Bolivien | Nummer 272 - Februar 1997

Blutige Zusammenstöße in Goldminen

Zehn Tote und über fünfzig Verletzte im Norden von Potosí

“Das Schlimmste an alledem ist, daß Bolivianer sich gegenseitig umgebracht haben, um die Interessen des ausländischen Kapitals zu verteidigen.” Mit diesen Worten kommentierte Waldo Albarracín, Präsident der Ständigen Versammlung für Menschenrechte in Bolivien, die tödliche Auseinandersetzung zwischen Militär und Minenbesetzem, die sich in den Vorweihnachtstagen des vergangenen Jahres in den Goldminen von Amayapampa und Capasirca ereignet hatte. Nachdem in Folge die Minen in Potosi besetzt wurden und die Regierung von einem “‘gewerkschaflich-politischen Komplott” und Verbindungen zu terroristischen Gruppen spricht, ist Bolivien in einer angespannten Phase.

BOLIVIA-sago Informationsblatt Nr. 115

Am 17. Dezember hatten, Bergarbeiter und Bauern die Miin Amayapampa und Capasirca in der PrBustillos, Departement Potosi, besetzt. Bergarbeiter und Bauern be-gründeten die Besetzung der Minen mit der Befü, der neue Eigentümer Vista Gold, eine kanadische Bergbaugesellschaft, werde für das geschürfte Gold -sind 11 kg monatlich geplant -die festgelegten Abgaben Departement Potosi zahlen. Dabei sind die Abgaben für Erze, ins-besondere für Gold, im Vergleich zu anderen Bodenschätzen wie Öl und Gas ohnehin schon sehr niedrig. Die Revidierung der viel zu geringen Abgabesätze könnte Gegenstand des neuen Bergbaugesetzes sein, das schon seit Monaten auf seine Verabschiedung durch den Senat wartet und nun im endlich diskutiert werden soll.
Die schweren Zusammenstösse , als zwei Tage nach Beginn der Besetzung Spezialeinheiten der Polizei, unter-stützt durch Truppen der Armee. besetzten Goldlagerstätten äum. Bei der Verder Besetzer sollen Polizei und Armee “aus nächster Nähe in die
Menge gefeuert haben, ohne auf Frauen, Kinder und AlRückzu nehmen”, so ein Augen-zeuge. Nachdem die Armee über Nacht Gebiet besetzt hatte, weiteten sich die Auseinandersetzungen am äcTag auf die nahegelegene Stadt Llallagua mit 20 000 aus. Von Seiten der Armee und Polizei wurden Gummigeschosse, großkalibrige Waffen, Maschinengewehre und Gasgranaten eingesetzt. Die mineros und carnpesinos wehrten sich mit Dynamitstangen und Gewehren, die zum Teil noch aus den Zeiten der Revolution (1952) und des Chaco-Krieges (1932-35) stammten. aber auch mit moderneren Schußwaffen. Während der vier Tage andauernden Unruhen waren etwa 2.000 Polizei-und Armeekräfte im , die Gein das verlegt worden waren. wenn sich die Regierung nicht veranlaßt , Ausnahmezustand über die Minzuerhängen, so die vollständige Militarisierung gesamten Gebietes von Norte dennoch zu einem faktischen Ausnahmezustand geführt: Versammlungen wurden verboten,
die Bewohner konnten ihre Dörund Siedlungen nicht verlassen, Journalisten wurde der Zu-tritt zu den Minengebieten untersagt-
Erst am Abend des 22. Dezember, nach vier Tagen immer wieder aufflammender Schiessereien, konnte der Konflikt bei-gelegt werden. Die traurige Bilanz: neun Tote unter den auf-ständischen Minenarbeitern und Bauern und mindestens 50 Verletzte auf beiden Seiten. Das zehnte Opfer war der Chef der Spezialgruppe für Sicherheit bei der Polizei. Womöglich sind den Schießereien aber noch mehr Menschen zum Opfer gefallen. Ein Rechtsanwalt des Gewerk-schaftsdachverbands COB will Beweise dafür haben, daß die Regierung den Tod von mindestens sechs Soldaten geheimhält
Besitzer und Besetzer
Die mineros und campesinos hatten die Goldminen besetzt, um “den Staatsbesitz und die nicht-erneuerbaren Ressourcen als nationales Eigentum zu verteidigen”, wie es der Generalsekretär des Gewerkschaftsverbandes der bolivianischen Bergarbeiter FSTMB, Jaime Solares, ausdrückte. Die kanadische Vista Gold hatte bereits mehrere Versuche unternommen, mit der Ausbeutung zu beginnen, war aber immer wieder auf den erbitterten Widerstand der Bergarbeiterkooperativen gestoßen (siehe auch Kasten).
