Argentinien | Chile | Dossier 21 - Das Gleiche in Grün

Bis in den letzten Winkel

Im äußersten Süden Lateinamerikas geht die Jagd nach fossilen und erneuerbaren Energien Hand in Hand

Weltweit scheint es Konsens, dass es eine Energiewende braucht, um die Folgen der Klimakatastrophe einzudämmen. Gleichzeitig bleibt die globale Nachfrage nach Kohle, Öl und Gas hoch. Das nutzen Energieunternehmen, aller nachhaltigen Rhetorik zum Trotz, um die Vorkommen fossiler Energieträger in den entlegensten Regionen der Welt zu fördern. Auch bis in den äußersten Süden Chiles und Argentiniens und womöglich der Antarktis.

Von Malte Seiwerth & Kiva Drexel
Aktivismus im äußersten Süden Die Gemeinschaft der Küstengemeinden Feuerlands, Antarktis und Inseln des Südpazifik (Foto: Comunidad Costera)

„Uns eint die Gewissheit, dass es andere Formen gibt, auf diesem Land zu leben“, sagt Carla Wichmann von der Gemeinschaft der Küstengemeinden Feuerlands, Antarktis und Inseln des Südatlantiks. Seit knapp zwei Jahren engagiert sich die Aktivistin gegen extraktive Unternehmen in Feuerland, der südlichsten Provinz Argentiniens. Hier peitscht der Wind ununterbrochen über das steppenartige Land, in dem bis vor wenigen Jahrzehnten kaum Menschen lebten. Südlich von Feuerland liegt nur noch die Antarktis, auf die Argentinien ebenso wie Chile und Großbritannien seit der Staatsgründung Besitzansprüche anmeldet.

Mit dem Klimawandel rückt der bisher wenig beachtete äußerste Süden des amerikanischen Kontinents in den Fokus internationaler Energie­unternehmen. Während die Regierungen gerne über Projekte für erneuerbare Energien berichten, schielen die Öl- und Gasunternehmen dort auf neue Abbaustätten für fossile Energieträger. Das stellt nicht nur nationale Klimaziele in Frage, sondern birgt auch die Gefahr, alte Territorialkonflikte wiederzubeleben.

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde im argentinischen und chilenischen Feuerland nach Öl- und Gasvorkommen gesucht. Doch die geringe Ausbeute, der weite Transportweg in die Städte und die harschen Wetterbedingungen machten den Abbau unattraktiv.

Das hat sich geändert: Mittlerweile sind Steuereinnahmen aus dem Abbau fossiler Energieträger die Haupteinnahmequelle für die argentinische Provinz Feuerland, wie die ständige Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) im Jahr 2022 berichtete. Durch den Öl- und Gasboom, den Tourismus und Maßnahmen des argentinischen Zentralstaats zur Förderung seiner entlegensten Provinzen ist Ushuaia, die Hauptstadt der Provinz Feuerland, stark gewachsen: von nur 10.000 Einwohner*innen im Jahr 1980 auf knapp 80.000 in 2022.

Ebenfalls 2022 wurden unter der Regierung Alberto Fernández seismische Explorationen vor den Küsten Feuerlands genehmigt. Umweltorganisationen im ganzen Land kritisierten die Erlaubnis. „Die Organisation gegen die Gasför­derung wurde auch durch das Bevölkerungs­wachstums im Feuerland begünstigt“, erklärt die Aktivistin Wichmann. „Lange Zeit gab es wenig Bewusstsein darüber, was draußen auf dem Meer geschah. Bis heute gibt es die absurde Situation, dass nicht einmal die Regierung über geeignete Hubschrauber verfügt, um die Gasplattformen zu erreichen. Sie müssen auf die der Unternehmen zurückgreifen“, erklärt sie. Es ist diese Schwäche des argentinischen Staates, die es unmöglich macht, das Handeln der internationalen Energieunternehmen zu kontrollieren.

Heute kontrolliert ein Konsortium aus dem französischen Unternehmen TotalEnergies, der deutschen Wintershall und der argentinischen Pan American die gesamte Gasförderung vor Feuerland. Erst im September 2024 eröffnete das Konsortium das größte Offshore-Erdgasfeld Argen­tiniens, das laut Angaben von Wintershall mindestens 15 Jahre lang ausgebeutet werden soll. Die Suche nach neuen Fördergebieten beschränkt sich nicht auf Lateinamerika. Im Schatten der Energiewendestimmung in den Hauptstädten bauen Energiemultis die Förderung fossiler On- und Offshore-Anlagen aus, besonders in Ländern des Globalen Südens. Expert*innen sprechen seit dem Ausbleiben russischer Gaslieferungen von einem regelrechten Boom.

