Bolivien | Nummer 361/362 - Juli/August 2004

„Bolivien vertraut heute auf den demokratischen Prozess“

Interview mit dem Zweiten Vizepräsidenten Boliviens und Abgeordneten der MAS, Dinicio Nuñez Tancara

Leichter geworden ist es nicht für die Movimiento al Socialismo (MAS), die Bewegung zum Sozialismus, seit die BolivianerInnen im vergangenen Oktober den einstigen Präsidenten Sánchez de Lozada aus dem Land jagten. Ihr Ruf nach der baldigen Verstaatlichung des Erdgases erklingt unverändert laut, und während Boliviens parteiloser Präsident Carlos Mesa weder seinen Posten verlieren noch die transnationalen Erdgaskonsortien verprellen will, setzen die radikaleren Kräfte des Landes alles daran, die Bevölkerung wieder auf die Barrikaden zu schicken. Die MAS, seit 2002 die zweitstärkste Fraktion im Parlament, spielt mehr und mehr eine zwischen den weit auseinanderklaffenden Interessen vermittelnde Rolle, übt sich in kritischer Unterstützung des Präsidenten und will das Land dabei noch in Richtung Sozialismus lenken. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit Dinicio Nuñez Tancara, Abgeordneter der MAS und Zweiter Vizepräsident Boliviens, über die Perspektiven von Partei, Land und Sozialismus.

Anja Witte, Börries Nehe, Tine Donsch

Bis zum Oktober war die MAS einer der wichtigsten Protagonisten der sozialen Bewegungen mit einem radikalen Diskurs des Umsturzes. Seitdem hat sich die MAS sehr zurückgenommen und unterstützt nun die Regierung und den neuen Präsidenten Carlos Mesa, der bislang die Forderungen, die ihm während des Aufstandes im Oktober zur Bedingung gemacht wurden, nicht erfüllte. Warum dieser Wandel?

Die MAS erlangte Stärke vor allem durch ihre Losung, das Land neu zu gründen, alle Staatseigentümer zurück zu gewinnen und für bessere Lebensbedingungen zu kämpfen. Und genau diese Forderungen waren auch fundamental für die Aufstände im Februar und im Oktober. Nachdem aber der ehemalige Präsident Sánchez de Lozada im Oktober das Land verließ und der vormalige Vizepräsident Carlos Mesa das Amt übernahm, veränderte sich die Einstellung vieler reaktionärer, konservativer Kräfte gegenüber der Demokratie, auf die sie jetzt nur noch einen wesentlich geringeren Einfluss haben. Die großen privatwirtschaftlichen Unternehmer des Landes, die transnationalen Firmen und die Mächtigen des Landes hatten die Demokratie gestützt, wie zuvor auch die Diktatur, weil sie mit ihrer Hilfe fortfahren konnten, das Land auszubeuten und sich zu bereichern. Nach dem Erfolg der MAS bei den letzten Wahlen und nach dem Aufstand im Oktober ist das anders. Jetzt sind diese Kräfte nicht mehr so fundamental an der Demokratie interessiert, weil sie genau durch diese Demokratie mehr und mehr Raum verlieren. Sie haben begonnen, die Demokratie zu boykottieren und ein günstiges Szenario für einen möglichen Staatsstreich zu schaffen. Heute arbeiten sie daran, ein Chaos zu erzeugen, in dem dann ein möglicher Staatsstreich durchgeführt werden kann.
Ausgehend von dieser Einschätzung haben wir entschieden: Wir wollen die Demokratie und ihre Institutionen verteidigen. Nicht zuletzt deshalb, weil wir seit den letzten Wahlen gesehen haben, dass es auch für eine nicht-traditionelle Partei möglich ist, innerhalb der Demokratie Ziele zu erreichen.

