Argentinien | Nummer 381 - März 2006

Blumen auf Staatskosten reichen nicht aus

Interview mit der argentinischen Menschenrechtsanwältin Laura Figueroa aus Tucumán

In Buenos Aires sorgen die Madres de Plaza de Mayo dafür, dass der Staatsstreich nicht in
Vergessenheit gerät. Doch der große Rest Argentiniens scheint abseits des öffentlichen Interesses zu liegen. Laura Figueroa arbeitet seit 22 Jahren als Menschenrechtsanwältin in der Provinz Tucumán im Norden Argentiniens. Während der Diktatur verlor die inzwischen 55-Jährige ihre Arbeit und durfte nicht zu Ende studieren. Schon kurz nach dem Abdanken der Militärjunta begann Figueroa mit dem Kampf gegen die Straflosigkeit in Argentinien.

Interview: Stephanie Rauer

Am 24. März 2006 jährt sich der Putsch zum 30. Mal. Wie wird dieses Datum in Argentinien wahrgenommen?

Für die Angehörigen von Verschwundenen und Menschenrechtsorganisationen bedeutet dieses Datum vor allem dreißig Jahre Kampf der argentinischen Bevölkerung für Gerechtigkeit und Wahrheit. Gegen staatliche Repression und gegen das Vergessen. Der 24. März zeigt uns aber auch unsere historische Verantwortung, weiter gegen soziale Ungerechtigkeiten zu kämpfen. Über fünfzig Prozent der Bevölkerung lebt in Armut. Viele Kinder sind unterernährt und haben keinen Zugang zu Bildung. Die Militärdiktatur hat die fundamentalen Menschenrechte mit Füßen getreten, und die konstitutionellen Regierungen haben bislang versagt, wenn es darum ging, Verantwortung zu übernehmen.

Wie hat sich Argentinien seit dem Ende der Militärdiktatur politisch verändert?

Während der Diktatur war es unmöglich, sich für soziale Belange einzusetzen. Seit die Bevölkerung wieder selbst die Regierung bestimmen kann, hat sich das zwar geändert – es ist wieder möglich, offen auf den Straßen zu demonstrieren – aber eigentlich leben wir immer noch nicht in einer wahren Demokratie. Wir dürfen an die Wahlurnen, aber im Alltag haben wir kaum eine Wahl. Und die momentane Präsidentschaft in Argentinien ist erneut auf nur eine Person konzentriert, sehr populistisch – wie auch schon zu Zeiten Peróns.
In der Provinz Tucumán sind während der Militärdiktatur im Verhältnis zur EinwohnerInnenzahl die meisten Menschen in Argentinien verschwunden. Dennoch scheint in der öffentlichen Wahrnehmung auch beim Thema Erinnerung eigentlich nur Buenos Aires präsent.
Das ist tatsächlich so. Aber wir wollen in Tucumán am 24. März auch unsere eigenen Erinnerungsveranstaltungen organisieren. In unserer Hauptstadt San Miguel gab es in den 1960er und ‘70er Jahren eine sehr große internationale Studentenbewegung. Und arbeitslose Zuckerrohrarbeiter haben sich zu sozialen Organisationen zusammengeschlossen. Sie wurden Opfer der Militärs. Hier entstand eine Guerilla mit 160 bis 200 Kämpfern. Das nahm die Regierung von Isabel Perón zum Anlass, bereits 1975 in einer alten Schule ein geheimes Konzentrationslager einzurichten. In nur einem Jahr starben hier rund 1.000 Menschen. Die Guerilla war nach nur zehn Monaten geschlagen, aber die Militärs machten nach dem Putsch weiter: Entführungen, Folter, Verschwindenlassen – in Tucúman begann der argentinische Völkermord. Offiziell spricht man von 800 Toten, wir gehen aber von mehr als 3.000 Opfern der Repression aus.

Am 10. Dezember 1983 gründeten Sie die Vereinigung der Rechtsanwälte für Menschenrechte in Tucumán. Was ist die Aufgabe dieser Organisation und welche Bedeutung hat ihre Arbeit?