Dieser Trend läuft konträr zum Diskurs der Energiewende und Klimaschutzversprechen. Bereits 2021 stellte die Internationale Energieagentur in ihrem Bericht „Net Zero by 2050“ fest, dass ab 2021 keine neuen Öl- oder Gasfelder mehr zugelassen werden dürften, um das 1,5 Grad Ziel einzuhalten.

„Die argentinische Regierung ist bezüglich Klimaschutz nur bei Worten geblieben“, sagt Wichmann. „Das hatte keine Auswirkungen auf die Genehmigungen zur Erkundung und Ausbeutung von fossilen Energieträgern.“ Auch wenn bereits unter den Vorgängerregierungen Konsens zur Ausbeutung der Gasvorkommen bestand, habe sich die Situation unter dem ultralibertären Präsidenten Javier Milei noch verschlimmert: „Früher gab es zumindest Absichtsbekundungen, die extraktivistischen Tätigkeiten von Unternehmen zu beschränken“, berichtet Wichmann. „Heute wird mit dem neuen Anreizsystem für Großinvestitionen (RIGI, siehe Seite 38) der Weg für Unternehmen vollkommen frei gemacht.“ Um wieder flüssig zu werden, setzt die Regierung allerdings nicht nur auf die argentinischen Gasreserven.

Ausbau der Gasförderung im Schatten der Energiewende

„Wir stehen heute vor dem Paradox, dass die Regierung neue Gasbohrungen genehmigt und gleichzeitig zum Zentrum der grünen Wasserstoffproduktion werden will“, sagt Wichmann. Eine Trendwende hin zu einer Energiewende ist das nicht. „Ich erkläre mir das so: Extraktive Interessen finden immer neue Formen der Legitimation, um Kontrolle über Gebiete zu erlangen. Heute ist die Förderung der Erneuerbaren eine neue Vertiefung des extraktiven Modells und somit des Wachstums der Unternehmen.“

Die Vorgänge in Patagonien verdeutlichen, wie die Öl- und Gaskonzerne diese Gleichzeitigkeit für sich nutzen, denn längst sind sie auf den Zug der Energiewende aufgesprungen. Schon in den 90er Jahren nahmen ihre Führungsköpfe Abstand vom Herunterspielen der Klimakrise und einer PR-Strategie, die jahrzehntelang Zweifel an der Klimaforschung säte. Heute sprechen CEOs von Shell und Co. von der Notwendigkeit der Energiewende und investieren geringe Summen in Pilotprojekte.

Während in Argentinien die Wasserstoffprojekte noch ferne Zukunftsmusik sind, ist das benachbarte chilenische Feuerland bereits zum Zentrum sogenannter grüner Investitionen geworden. TotalEnergies kaufte im vergangenen Jahr den Erneuerbaren-Stromerzeuger Total Eren für 1,5 Milliarden Euro und übernahm damit auch dessen Wasserstoffprojekt H2-Magallanes im Süden Chiles, das 2027 den Betrieb aufnehmen soll. Einige hundert Kilometer weiter westlich hat sich der Ölkonzern ExxonMobil in das vom Bundeswirtschaftsministerium unterstützte Leuchtturm-Projekt Haru Oni eingekauft. Dort produziert ein Konsortium mit Beteiligung von Porsche und Siemens in einer Testanlage sogenanntes E-Fuel, dessen Ausbau vor kurzem angekündigt wurde.

Mit deutschen Geldern finanzierte E-Fuel-Anlage in Chile Präsident Boric zu Besuch bei Haru Oni in Punta Arenas (Foto: Prensa Presidencia)

Chiles linksreformistische Regierung von Präsident Gabriel Boric führt dabei die Wasserstoffpolitik von dessen rechtem Vorgänger Sebastián Piñera fort. Bereits 2021 hatte das Energieministerium in einer Studie berechnet, allein aus der Provinz Magallanes 13 Prozent des weltweiten grünen Wasserstoffbedarfs decken zu können. Die Umsetzung der bereits angekündigten Projekte würde in Magallanes zu einer Landnahme von knapp 13.000 Quadratkilometern führen, kritisieren zivilgesellschaftliche Organisationen in einem offenen Brief an Boric. Dies entspricht in etwa der fünffachen Fläche des Saarlands. Im Brief forderten die Organisationen Boric auf, nicht „dieselben Fehler zu machen, die die Ungleichheit vertiefen, und neue Gebiete für die Industrie zu opfern“.

Laut der Regierung soll Chile in wenigen Jahren zum weltweit größten Produzenten von grünem Wasserstoff aufsteigen – durch Energie aus der Sonne im Norden des Landes und den starken Winden in Magallanes. Ankündigungen wie diese und Erleichterungen ausländischer Investitionen, die im nationalen Aktionsplan für grünen Wasserstoff angelegt sind, sollen Investitionen in den Aufbau der chilenischen Wasserstoffindustrie anheizen. Diese sind bisher eher verhalten gewesen.