Die Besetzer der Goldminen forderten die Zahlung von Abgaben für das geschürfte Gold an das Departement und soziale Leistungen durch den ausländischen Konzessionär. Der vorherige Eigentümer hatte -so klagen die Bergarbeiter -nicht die gesetzlich festgelegten Abgaben entrichtet. Außerdem forderten die Besetzer, daß der Ex-Eigentümer für die von ihm verursachten Umweltschäden zur Verantwortung gezogen wird.
Regierung unter
Rechtfertigungsdruck
“Die Armee ält diese Gegend sauber, und basta!” war der zynische Kommentar des Verteidigungsministers Kreidler zu den tragischen Vorfällen in Norte de Potosi. Die Regierung hatte -wegen ihres brutalen Vorgehens gegen die Minenbesetzer unter starken Druck geraten -schon bald die “wahren” Schuldigen des Konflikts ausgemacht: Die Gebrüder Mansilla (Mario alias “Comandante” oder “General” und sein Bruder Gerardo) seien die Nutznießer des illegalen Goldabbaus, der bisher in den Minen von Amayapampa und Capasirca stattfand, erklärte Informationsminister Mauricio Balcázar. Mit den Gewinnen aus der “heimlichen” Schürfung hätten sie Waffen und Munition gekauft und die Mineros zur Verteidigung der Minen angestiftet. Einige dieser Waffen, darunter ein Scharfschützen-Gewehr neuester Technologie samt Zielfernrohr, seien wahrend der ämpfe beschlagnahmt worden.
Doch damit nicht genug: Eine speziell für militärOperaausgebildete subversive
Gruppe soll maßgeblich an den Auseinandersetzungen um die Minen beteiligt gewesen sein. Als ein Indiz für diese Behauptung wurde die Art und Weise gewertet, wie der Kommandeur der Polizei-Spezialeinheiten zu Tode kam: Das gerichtsmedizinische Gutachten der Leiche er-gab, daß der Todesschuß zwischen die Augenbrauen des Opfers nur aus einem “militärisch organisierten Hinterhalt” und von Heckenschützen mit speziellen Präzisionswaffen abgegeben worden sein kann, erklärt der Staatssekretär für innere Ordnung und Polizei, Marco Tufino. Als ebenfalls “subversiv“ so Verteidigungsminister Kreidler -wurde die katholische Radiostation “Pio XII” in Siglo XX eingestuft, die die ersten Nachrichten über die heftigen Zusarnmenstöße hatte. Konkrete Beweise für al Behauptungen konnten Regiund Polizei- und ührung bisher nicht vorlegen. Präsident Sánchez de Lozada ließ sich in seiner Neujahrsansprache sogar zu der Andeutung hinreisen, die Minen seien durch Terrorgruppen besetzt worden.
Der Regierungsversion. wo-nach terroristische Gruppen den Konflikt in Amayapampa und Capasirca provoziert hätten, widersprach der Präsident der Menschenrechtskommission der Abgeordnetenkammer, Juan Del Granado der Koalitionspartei MBL (Bewegung Freies Bolivien), energisch. Unter seiner Leitung war kurz nach dem Ausbruch der Unruhen eine Parlamentskommission in die Minen- gebiete gefahren, um zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. “Ich glaube, es hat keinen Sinn, über Aktivitäten mit terroristischem oder subversivem Charakter zu spekulieren”, er-klärte der Abgeordnete. Während der Zusammenstöße seien keinerlei Hinweise auf eine subversive Gruppe in den Reihen der mineros und campesinos zu beobachten gewesen. Daß die mi-neros in dieser Region über Schußwaffen verfügen, sei nicht weiter verwunderlich, nachdem es in der Vergangenheit mehrere Massaker in den Minen von Sig- 10 XX, Uncía und Llallagua ge-geben habe, sagte Del Granado. Er sprach von einem erneuten “Massaker” an den Mineros.
Die Ständige Versammlung für Menschenrechte in Bolivien gibt denn auch der Regierung die alleinige Schuld für die Toten und Verletzten des “Weihnachtsmassakers”, wie es inzwischen von Politikern der Opposition bezeichnet wird. Die Schuldigen für die traurigen Ereignisse dürften nicht unbestraft bleiben, fordert der Präsident der Organisation, Waldo Abarracin.
Das Friedensabkornmen
