Mexiko | Nummer 283 - Januar 1998

Bis zum letzten Baum…

Das Ende des lacandonischen Regenwaldes in Marques de Comillas?

Mit knapp 2000 Quadratkilometern umfaßt Marques de Comillas ein Zehntel des ehemaligen Waldbestandes der Selva Lacandona im Südosten des mexikanischen Bundesstaates Chiapas, eine Fläche so groß wie der Thüringer Wald. Während der vergangenen zwanzig Jahre ist über ein Drittel des Regenwaldes in der Region zerstört worden. Klimaschwankungen, Bodenerosion, häufige Mißernten und Schädlingsinvasionen sind Folgen der Abholzung, unter denen in erster Linie die lokale Bevölkerung leidet. Eine Verlangsamung des derzeitigen Verwüstungsprozesses ist mittelfristig jedoch nicht zu erwarten.

Katrin Neubauer

Der Regenwald hat inzwischen eine auf über 40.000 Menschen angewachsene Bevölkerung zu ernähren, deren produktive Grundlagen der extensive Maisanbau und Rinderzucht sind. Jedes Jahr im Frühjahr “raucht” die zwischen den Flüssen Rio Chixoy und Rio Lacantun gelegene Selva von den zahlreichen Brandrodungen, die sich immer tiefer in bisher unberührten und intakten Urwald fressen.
“Die ersten von uns kamen 1976 aus Oaxaca hier an”, berichtete ein älterer Bauer aus Reforma Agraria, eines der am besten organisierten Dörfer. “Wir siedelten zuerst weiter unten am Fluß, doch das Hochwasser vernichtete unsere Ernte und zerstörte unsere Hütten. Daraufhin gab uns die Regierung 2.000 Hektar hier oben und 1979 gründeten wir Reforma Agraria. Am Anfang hatten wir nichts: kein Werkzeug, keinen Zucker, keine Schuhe. Es war eine sehr schwere Zeit. Zweimal im Jahr kam ein Boot aus Guatemala den Fluß herauf und wir tauschten unseren Mais gegen diese Sachen ein. Der Fluß war damals unsere einzige Verbindung nach außen.” Damals, das war in den 70er und frühen 80er Jahren, als weniger als 10.000 Menschen in dieser Region lebten. In jener Zeit förderte die mexikanische Regierung noch massiv die Einwanderung in das als Kolonisierungsgebiet und “Auffangbecken” für landsuchende Bauern konzipierte Marques de Comillas. Wenige Jahre später veranlaßte die Eskalation des Bürgerkrieges in Guatemala die Regierung unter Miguel de la Madrid (1982-88), die Region schneller zu besiedeln und neue Genossenschaften (Ejidos) zu gründen, um nationale Sicherheitsinteressen im erdölreichen Niemandsland zu schützen.
Die einst unbesiedelte “grüne Hölle” verkörpert aufgrund der multikulturellen und multiethnischen Vielfalt der ImmigrantInnen ein Mexiko im Kleinformat. Etwa 70 Prozent der heutigen Siedler stammen aus Bundesstaaten außerhalb von Chiapas, mehrheitlich aus Veracruz, Tabasco, Oaxaca und Guerrero. Dem Kolonisierungseifer der mexikanischen Regierung und der chiapanekischen Landesregierung folgten jedoch bald vorwurfsvolle Stimmen, adressiert an die lokale Bevölkerung. Es hieß, die Campesinos zerstörten den Regenwald durch unachtsame Brandrodungen und ökologisch unverträgliche Anbautechniken. Darüber hinaus begannen Biologen und Umweltschützer über die Unbelehrbarkeit der Campesinos zu klagen, die trotz massiver Ökopropaganda mit den jährlichen Brandrodungen scheinbar unbeeindruckt fortfuhren. Schätzungen des Landesministeriums für Umwelt, Naturressourcen und Fischerei (SEMARNAP) gehen davon aus, daß bis 1996 insgesamt 70.000 Hektar Regenwald gerodet wurden. Davon dienten 36.700 Hektar dem Anbau von Grundnahrungsmitteln (Mais, Bohnen, Reis) und knapp 30.000 Hektar werden als Weideland genutzt. Seit Anfang der 80er Jahre verdrängen Weiden allmählich Ackerland, ein Prozeß, der sich seit 1994 aufgrund günstiger Kredite für Rinderzüchter beschleunigt hat. Zwischen 1986 und 1995 ging die Anbaufläche für Mais von 36.400 Hektar auf 24.100 Hektar zurück, obwohl sich die Bevölkerung während dieses Zeitraums vervierfachte. Hingegen stieg die Anzahl der Rinder von rund 4.550 (1987) auf über 17.000 (1996) an. Rinderzucht ist überwiegend auf die Märkte von Palenque und Mexiko-Stadt ausgerichtet. Für viele Familien jedoch bleibt Rindfleisch trotz der steigenden Produktion ein Luxusartikel, den sie sich nur zu besonderen Anlässen leisten.
Rinderzucht ist die wichtigste legale Einkommensquelle in der Region. Für ein junges Rind erhalten die Kleinbauern durchschnittlich umgerechnet 400 Mark von Zwischenhändlern. Ein Kilogramm Mais können sie für höchstens 40 Pfennig verkaufen und müssen außerdem den beschwerlichen Transport über Flüsse und unbefestigte Straßen selbst arrangieren. Oft genug deckt der spärliche Gewinn aus dem Maisverkauf kaum die Transportkosten.