Die Geschäftszahlen von TotalEnergies legen nahe, dass das fossile Zeitalter längst nicht vorbei ist. Laut einer Studie von Urgewald hat das Unternehmen 2023 2,5-mal mehr Geld in Öl und Gas als in Stromproduktion und -speicherung investiert. Die Umweltorganisation sieht das Unternehmen klar auf Expansionskurs in der Öl- und Gasförderung. Dabei sollen geringe Summen in erneuerbare Energien, aber auch in die umstrittene Carbon-Capture-and-Storage-Technologie (Abscheidung und Abspeicherung von CO2 im Untergrund, Anm. d. Red.) an Anteilseigner ausstrahlen, dass die Unternehmensleitung die Zeichen der Zeit verstanden hat. Jene werden in der gesamten Öl- und Gasindustrie seit Jahren mit hohen Gewinnausschüttungen bei der Stange gehalten.

Die Spannungen zwischen Argentinien und Chile nehmen zu

Das neue Investitionsinteresse in Chiles und Argentiniens Süden wird von diplomatischen Spannungen zwischen den beiden Ländern begleitet. Seit der Staatsgründung beider Länder Anfang des 19. Jahrhunderts streiten sie sich um die genaue Grenzführung im äußersten Süden. Nachdem in den 1980er Jahren noch der Papst die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch rufen musste, schien es in den vergangenen Jahren so, als hätten sich die Streitigkeiten gelegt. Doch Mileis Amtsübernahme hat das Szenario verändert.

Heute geht es bei Bekundungen der Vormachtstellungen längst nicht mehr nur um das lateinamerikanische Festland. Im April weckte ein Manöver der argentinischen Marine im früher umkämpften Beagle-Kanal in Chile Erinnerungen an die argentinischen Eroberungspläne in den 80er Jahren. Die chilenische Regierung dagegen übt sich darin, ihre Position auf der Antarktis auf diplomatischem Weg zu stärken. So reiste im November 2023 der UN-Generalsekretär António Guterres mit Gabriel Boric auf die Antarktis und bekräftigte die Stellung Chiles in der Region.

Aus der Antarktis rief Guterres die Welt dazu auf, mehr gegen die Klimakrise und den Ausstoß von CO2 zu übernehmen. Das schmelzende Eis führe zu einer enormen Umweltkatastrophe auf dem Kontinent, so die Pressemitteilung des UN-Generalsekretärs. Bereits seit 2021 zeigt sich die Klimaforschung besorgt, da die Eisschmelze weltweit den Worst-Case-Szenarien des Weltklimarats entspreche. Allein in der Antarktis könnten bis Ende des Jahrhunderts 17.000 Quadrat­kilometer eisfrei sein.

Die Frage ist, ob mit dem Eis auch der diplomatische Konsens schmilzt, der den Kontinent bisher als Naturschutzgebiet gesichert hat. Grundlage dafür ist der Antarktisvertrag von 1959, in dem sich ursprünglich zwölf Staaten darauf geeinigt hatten, ihre Gebietsansprüche auf die Region einzufrieren und den Kontinent zu einem Ort der wissenschaftlichen Kooperation zu machen.

Expert*innen warnen seit einigen Jahren davor, dass die sich verschlechternden Beziehungen zwischen Russland und dem Westen langfristig auch Auswirkungen auf die Antarktis haben könnten. Im April dieses Jahres schien die Nachricht um den Fund von Erdöl durch die russische Forschungsmission diese Sorge zu bestätigen. Sollte die Angabe des Forschungsteams der Wahrheit entsprechen, befände sich unter der Antarktis die größte Erdöllagerstätte der Welt. Diese dürfe jedoch laut dem Umweltprotokoll, das die Erkundung und Ausbeutung der Bodenschätze der Antarktis verbietet, nicht angetastet werden. Laut dem Protokoll kann das Verbot ab 2048 theoretisch von jedem Vertragsstaat zur Neuverhandlung auf den Tisch gebracht werden. Doch die Hürden für die Aufhebung sind hoch; erforderlich wäre eine quasi-konsensuale Entscheidung zur Änderung sowie die Einführung eines neuen Rechtsinstruments.
„Ich persönlich denke, es ist wichtig, die Antarktis im Blick zu behalten“, sagt Wichmann. „Nicht nur in Hinblick auf den Massentourismus und die Überfischung, sondern gerade auch die militärischen Operationen.“

Fakt ist: Im Zuge des Klimawandels blicken immer mehr Akteure auf den Süden. Ob die Energiewende dafür sorgt, dass antarktisches Eis erhalten bleibt oder dazu beiträgt, dass extraktive Unternehmen bis in die letzten Winkel der Erde vordringen, ist offen.


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