Mexiko | Nummer 274 - April 1997

Bis auf die Socken ausgezogen

Mexikanischer Privatschuldner machen auf ihre verzweifelte Lage aufmerksam

Mehr als acht Millionen Mexikaner können ihre Darlehen seit der dramatischen Pe­so-Entwertung vom Dezember 1994 nicht mehr zurückzahlen. Verschuldete Land­wirte und Kleinunternehmer haben sich mittlerweile in der Selbsthilfeorgani­sation “El Barzón” zusammengetan, um den absurden Zinsforderungen der Banken ent­ge­gen­zutreten. Jorge Humberto Miranda, ihr stellvertretender Vorsitzender für den Be­zirk Mexiko-Stadt, und drei weitere Aktive von “El Barzón” wurden im Ja­nuar fest­ge­nommen, als sie die Zwangs-Verpfändung eines Gebäudes verhindern wollten. In ei­nem Gespräch, das am 9. Februar 1997 im Hochsicherheitstrakt des Ge­fängnisses “Reclusorio Sur” in Mexiko-Stadt stattfand, erklärt Miranda die Hinter­gründe der Pri­vatschuldner-Bewegung.

Cletus Gregor Barié

Wieviel schulden Sie Ihren Gläubigern?

Mehr als drei Millionen Pe­sos, also rund 390.000 US-Dollar.

Wie kam es dazu?

Mein Vater und ich besaßen bis vor kurzem einen Lebens­mit­telgroßhandel auf dem Cen­tral de Abastos, dem zentralen Markt von Mexico-Stadt, und außerdem Län­dereien in diversen Bun­des­staaten. 1988 nahmen wir einen Kre­dit in Höhe von 200.000 Pe­sos auf, damals etwa 80.000 US-Dol­lar. Wir wollten das Geld primär in den Guave-An­bau stecken. Aber das Wetter machte uns ei­nen Strich durch die Rechnung: Über­schwem­mungen und Hagel ließen von der Ernte nichts übrig. Un­sere Lagerhallen blie­ben leer.

Sie haben einen Kredit über 200.000 Pesos aufgenommen, müs­sen aber 3.000.000 zurück­zahlen. Die Banken fordern von Ih­nen jetzt also mehr als den zehn­fachen Ausgangsbetrag?

Ja, das sind unglaubliche Zins­sätze. Monatlich haben wir neue Schuldscheine zur Tilgung un­terschreiben müssen. Inzwi­schen wurde unser Grundbesitz ver­kauft, außerdem mehrere La­ger, sechs Autos und zwei LKWs. Die Anwälte der Banken wol­len keine Kompromisse; sie setzen auf Drohbriefe und Tele­fon­terror: “Wir ziehen dich bis auf die Socken aus!”, ist der üb­liche Spruch. In­zwischen haben die Gläubiger sogar unser Ge­schäft auf dem Zentralmarkt ver­scher­belt und sind dabei, meine El­tern auf die Straße zu setzen.

Aber diese Praktiken sind doch eigentlich un­gesetzlich …

Deshalb haben sich die ver­schul­deten Land- und Forstwirte schon 1992 zusammengetan. Damals wurde uns langsam klar, daß die Ban­ken systema­tisch Darlehen zu illegalen Konditionen ver­mit­telt haben. So entstand die Selbst­hilfeorganisation “El Bar­zón”. Später schlossen sich uns an­dere Berufs­gruppen, wie Klein­unternehmer und Händler, an.

Einige Ihrer Mitglieder waren früher sogar ein­mal Groß­grund­besitzer …

Die meisten von uns kommen aus der ehemali­gen Mittel­schicht, die den Wohlstand der sieb­ziger Jahre selbstherrlich ge­nos­sen hat. Über die Pro­bleme der mexikanischen Minderhei­ten, wie der indianischen Völker, ha­ben wir uns damals nie Ge­dan­ken gemacht. Viele Großbau­ern ha­ben ihre Ländereien inzwi­schen verloren, oder lassen sie brach­liegen, weil sie ihren Ge­richtsverfahren hin­terherrennen müs­sen. Zum Problem des Sub­sistenz-Anbaus der Indígenas ist jetzt also noch der Niedergang der industriellen Landwirt­schafts­betriebe hinzugekommen.

Wieviele Mitglieder hat “El Barón” mittler­weile?

Mehr als eine Million. Insge­samt gibt es rund acht Millionen Me­xikaner, denen die Kredite über den Kopf gewachsen sind. Je­der Schuldner muß im Durch­schnitt vier weitere Familienmit­glie­der durchfüttern. Das bedeu­tet, daß ein Drit­tel der Bevölke­rung von dieser Problematik be­troffen ist. Nach offiziellen An­gaben geht es um einen Gesamt­be­trag von 240 Milliarden Pesos, etwa 30 Milliarden US-Dollar. Nur der zehnte Teil davon wurde aber wirklich einmal verliehen.

Die Schuldenkrise der Land­wirtschaft begann schon in den späten achtziger Jahren unter dem “Mo­derni­sierungs­pro­gramm” des damaligen Prä­si­den­ten Carlos Salinas. Hat das Frei­han­dels­ab­kom­men mit den USA und Kanada 1994 die Si­tu­ation wei­ter verschärft?

Ganz sicher! Die gnadenlose Ein­fuhr von Bil­lig-Getreide, Fleisch und Früchten hat der hie­sigen Landwirtschaft enorm ge­scha­det. Auch der In­dustrie­sek­tor kann mit den nordameri­ka­ni­schen Produkten nicht mithalten. Die Regierung ver­suchte mitt­ler­weile zwischen “El Barzón” und den Gläubigern zu vermit­teln…. Der Schulden­kri­se ist aber nicht mehr mit staatlichen Kredit-Um­struk­tu­rierungspro­grammen bei­zu­kommen. Die Produk­tion muß drin­gend reakti­viert werden, un­sere Wirt­schaft neuen Schwung be­kommen. Wir brauchen mehr Bil­dungs- und Sozialausga­ben.