Für diese Position wird die MAS von den radikalen Kräften heftig angegriffen, insbesondere vom Gewerkschaftsdachverband Central Obrera Boliviana (COB) und der Indigenenorganisation Movimiento Indígena Pachacuti (MIP), die weiterhin auf der Straße mobilisieren.
Ja, die COB und auch die MIP klagen uns an, ein Teil der Regierung zu sein, uns ans System gewöhnt zu haben. Sie werfen uns vor, unsere Ideale und ursprünglichen Werte verloren zu haben. Doch sie irren sich. Die COB hat seit dem ersten Mai einen unbefristeten Generalstreik und eine Blockade aller Straßen des Landes ausgerufen. Sie haben praktisch keine Unterstützung und Mobilisierung in der Bevölkerung erreicht.
Die Mehrheit der Bolivianer vertraut heute auf den demokratischen Prozess und eine graduelle Transformation innerhalb der Demokratie. Im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte erkennt man, dass mit Begriffen wie „Diktatur des Proletariats“, „Arbeiter- und Bauernregierung“, „Volksaufstand“ und „bewaffneter Kampf“ niemals ein mehrheitlicher Rückhalt in der Bevölkerung erreicht wurde. Und inzwischen ist die MAS nicht mehr ausschließlich ein politisches Instrument der indigenen Bevölkerung und der Arbeiter und Bauern, auch Teile der Mittelklasse haben sich solidarisiert.

Vor kurzem kam es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Militär und demonstrierender Bevölkerung im Beni. Dabei gab es auch wieder Tote. Warum schweigt die MAS selbst zu den Toten und stützt damit ein gewaltsames Vorgehen der Regierung gegen die protestierende Bevölkerung?

Die Menschen, die im Beni blockierten, forderten den Rücktritt eines Präfekten, außerdem ging es um die Verteilung von Landtiteln. Natürlich haben sie jedes Recht für bessere Lebensbedingungen auf die Straße zu gehen. Aber angesichts der tiefen ökonomischen Krise, in der das Land sich derzeit befindet, kann keine Regierung, wer auch immer sie stellt, in nur drei Monaten alle Probleme lösen und alle Forderungen der Bevölkerung erfüllen. Es gab in Bolivien schon einmal eine sehr ähnliche Etappe. 1982, nach der Rückgewinnung der Demokratie, hatten wir eine Regierung, die aus einer Koalition von Linksparteien bestand. Sie kamen mit einem populistischen Programm, progressiven Ideen und einer breiten Unterstützung an die Regierung. Die selben Sektoren, die sie an die Regierung gebracht hatten, damals vor allem die Minenarbeiter, übten mit der Forderung nach Berücksichtigung ihrer Partikularinteressen permanenten Druck aus. Solange, bis sie eine totale Instabilität erzeugt hatten und der Präsident zurücktreten musste. Danach wurde es erst richtig schlimm, mit Präsidenten wie Gonzalo Sánchez de Lozada.

Darum beteiligt sich die MAS nicht mehr an den Mobilisierungen?

Ich bin der festen Überzeugung, wenn die MAS in diesem Moment anfinge zu mobilisieren und die Straßen zu blockieren, dann würde die Regierung keine 48 Stunden bestehen bleiben. Und danach, was käme dann? Nach der bolivianischen Verfassung würde der aktuelle Präsident des Senats die Nachfolge des Präsidenten antreten. Der ist ein Vertreter der MIR (Bewegung der Revolutionären Linken), die auch an der vorigen Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada beteiligt war. Damit würde man zum alten System zurückkehren. Es könnte sogar zu einer militärischen Intervention wie in Haiti kommen.

Eine der zentralen Forderungen der Oktoberunruhen war die Verstaatlichung der Erdgasvorkommen. Wie steht es momentan um die Eigentumsverhältnisse des Erdgases?

Nach der bolivianischen Verfassung sind alle fossilen Energiereserven unveräußerlich und gehören dem bolivianischen Staat. Im derzeit gültigen Energiegesetz gibt es aber eine Klausel namens boca de pozo. Die besagt, dass alle Vorkommen dem Staat gehören, solange sie unter der Erde sind. Sobald sie aber an der Oberfläche sind, gehören sie automatisch dem Konzern, der sie gefördert hat. Momentan existieren 78 Verträge über die Förderung und den Vertrieb des Gases, die die vorherige Regierung abgeschlossen hat. Und laut denen gehört das geförderte Gas den Unternehmen.

Dem für Juli geplanten Referendum über die Zukunft der Gasvorkommen wird eine absichtliche Auslassung der essentiellen Fragen vorgeworfen: Aller Voraussicht nach wird Präsident Mesa die Verträge mit den transnationalen Unternehmen nicht in Frage stellen. Wie ist die Position der MAS in Bezug auf eine Verstaatlichung? Wie geht ihr mit den abgeschlossenen Verträgen um?