Illegal, aber lohnend: Mahagonihandel

Eine weitere wichtige, jedoch illegale Einkommensquelle ist der Edelholzhandel, dessen Anteil am Verschwinden des Regenwaldes zwar beträchtlich, jedoch aufgrund fehlender Daten kaum zu ermessen ist. 1989 erließ der damalige Gouverneur von Chiapas Patrocinio González Garrido ein allseitiges Verbot für das Fällen und die Vermarktung von Edelhölzern aus dem Lacandonischen Urwald. Zwei Jahre zuvor hatte die Landesregierung jedoch erst begonnen, den Ejidos Lizenzen für den Edelholzverkauf auszustellen. Nach dem Verbot setzten viele Campesinos in Marques de Comillas den Edelholzhandel illegal fort, da große Mengen Mahagoni bereits gefällt waren. Nach Angaben der Siedler wurden zwischen 1989 und 1993 Tausende von Mahagoni-Bäumen zu Billigpreisen (rund 2,- DM pro Kubikmeter Mahagonibohle) nach Guatemala verkauft. 1994 lockerte SEMARNAP unter anderem als Antwort auf den Zapatistenaufstand in den benachbarten Cañadas das Verbot und erlaubte die Vermarktung von rund 23.000 Kubikmetern gefällten Mahagoni-Holzes. Nach Angaben von SEMARNAP verkauften Campesinos in Marques de Comillas von August bis Dezember 1994 mindestens 17.000 lebende Mahagoni-Bäume zu Billigpreisen nach Palenque. Das entsprach mehr als dem Fünffachen der mit dem Umweltsekretariat vereinbarten Menge. Trotz des skandalös geringen Aufkaufpreises für Mahagoni sehen viele Bauern die Vermarktung ihrer Edelholzressourcen als einzige Alternative zur Brandrodung, die wenigstens ein stabiles Einkommen verspricht.

Was tun?

