an denen sie mit Vorträgen, Konzerten und Straßenkunst auf ihre Situation aufmerksam machen. Als letztes Mittel sehen viele Studierende, wie schon die Schüler*innen der weiterführenden Schulen, nur die Besetzung ihrer Institute. Sie werten die Reformen als Angriff auf die öffentliche Bildung, die der Privatisierung und Kommerzialisierung die Türen öffne. Trotz des entschlossenen Widerstands erscheint eine Abkehr von den Reformprojekten unwahrscheinlich. Leider hat die Regierung Macri schon an anderer Stelle bewiesen, wie leicht sie sich über gegenteilige Interessen hinwegzusetzen weiß.

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