Wer soll das bezahlen?

Die Regierung des Präsiden­ten Ernesto Zedillo hat 25 Milli­arden US-Dollar aus diversen inter­na­tionalen Fonds erhalten, als die Entwertungs­krise im Dezem­ber 1994 akut war. Der Betrag wur­de aber ausschließlich den “armen”, kri­sen­ge­schüt­telten Ban­ken zugeführt. Weder der In­dus­trie- noch der Landwirt­schafts­sektor haben da­von etwas ge­sehen. Wirtschaftsminister Guil­ler­mo Ortíz hätte es damals nicht deutlicher sa­gen können: “Un­sere Priorität ist der Finanz­sek­tor.”

Im Kabinett von Zedillo sitzen Gra­duierte aus hoch­karätigen amer­ikanischen Universitäten. Wa­rum fällt denen seit Jahren nichts neues zum The­ma Armut ein?

Es liegt wirklich nicht am man­gelnden know how. Diese Leu­te stehen hundertprozentig hin­ter einem Wirtschaftsmodell, das sich dem “Federal Reserve Sys­tem”, der Weltbank und dem In­ternationalen Währungsfonds ver­pflichtet hat.

Aber selbst Michel Camdes­sus, der Direktor des Fonds, war befremdet darüber, wie pas­siv die Me­xi­kaner das vorge­schrie­bene Anpassungspro­gramm 1995 hingenommen ha­ben.

Das stimmt schon: Wir Mexi­ka­ner lassen manchmal zu lange auf uns einhauen. “El Bar­zón” ist in dieser Hinsicht ein Hoff­nungs­schimmer des Wider­stands.

Apropos Prügel: Wie wurdest Du bei der Fest­nah­me am 15. Ja­nuar behandelt?

Die Fahrt im Aufzug bis zum zehn­ten Stock des Polizeipräsi­diums werde ich nie vergessen: Schlä­ge und Tritte regneten ge­ra­de­zu auf mich ein. Ab­gesehen von diesem Zwischenfall, wurde ich kor­rekt behandelt.

Was wird Dir vorgeworfen?

Freiheitsberaubung, Mi­glied­schaft in einer ille­galen Ver­ei­ni­gung und Widerstand ge­gen die Staats­gewalt – damit könnte ich läs­sig zwischen 15 und 40 Jahre sitzen. Nur: Diese An­kla­ge­punk­te lassen sich leicht widerlegen. Film­material ei­nes anwesenden Re­por­ters beweist, daß wir zwar ge­gen die Über­gabe eines ver­pfän­deten Gebäu­des Widerstand ge­leistet haben, aber dadurch nie­mand in seinem Freiheitsrecht ein­geschränkt wurde. Daß “El Bar­zón” eine subversive Orga­ni­sation sein soll, kann nur ein Scherz sein: als eingetragene Ver­einigung wurden wir von of­fizieller Seite mehrfach em­pfan­gen. Und das De­likt des Wi­der­stands gegen die Staatsgewalt durch Hausbe­setzung steht in kei­nem Verhält­nis zur brutalen Fest­nahme mit einer Son­der­ein­heit und Haft im Hoch­si­cher­heits­trakt.

Letztes Jahr hast Du Dich auf dem Zócalo, dem zentralen Platz Mexiko-Stadts, öffentlich kreu­zigen lassen; kurz vor Dei­ner Festnahme standst Du noch nackt vor den Kameras. Ist die Öf­fentlichkeit ohne Skandal gar nicht mehr aufzu­rütteln?

Tja, das sind neue Ausdrucks­for­men der Unzu­friedenheit. In Mex­iko gehören zum Repertoire ei­nes guten Demonstranten in­zwischen, sich die Lippen zu­sam­men zu nähen, öffentlicher Ader­laß, FKK und natürlich Hun­gerstreiks. Diese spektakulä­ren Aktionen beinhalten anderer­seits ganz bescheidene Forde­run­gen. Oft geht es nur um ir­gend­welche Verordnungen, die nicht ein­gehalten werden.

Die Zapatistas haben im Ja­nuar 1994 zu den Waffen ge­grif­fen und sich dabei auf die Ver­fassung berufen. Wenn die Ge­setze nicht respek­tiert wer­den, hilft dann nur noch Ge­walt?

Wir haben wirklich zu lange ta­tenlos zugese­hen, wie unsere Magna Charta systematisch un­ter­graben wird. Gegen diese Ver­kehrung des Rechts­staates, die Ba­kschisch-Kultur müssen wir mit le­galen Mitteln angehen. Wenn die Reprä­sentanten des Rechts­staates die eigenen Grund­sätze mißach­ten, so ist al­lerdings auch ziviler Wi­derstand durch­aus berechtigt. Die aus der Re­vo­lu­tion von 1917 entstandene Ver­fassung gesteht der Bevölke­rung dieses Recht übrigens aus­drücklich zu.

Ist es in Mexiko inzwischen riskanter gewor­den, seine Mei­nung zu äußern?

Das politische Klima ist rau­her geworden. Im kommenden Som­mer werden sich die Chilan­gos, so nennt man hier die Ein­woh­ner von Mexiko-Stadt, erst­mals direkt für einen der Kandi­da­ten für das Bürgermeisteramt ent­scheiden können. Früher hätte die Regierung so kurz vor einer his­torischen Wahl eher Kom­pro­mißbereitschaft ge­zeigt. In­zwi­schen setzt sie auf Repres­sion.


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