In der von der Regierung, COB und FMSTB unterzeichneten Vereinbarung zur friedlichen Lösung des Konflikts vernichteten sich die mineros zur Übergabe aller in ihrer Hand befindlichen Waffen und zum Verzicht auf jegliche gewalttätige Aktivität. Die Regierung, vertreten durch Innenminister Anaya und Verteidigungsminister Kreidler, verpflichtete sich ihrerseits. das Arbeitsministerium und das Staatliche Bergamt in die Verhandlungen zwischen Bergarbeitergewerkschaft und den Besitzern der Capasirca-Mine einzubeziehen sowie geltendes Recht durchzusetzen, wo-nach den Departements Abgaben für die abgebauten Bodenschätze zustehen. Die Armeeführung ordnete den allmählichen Abzug ihrer Truppen aus den kontrollierten Gebieten an. Die Mine in Capasirca blieb jedoch weiterhin unter Polizeiaufsicht.
Justiz und Parlament sollen, so sieht es der letzte Punkt des Friedensabkommens vor, Untersuchungen zur Aufklärung der Vorfälle einleiten. Die Regierung kündigte daraufhin die Bildung einer Untersuchungskommission an, bestehend aus Polizei und Sicherheitskräften. “Die Polizei kann doch nicht gegen sich selbst ermitteln”, kritisierte der Abgeordnete Jorge Medinacelli der Oppositionspartei MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) diese Entscheidung und forderte, statt dessen eine unabhängige Kommission aus Vertretern mehrerer Parteien und Organisationen einzusetzen.
Genauere Erkenntnisse über die Vorfälle in den Goldminen sollte ein Bericht der Menschenrechtskommission der Abgeordnetenkammer geben. Dieser wurde am 10. Januar 97 dem Parlament vorgelegt und sollte in eine parlamentarische Anfrage an Innenminister Anaya, Verteidigungsminister Kreidler, Wirtschaftsminister Villalobos und Informationsminister Balcázar über die tragischen Vorfälle in Norte de Potosi münden. Zu dieser Anfrage im Parlament kam es jedoch noch nicht, da jedesmal zu wenige Parlamentarier anwesend waren. Diese parlamentarischen Bemühungen wurden al-lerdings überschattet von den Er-eignissen am Cerro Rico in der Stadt Potosi, wo seit dem 10. Januar etwa 5.000 Minenarbeiter den Berg besetzt halten und einige privatisierte Minengebiete von der Regierung zurückfordem.
Nach ein paar Tagen Verhandlungen sieht es so aus, als ob sich eine Lösung des Konfliktes anbahnt, und diesmal ist es Innenminister Sanchez Berzaín. der die Fäden zieht. Es wird jetzt nicht mehr von einem Konflikt zwischen Minenarbeitern und der Regierung gesprochen, sondern es handele sich um Interessenskämpfe zwischen den Minen-Kooperativen, gegründet von entlassenen Arbeitern der staatlichen Minengesellschaft COMIBOL, und den Eigentümern der Mine Pilaviri.
Aber der richtige “Schlag” der Regierung kam am 16. Januar, als der Innenminister eine “Konspiration” gegen Staat und Regierung verkündete. Dieses “gewerkschaftlich-politische Komplott”, wie er es nannte, werde von mehreren politischen Parteien der extremen Linken gesteuert und verfüge über “operative Einheiten”, die sich aus terroristischen Gruppen formierten, auch aus der peruanischen MRTA. Den Beweis dafür sollen Dokumente liefern, die der Staatsanwaltschaft von La Paz in einer Pressekonferenz am
21. Januar vorgelegt wurden. Darunter befindet sich eine Liste von 36 Personen, die unter anderem des bewaffneten Aufstandes beschuldigt werden. Die ersten Festnahmen von Gewerkschaftlern sind aus La Paz zu vernehmen.
Bolivien kommt unweigerlich in eine sehr gespannte und unruhige Phase, und das nicht nur wegen der bevorstehenden Wahlen im Juni 1997, sondern
auch weil nach 12 Jahren Demokratie weite Teile der Bevölkerung, und dazu gehören insbesondere die Minenarbeiter, immer mehr in die Armut gedräng wurden. Diese Gebiete brauchen den Bergbau, aber mit fairen Verträgen und Investitionen. Auch wenn sich die Minenarbeiter vom Staat alleingelassen fühlen, führen bewaffnete Aufstände für die mineros und ihre Familien sicher zu keiner befriedigen-den Lösung. Es gibt andererseits keinerlei Rechtfertigung für das übertrieben harte Vorgehen von Polizei und Militär, bei dem auch unschuldige Familienmitglieder erschossen wurden. Will die Regierung ihre Glaubwürdigkeit bewahren, muß sie auf eine rasche und vollständige Aufklä­rung der Vorfälle, vor allem von Seiten der Sicherheitskräfte, drängen.

aus: BOLIVIA-sago Informationsblatt Nr. 115


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