Stellt sich die Frage: ist der Regenwald in Marques de Comillas überhaupt zu retten und wenn ja, wie? Die Region leidet unter einer chronischen wirtschaftlichen und sozialen Vernachlässigung sowohl von seiten der Regierung als auch von seiten privater Investoren und NGO’s. Hunger gehört in vielen Familien zum Alltag, ebenso wie die Unterernährung ihrer Kinder. Wer soll sich da um den Schutz des Regenwaldes kümmern? Politiker, Agrarexperten, Umweltorganisationen und die lokale Bevölkerung sind sich weitgehend darüber im Klaren, daß die fortschreitende Rodung des Regenwaldes nur durch alternative Einkommensquellen und Anbaumethoden aufzuhalten ist. Über beide besteht jedoch alles andere als ein Konsens. Seit Anfang der 80er Jahre hat das Landwirtschaftsministerium SAGAR verschiedene Projekte initiiert, die Anbau und Vermarktung von Kakao, Chili, Kautschuk und Vanille fördern sollten. Aus unterschiedlichen Gründen, wie schlechte Beratung, Korruption, fehlende oder zu spät eintreffende Kredite, sind diese Programme früher oder später gescheitert. 1995 rief SEMARNAP einen Pilotplan für eine selektive und ökologisch verträgliche Kommerzialisierung von Edelhölzern ins Leben. Der Plan sollte ein alternatives Einkommen schaffen und gleichzeitig den illegalen Edelholzraubbau beenden. Alle 38 Ejidos in der Region unterzeichneten den Pilotplan, jedoch haben bis heute nur acht eine Verkaufslizenz erhalten. Die Umweltorganisation Conservacion Internacional versucht seit 1995 mit einem Schmetterlingsprojekt die Bauernfamilien über den ökonomischen und ökologischen Nutzen des Regenwaldes aufzuklären. Die Organisation kauft von der lokalen Bevölkerung Schmetterlinge zu relativ hohen Preisen (für die seltensten Exemplare werden bis zu 200 DM gezahlt) und verlangt im Gegenzug den Schutz von 70 bis 100 Hektar großen Waldgebieten. Viele Familien begrüßen diesen Extraverdienst. “Trotzdem werden wir Campesinos bleiben,” sagte einer der Bauern. “Die Schmetterlingsjagd ist eher was für Frauen und Kinder.” In einigen Ejidos begannen Campesinos auf eigene Initiative, Naturschutzprojekte zu entwerfen. So gelang etwa einer Gruppe im Ejido Reforma Agraria, mit Hilfe eines Regierungskredits von 18.000 DM eine Infrastruktur für ein Ökotourismusprojekt zu schaffen. Seit 1996 reserviert das Ejido rund 1.000 Hektar Regenwald für ausschließlich forstwirtschaftliche und touristische Zwecke. Eine ähnliche Idee verfolgten Campesinos des dicht bevölkerten und stark von Brandrodungen betroffenen Ejidos Nuevo Orizaba. Ihre Anfrage nach Förderung eines Ökotourismusparks und eines Aufforstungsprojekts wurde jedoch vorerst von der Landesregierung abgelehnt. “Mit dieser Absage ist für die Leute das Projekt gestorben,” erklärte Don Constantin, der Organisator der Initiative. “Die werden weiterroden, bis nichts mehr da ist.”

“Wovon soll man sonst auch leben?”

In Boca de Chajul organisierten sich einige Campesinos, um eine Reisschälmaschine zu kaufen und ökologisch angebauten Reis zu vermarkten. Bisher fehlt es jedoch an Abnehmern des Produktes und der Verkauf innerhalb der Region wird kaum die Kosten der Investition decken.
Die Reihe von Problemen und Mißerfolgen auf der Suche nach Alternativen ließe sich beliebig fortsetzen. Während die Regierung und dieUmweltorganisationen die Kleinbauern als Hauptakteure der Zerstörung des Regenwaldes beschuldigen, verteidigen sich diese, indem sie die Regierung und Umweltschützer für ihre soziale und wirtschaftliche Misere und fehlende Einkommensquellen verantwortlich machen. “Ich brauche ein Pferd, einen Pflug…Düngemittel. Die Regierung unterstützt uns nicht im Umweltschutz. Sie will den Wald retten, aber tut nichts dafür. Wenn die Regierung nicht bald was unternimmt, wird eines Tages alles in die Luft gehen. Ich schütze 10 Hektar Wald in meiner Parzelle, denn ich brauche das Holz. Man sollte doch besser das Land nutzen, das bereits kultiviert ist, anstatt neuen Wald zu roden,” meinte ein 80-ähriger Campesino aus Nuevo Orizaba, der erst vor wenigen Jahren sein zweites Werkzeug für die Feldarbeit erhielt: eine Hacke. Auch Bauern aus El Piru sehen die Ursache der Regenwaldzerstörung in der fehlenden Intensivierung und Modernisierung ihrer Anbautechniken. “Wir wollen mechanisieren, brauchen Technik. Es ist wichtig, den Regenwald zu bewahren, aber wir müssen davon leben können. Auch wir haben Bedürfnisse.”
Ein anderer meinte: “Mit Maschinen könnte ich die Stämme und Wurzeln aus meinem Maisfeld ziehen und die Pflanzen enger setzen. Dadurch hätte ich höhere Erträge und müßte nicht so viel Wald abbrennen.” Viele Campesinos sind entgegen der Behauptungen von Umwelt- und Agrarbehörden bereit, in Projekten mitzuarbeiten, die beides, Umweltschutz und produktive Entwicklung, fördern. Solang jedoch Regierung und Umweltorganisationen den Erhalt des Regenwaldes von der produktiven und sozialen Modernisierung der lokalen Gemeinden abkoppeln, werden Brandrodung und Edelholzschmuggel aus Mangel an Alternativen fortgesetzt – bis zum letzten Baum.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren