Bis auf die Socken ausgezogen
Mexikanischer Privatschuldner machen auf ihre verzweifelte Lage aufmerksam
Wieviel schulden Sie Ihren Gläubigern?
Mehr als drei Millionen Pesos, also rund 390.000 US-Dollar.
Wie kam es dazu?
Mein Vater und ich besaßen bis vor kurzem einen Lebensmittelgroßhandel auf dem Central de Abastos, dem zentralen Markt von Mexico-Stadt, und außerdem Ländereien in diversen Bundesstaaten. 1988 nahmen wir einen Kredit in Höhe von 200.000 Pesos auf, damals etwa 80.000 US-Dollar. Wir wollten das Geld primär in den Guave-Anbau stecken. Aber das Wetter machte uns einen Strich durch die Rechnung: Überschwemmungen und Hagel ließen von der Ernte nichts übrig. Unsere Lagerhallen blieben leer.
Sie haben einen Kredit über 200.000 Pesos aufgenommen, müssen aber 3.000.000 zurückzahlen. Die Banken fordern von Ihnen jetzt also mehr als den zehnfachen Ausgangsbetrag?
Ja, das sind unglaubliche Zinssätze. Monatlich haben wir neue Schuldscheine zur Tilgung unterschreiben müssen. Inzwischen wurde unser Grundbesitz verkauft, außerdem mehrere Lager, sechs Autos und zwei LKWs. Die Anwälte der Banken wollen keine Kompromisse; sie setzen auf Drohbriefe und Telefonterror: “Wir ziehen dich bis auf die Socken aus!”, ist der übliche Spruch. Inzwischen haben die Gläubiger sogar unser Geschäft auf dem Zentralmarkt verscherbelt und sind dabei, meine Eltern auf die Straße zu setzen.
Aber diese Praktiken sind doch eigentlich ungesetzlich …
Deshalb haben sich die verschuldeten Land- und Forstwirte schon 1992 zusammengetan. Damals wurde uns langsam klar, daß die Banken systematisch Darlehen zu illegalen Konditionen vermittelt haben. So entstand die Selbsthilfeorganisation “El Barzón”. Später schlossen sich uns andere Berufsgruppen, wie Kleinunternehmer und Händler, an.
Einige Ihrer Mitglieder waren früher sogar einmal Großgrundbesitzer …
Die meisten von uns kommen aus der ehemaligen Mittelschicht, die den Wohlstand der siebziger Jahre selbstherrlich genossen hat. Über die Probleme der mexikanischen Minderheiten, wie der indianischen Völker, haben wir uns damals nie Gedanken gemacht. Viele Großbauern haben ihre Ländereien inzwischen verloren, oder lassen sie brachliegen, weil sie ihren Gerichtsverfahren hinterherrennen müssen. Zum Problem des Subsistenz-Anbaus der Indígenas ist jetzt also noch der Niedergang der industriellen Landwirtschaftsbetriebe hinzugekommen.
Wieviele Mitglieder hat “El Barón” mittlerweile?
Mehr als eine Million. Insgesamt gibt es rund acht Millionen Mexikaner, denen die Kredite über den Kopf gewachsen sind. Jeder Schuldner muß im Durchschnitt vier weitere Familienmitglieder durchfüttern. Das bedeutet, daß ein Drittel der Bevölkerung von dieser Problematik betroffen ist. Nach offiziellen Angaben geht es um einen Gesamtbetrag von 240 Milliarden Pesos, etwa 30 Milliarden US-Dollar. Nur der zehnte Teil davon wurde aber wirklich einmal verliehen.
Die Schuldenkrise der Landwirtschaft begann schon in den späten achtziger Jahren unter dem “Modernisierungsprogramm” des damaligen Präsidenten Carlos Salinas. Hat das Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada 1994 die Situation weiter verschärft?
Ganz sicher! Die gnadenlose Einfuhr von Billig-Getreide, Fleisch und Früchten hat der hiesigen Landwirtschaft enorm geschadet. Auch der Industriesektor kann mit den nordamerikanischen Produkten nicht mithalten. Die Regierung versuchte mittlerweile zwischen “El Barzón” und den Gläubigern zu vermitteln…. Der Schuldenkrise ist aber nicht mehr mit staatlichen Kredit-Umstrukturierungsprogrammen beizukommen. Die Produktion muß dringend reaktiviert werden, unsere Wirtschaft neuen Schwung bekommen. Wir brauchen mehr Bildungs- und Sozialausgaben.
Wer soll das bezahlen?