Wir wollen beweisen, dass die Repression des Staates nicht nur dazu diente, die Guerilla zu eliminieren, sondern gegen große Teile der Bevölkerung gerichtet war. Unter den Opfern waren viele verschiedene Berufsgruppen: Rechtsanwälte, Ärzte, Psychologen, Studenten und Schüler, Lehrer und Professoren. Soziale Proteste sollten im Keim erstickt werden. In Tucumán gab es 33 geheime Gefangenenlager in Fabriken, Schulen und Polizeistationen. Wir versuchen, die Geschichten aller Verschwundenen zu rekonstruieren, um die Schuldigen zu finden. Unsere Mission ist der Kampf gegen das Vergessen und für die Erinnerung. Denn noch immer gibt es Familien, die sich erst jetzt aus den entlegenen Dörfern in den Bergen zu uns trauen, um uns von ihren verschwundenen Angehörigen zu erzählen.
Welche Erfolge konnten Sie bislang in Ihrer Aufklärungsarbeit verzeichnen?
Im Februar 2002 haben wir auf einer Finca nicht weit vom Stadtzentrum entfernt ein Massengrab entdeckt: den Vargas-Brunnen. Ende 2004 haben wir darin die ersten Knochenteile und Kleidungstücke gefunden. Zunächst gingen wir von 40 Metern Tiefe aus, doch inzwischen sind wir bei 80 Metern angelangt. Die Arbeit ist sehr schwierig, uns fehlt finanzielle und technische Unterstützung. Aber wir hoffen, dass wir im März diesen Jahres die Körper der Ermordeten bergen können. Dann beginnt die Identifizierung der Toten. Im vergangenen Oktober haben wir auch ein geheimes Folterlager gefunden. In einem Schuppen sind gleichzeitig 30 bis 45 Gefangene an Füßen gefesselt in winzigen Boxen gehalten und gefoltert worden. Auf dem rund 70 Hektar großen Gelände suchen wir jetzt nach ihren Gräbern. Es gibt schon mehrere Indizien, beispielsweise Benzinkanister, um die Leichen zu verbrennen. Und einen Teppich aus einem Ford Falcon, dem meist benutzten Auto der Geheimpolizei, um Menschen zu entführen.

Sie wurden bereits mehrfach bedroht, zwei Attentate sind gegen Sie verübt und niemals aufgeklärt worden. Wissen Sie, wer hinter diesen Angriffen steht?

An der Repression waren auch die regionalen konstitutionellen Parteien beteiligt. Viele von den Machthabenden von damals haben immer noch wichtige Positionen inne. Und auch diejenigen, die in der Wirtschaft das Sagen haben, waren nicht abgeneigt, dass die Militärs ihnen soziale Proteste vom Hals hielten. Natürlich haben all diese Leute kein Interesse daran, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Vor kurzer Zeit habe ich den letzten Drohanruf bekommen: „Wir werden uns schon noch kennen lernen.“ Man versucht mir Angst zu machen, wo es nur geht. Aber wir, die wir überlebt haben, wir werden weiter machen. Bis alle Schuldigen ihre Strafe bekommen.

2005 haben der Kongress und der Oberste Gerichtshof das Schlusspunkt- und das Befehlsnotstandsgesetz annulliert. Was bedeutet das für die Straflosigkeit in Argentinien?

Auch wenn Kirchner immer wieder erklärt hat, dass er die Straflosigkeitsgesetze für ungültig erklären will, ist dieses Ergebnis nicht sein Verdienst. Sondern das des argentinischen Volkes, das nie aufgehört hat, gegen die Straflosigkeit zu protestieren. Für mich ist es allerdings auch eine etwas fragwürdige „Übereinkunft“ zwischen Militär und Regierung. Hätte der Kongress die Gesetze nicht annulliert, hätten sie die Militärs vielleicht nach Spanien ausliefern müssen. So werden sie nun in Argentinien – eventuell – eines Tages verurteilt. Wer weiß das schon in diesem Land?

Kirchner hat sich in seiner Regierungsarbeit den Menschenrechten verschrieben. Purer Populismus oder ernstgemeinte Aufarbeitung – welches Resümee ziehen sie aus knapp drei Jahren „Politik K“?

Ich versuche objektiv zu bleiben – was für einen Menschen wahrscheinlich die denkbar schwierigste Aufgabe ist. Während Kirchners Regierungszeit haben wir erreicht, dass die Straflosigkeitsgesetze für ungültig erklärt wurden. Die Richter scheinen nun ein wirkliches Interesse daran zu haben, die Verbrechen aus der Zeit der Diktatur aufzuklären. Allerdings erhalten wir Menschenrechtsorganisationen von Kirchner nicht die finanziellen oder politischen Hilfen, die wir für unsere Aufklärungsarbeit benötigen. Dabei sind gerade wir es, zu denen Überlebende und Angehörige von Opfern Vertrauen aufbauen können. Oft reisen wir beispielsweise in weit entfernt gelegene Dörfer, um uns den Menschen dort anzunähern. Diese Menschen würden sich niemals an den Staat wenden. Ohne uns würde ihre Geschichte nicht bekannt werden. Kirchner hat einmal den Vargas-Brunnen besucht und Blumen niedergelegt. Das war alles. Ansonsten bekommen wir keinerlei Unterstützung vom Staat. Am Tag der Menschenrechte im Dezember haben wir daher an Kirchner geschrieben: „Wir sind der symbolischen Gesten müde.“


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