Zuallererst wollen wir das Eigentum zurückgewinnen. Das bedeutet konkret, dass die gesamten Öl- und Erdgasvorkommen in den Besitz des staatlichen Energieunternehmens YPBF überführt werden müssen. Im Augenblick ist die YPBF praktisch vollkommen zerstört und besteht aus nichts weiter als ihren Buchstaben. Sowohl die Suche nach Energievorkommen als auch die Förderung und der Verkauf wurden an verschiedene ausländische Unternehmen übertragen.
Die MAS fordert die Annullierung des aktuellen Energiegesetzes, das die Grundlage für die Verträge mit den multinationalen Unternehmen und die Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen bildet. Wenn dieses Energiegesetz annulliert wird, sind auch die Verträge nicht mehr rechtskräftig.
Wir setzen uns außerdem für eine Revision der abgeschlossenen Verträge ein. Der Großteil der 78 Verträge wurde unter betrügerischen Bedingungen abgeschlossen. Sie sind das Produkt von Geldschiebereien, dubiosen Treffen und Geschäftsessen, in denen die Vorkommen praktisch verschenkt wurden. Ein großer Teil der Verträge verstößt gegen die Verfassung und zahlreiche Vertragsklauseln wurden einfach nicht eingehalten. Wenn wir jeden Vertrag einer Revision unterziehen, sparen wir uns möglicherweise Entschädigungszahlungen. Wir setzen momentan nicht unbedingt auf eine Verstaatlichung, weil das zugleich Entschädigungen für die Unternehmen bedeuten würde, die sich auf geschätzte zehn Milliarden Dollar belaufen würden – eine Summe, die der bolivianische Staat zu diesem Zeitpunkt unmöglich zahlen könnte. .
Neben den genannten Forderungen werden wir uns nach dem Referendum am 18. Juli im Parlament für eine Industrialisierung des Gases stark machen, damit wir nicht mehr ausschließlich Rohstoffe exportieren, sondern in Bolivien eine verarbeitende Industrie aufgebaut wird. Wir wollen erstmal die Verteilung des Gases an bolivianische Haushalte fördern und erst danach in andere Länder exportieren, und zwar zu fairen Marktpreisen.

Eure Partei heißt MAS – Movimiento al Socialismo, Bewegung zum Sozialismus. Was bedeutet dieser Name für euch? Welche Vorstellung habt ihr von dem Sozialismus, auf den ihr euch zu bewegt?

Nachdem der bolivianische Staat uns bereits zweimal die Anerkennung als politische Gruppe verweigert hatte, wurde auf einem großen Kongress in Cochabamba, zu dem viele Kokabauern aus den Yungas und dem Chaparé gekommen waren, die hinter Morales standen, das „Instrumento Político por la Soberanía de los Pueblos“ (IPSP) ins Leben, gerufen. Endlich gelang es uns, die Bewegung zu festigen und weiter zu entwickeln. Als Verband wurden wir anerkannt, als Partei aber wollte uns der Nationale Wahlrat wieder nicht akzeptieren.
Und genau in dieser Phase unserer Entwicklung ergab es sich, dass die Vereinigte Linke, bestehend aus der Kommunistischen Partei und einer Partei namens MAS, sich zerstritt und schließlich auflöste. Beide Parteien verloren ihre Basis, behielten aber ihren Status als Partei. Und so kam die MAS auf uns zu und bot uns an, den Namen, die Farben und die Papiere zu übernehmen. Also besetzten wir alle Posten, änderten das Statut und waren endlich zu einer Partei geworden.Die Menschen identifizierten sich sehr bald mit den Farben und dem Namen der MAS, und die Wahlen waren ein so großer Erfolg für uns, dass wir es bei der eigentlich als Provisorium gedachten Bezeichnung beließen.
Nun soll man uns aber nicht vorwerfen, wir benützten lediglich das Banner des Sozialismus für unsere Zwecke – wir sind eine Bewegung hin zum Sozialismus. In der andinen Kultur, in der Aymara- wie der Quechuakultur, bestimmen Traditionen wie die Solidarität, die Gegenseitigkeit und das Füreinander die Gemeinschaft. Es gibt nicht das Individuum als Person, sondern die solidarische Gemeinschaft. Das bedeutet: Schon bevor man die Theorie des Sozialismus definiert hat, gab es in den Gemeinschaften die solidarische Praxis. Was wir suchen ist eine neue Form des Sozialismus, der auf unseren Traditionen und den Überlieferungen aufbaut. Noch sind wir nicht sozialistisch – aber wir sind eine Bewegung zum Sozialismus.

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