Die Regierung des Präsidenten Ernesto Zedillo hat 25 Milliarden US-Dollar aus diversen internationalen Fonds erhalten, als die Entwertungskrise im Dezember 1994 akut war. Der Betrag wurde aber ausschließlich den “armen”, krisengeschüttelten Banken zugeführt. Weder der Industrie- noch der Landwirtschaftssektor haben davon etwas gesehen. Wirtschaftsminister Guillermo Ortíz hätte es damals nicht deutlicher sagen können: “Unsere Priorität ist der Finanzsektor.”
Im Kabinett von Zedillo sitzen Graduierte aus hochkarätigen amerikanischen Universitäten. Warum fällt denen seit Jahren nichts neues zum Thema Armut ein?
Es liegt wirklich nicht am mangelnden know how. Diese Leute stehen hundertprozentig hinter einem Wirtschaftsmodell, das sich dem “Federal Reserve System”, der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds verpflichtet hat.
Aber selbst Michel Camdessus, der Direktor des Fonds, war befremdet darüber, wie passiv die Mexikaner das vorgeschriebene Anpassungsprogramm 1995 hingenommen haben.
Das stimmt schon: Wir Mexikaner lassen manchmal zu lange auf uns einhauen. “El Barzón” ist in dieser Hinsicht ein Hoffnungsschimmer des Widerstands.
Apropos Prügel: Wie wurdest Du bei der Festnahme am 15. Januar behandelt?
Die Fahrt im Aufzug bis zum zehnten Stock des Polizeipräsidiums werde ich nie vergessen: Schläge und Tritte regneten geradezu auf mich ein. Abgesehen von diesem Zwischenfall, wurde ich korrekt behandelt.
Was wird Dir vorgeworfen?
Freiheitsberaubung, Migliedschaft in einer illegalen Vereinigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt – damit könnte ich lässig zwischen 15 und 40 Jahre sitzen. Nur: Diese Anklagepunkte lassen sich leicht widerlegen. Filmmaterial eines anwesenden Reporters beweist, daß wir zwar gegen die Übergabe eines verpfändeten Gebäudes Widerstand geleistet haben, aber dadurch niemand in seinem Freiheitsrecht eingeschränkt wurde. Daß “El Barzón” eine subversive Organisation sein soll, kann nur ein Scherz sein: als eingetragene Vereinigung wurden wir von offizieller Seite mehrfach empfangen. Und das Delikt des Widerstands gegen die Staatsgewalt durch Hausbesetzung steht in keinem Verhältnis zur brutalen Festnahme mit einer Sondereinheit und Haft im Hochsicherheitstrakt.
Letztes Jahr hast Du Dich auf dem Zócalo, dem zentralen Platz Mexiko-Stadts, öffentlich kreuzigen lassen; kurz vor Deiner Festnahme standst Du noch nackt vor den Kameras. Ist die Öffentlichkeit ohne Skandal gar nicht mehr aufzurütteln?
Tja, das sind neue Ausdrucksformen der Unzufriedenheit. In Mexiko gehören zum Repertoire eines guten Demonstranten inzwischen, sich die Lippen zusammen zu nähen, öffentlicher Aderlaß, FKK und natürlich Hungerstreiks. Diese spektakulären Aktionen beinhalten andererseits ganz bescheidene Forderungen. Oft geht es nur um irgendwelche Verordnungen, die nicht eingehalten werden.
Die Zapatistas haben im Januar 1994 zu den Waffen gegriffen und sich dabei auf die Verfassung berufen. Wenn die Gesetze nicht respektiert werden, hilft dann nur noch Gewalt?
Wir haben wirklich zu lange tatenlos zugesehen, wie unsere Magna Charta systematisch untergraben wird. Gegen diese Verkehrung des Rechtsstaates, die Bakschisch-Kultur müssen wir mit legalen Mitteln angehen. Wenn die Repräsentanten des Rechtsstaates die eigenen Grundsätze mißachten, so ist allerdings auch ziviler Widerstand durchaus berechtigt. Die aus der Revolution von 1917 entstandene Verfassung gesteht der Bevölkerung dieses Recht übrigens ausdrücklich zu.
Ist es in Mexiko inzwischen riskanter geworden, seine Meinung zu äußern?
Das politische Klima ist rauher geworden. Im kommenden Sommer werden sich die Chilangos, so nennt man hier die Einwohner von Mexiko-Stadt, erstmals direkt für einen der Kandidaten für das Bürgermeisteramt entscheiden können. Früher hätte die Regierung so kurz vor einer historischen Wahl eher Kompromißbereitschaft gezeigt. Inzwischen setzt sie auf Repression.