„Bolivien braucht eine neue Verfassung, die die Menschenrechte besser garantiert“
Interview mit Sacha Lorenti, Vizepräsident der Menschenrechts-Organisation Asamblea Permanente de Derechos Humanos de Bolivia (APDDHH).
Wie beurteilt die APDDHH die Situation in Bolivien nach dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Carlos Mesa?
Der Antritt Carlos Mesas hat bei vielen Gruppen im Land Hoffnung auf mehr Demokratie wachgerufen. Dies gilt auch für uns. Man muss natürlich vorsichtig sein. Doch Carlos Mesa hat in seinen bisherigen Positionen als Vizepräsident, Historiker und Journalist eine demokratische und ethische Einstellung an den Tag gelegt. In seiner Antrittsrede hat er betont, dass er die strukturellen Ursachen für die Krise angehen möchte. Er sprach sich für die Gründung einer Verfassungsgebenden Versammlung aus und für die Einberufung eines Referendums über die Zukunft der Bodenschätze, inbesondere des Erdgases.
Wie bewerten Sie die Aufstände und Blockaden im September und Oktober?
Die Ereignisse im Oktober sind Teil und Resultat einer langen, fortdauernden Krise, die nun gewalttätig und gebündelt zum Ausbruch kam. Die soziale Unzufriedenheit ist rasant angewachsen und der Staat befindet sich seit langem in einer Krise. Dies zeigt sich im Zusammenbruch des politischen Systems, in einem immer schlechter funktionierenden Wirtschaftsmodell und in den katastrophalen sozialen Bedingungen, die zum Teil sehr gewaltsame Antworten finden, aber auch in der Entstehung vieler neuer sozialer Bewegungen in den letzten Jahren.
Es gibt Berichte von Verschwundenen und von außergerichtlichen Festnahmen. Wie ist die Menschenrechtssituation während der Aufstände zu bewerten?
Wir haben mehr als 80 Tote [neuere Zahlen gehen von 56 Toten aus; die Red.], über 400 Verletzte und eine unbestimmte Zahl an nicht rechtmäßig Verhafteten zwischen dem 21. September und dem Rücktritt Präsident Sánchez de Lozadas registriert. Man hat uns von Fällen verschwundener Personen berichtet. Aber neben diesen groben Menschenrechtsverletzungen wurde in diesen Tagen auch das Recht auf Meinungsfreiheit stark verletzt. Mindestens fünf Medien sollen in ihrer Arbeit behindert worden sein: Angefangen mit der Beschlagnahmung von Zeitungen bis hin zu der Zerstörung der Ausrüstung eines Minen-Radiosenders und eines Fernsehkanals in Oruro.
Wie sollte die Aufarbeitung dieser Ereignisse Ihrer Meinung nach aussehen?
Wir selber stellen zur Zeit Nachforschungen an, sammeln Zeugenaussagen und beschaffen und systematisieren Informationen.
Zur Klärung der Verantwortlichen forden wir die Einberufung einer Wahrheitskommission. Wie auch immer diese besetzt sein sollte, der Staat muss die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Personen in diesen Untersuchungen und ihre unbehinderte Arbeit garantieren.
Nur so wird es möglich sein, die Verantwortlichen für das Massaker benennen zu können. Die Folge müsste auf jeden Fall ein Prozess gegen die verantwortlichen Personen Gonzalo Sánchez de Lozada, seinen Verteidigungsminister Gonzalo Sánchez Berzaín sowie den Regierungsminister Yerko Kukoc sein.
Sie haben von einer Hoffnung auf Demokratisierung unter der neuen Regierung gesprochen? Was ist dafür nötig?
Eine Demokratie, welche die Menschenrechte verletzt, ist keine Demokratie. Wir brauchen eine neue Verfassung, die die Menschenrechte besser garantiert. Eine weitere dringende Aufgabe ist der Kampf gegen die Straflosigkeit. Auch das Landrechtsproblem, der Kokaanbau, die Rohstofffrage und das Arbeitsrecht müssen angegangen und gelöst werden.
Die Demokratie muss einen Rahmen entwickeln, der allen Bolivianern bessere Lebensbedingungen bieten kann. Wir glauben nicht, dass die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen in den 21 Jahren der bolivianischen Demokratie dem Zufall entsprungen sind. Sie sind viel mehr Teil eines Projektes, ein bestimmtes Wirtschaftsmodell und politisches System durchzusetzen, und sei es mit Gewalt. Für eben dieses Projekt stellt die Einhaltung der Menschenrechte ein Hindernis dar.