Nummer 507/508 - Sept./Okt. 2016 | Tanz

BREAKEN IN DER ROTEN ZONE

INTERVIEW MIT DEN BBOYS PICHO UND GATO ÜBER DIE HIPHOP-KULTUR IN GUATEMALA UND DEN POSITIVEN EINFLUSS DES BREAKDANCE IN GEWALTDOMINIERTEN STADTVIERTELN

Die BBoys Picho und Gato geben Breakdance-Workshops und organisieren HipHop-Events in Randbezirken von Guatemala-Stadt, die von extremer Gewalt und Perspektivlosigkeit geprägt sind und auch „rote Zonen“ genannt werden. Damit setzen sie ein Zeichen gegen die kriminellen Banden, die oft diese Stadtteile kontrollieren. Die LN sprachen mit den beiden über das Tanzen, die Geschichte ihrer Crews und die gesellschaftliche Rezeption des HipHops in Guatemala.

Von Interview: Lyudmila Vaseva und Sarah Weis
Foto: Picho
Foto: Picho

Ihr tanzt beide bereits seit mehreren Jahren. Wie hat alles angefangen?
Gato: Ich war damals noch an der Schule. Ein paar Freunde haben angefangen zu tanzen, wir haben zugeguckt. Ich habe mich sehr angezogen gefühlt und mir gedacht: „Ich will das lernen” und dann habe ich geübt. Ich habe erstmal mit Rückwärtssalti und so was angefangen, in meinem Bett, auf der Matratze. Damals wusste ich weder dass ich Breakdance tanze, noch dass es zu einer HipHop-Kultur gehört. Ich glaube, das war in Guatemala generell so, bis etwa 2005 oder 2006: Es gab schon viele Leute, die tanzten, aber niemand wusste, dass sie eigentlich Breakdance machen. Naja, ich bin dabei geblieben und habe an Wettbewerben teilgenommen. Das hat mir auch erlaubt, aus Guatemala raus zu kommen. 2010 war ein gutes Jahr für mich und für die HipHop-Bewegung in Guatemala. Es fand ein zentralamerikanisches Event statt, bei dem Guatemala gewann. Zwölf Menschen wurden nach Frankreich zur Breakdance-Weltmeisterschaft geschickt. Seitdem hat sich alles verändert.

Und wie hat es bei dir angefangen, Picho?
Picho: Ich habe in Parks angefangen. In meinem Bezirk, in Ciudad Quetzal (ein Randbezirk von Guatemala-Stadt, Anm. d. Redaktion). Und wie Gato sagte, wusste ich weder dass ich Breakdance tanze, noch was HipHop ist. Mit meiner Crew haben wir in unserem Viertel geübt und auch anderen das Tanzen beigebracht. Als wir in die Hauptstadt gegangen sind, haben wir gemerkt, dass es eine ganze Bewegung gibt. Da haben wir gelernt, dass eine gemeinsame Geschichte existiert, dass es sich um eine Kultur handelt. Die HipHop-Kultur beinhaltet vier Disziplinen: Grafitti, DJs, MCs, die auch als Rapper bekannt sind, und die BBoys, die sogenannten Breakdancer. Breakdance ist allerdings der kommerzielle Name, in Wirklichkeit heißt es BBoying. Diese vier Zweige sind sehr unterschiedlich, aber sie sind sich auf eine Weise auch sehr ähnlich.

Du organisiert auch unterschiedliche HipHop-Events, Picho…
P.: In Guatemala werden Orte, die als besonders gefährlich gelten, weil es dort sehr viel Gewalt gibt, „rote Zonen“ genannt. Ciudad Quetzal ist auch so eine „rote Zone“. Wir wollen das ändern. Mit meiner Crew, der Quetzal Crew, organisieren wir in unserer Heimatstadt zwei Veranstaltungen im Jahr. Dieses Jahr machen wir beide Veranstaltungen zum vierten Mal. Und das ist sehr schön. Als ich angefangen habe, gab es niemanden, von dem ich lernen konnte. Für diejenigen, die jetzt anfangen, gibt es Raum, Mitstreiter, Unterstützung von Menschen, die die Kultur schon kennen.

Wie kann man sich die Veranstaltungen vorstellen?
P.: Es gibt zwei unterschiedliche Typen. Der erste heißt arte en el área (Kunst im Sektor), diese Veranstaltung findet im Juni statt. Da sind alle vier Disziplinen vertreten: Grafitti, MCs, BBoys, DJs. Wir machen eine komplette Straße zu. Jetzt bekommen wir sogar offiziell Erlaubnis dafür und sie wird für vier, fünf Stunden zu unserem Raum. Da finden Battles statt, es gibt BBoying-Wettbewerbe, drei gegen drei. An anderen Orten gibt es Rap und in einer Ecke werden Graffities gesprüht. Es gibt auch Raum für DJs.
Bei der anderen Veranstaltung geht es vor allem um das Breakdancen. Sie findet am zweiten Wochenende im Dezember statt. Sie fängt mit Battles und mit ein bisschen Rap an. Die Menschen machen Jams, das heißt sie stellen sich im Kreis auf und jemand stellt seinen Tanz oder sein Set vor, dann kommt der nächste an die Reihe. Es ist eine Art des Zusammenlebens, vier Stunden lang.

Und seid ihr alle Männer?
G.: In meiner Crew sind wir momentan alle Männer, früher hatten wir auch BGirls. Die Männer heißen „BBoys“, die Frauen „BGirls“. Das kommt von einem sehr bekannten DJ in der Geschichte des HipHops, Kool Herc. Wenn er seine Musik gespielt hat, gab es Menschen, die angefangen haben zu tanzen. Und er meinte, diese Jungs und Mädels sind groß, sie müssen irgendeinen Namen haben und hat sie „BBoys“ beziehungsweise „BGirls“ getauft.
P.: Manche sagen, das „B“ kommt von „Break“, also von „break boy“, andere meinen, es sei „big boy“, also “großer Junge”.

Ihr meintet, in beiden Crews gibt es keine Frauen. Sind BGirls weniger verbreitet?
G.: Die Gesellschaft hat Frauen in dieser Rolle immer noch nicht ganz akzeptiert. Aber langsam gibt es mehr Frauen. Es gibt sogar eine Crew, die nur aus Frauen besteht, die einzige in Guatemala.

Warum betrachtet ihr den HipHop in Guatemala als eine Form des Widerstandes?
G.: Wenn Leute, die schon seit Jahren HipHop machen, nach Guatemala kommen, sagen sie: „Hier ist die Essenz wie es in der Bronx war!“ Als Menschen in der Bronx mit dem HipHop anfingen, war das pure Revolution, purer Widerstand dagegen, dass sie in Ghettos an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden.
P.: Der Widerstand in Guatemala ist gegen die Gewalt, gegen die vielen Toten. Denn häufig verschwinden Menschen einfach so, manchmal auch junge Leute und solche, die Kunst machen und tanzen. Das heißt, Widerstand bedeutet klarzumachen: „Nein, das ist unsere Straße, meine Kultur, von hier bin ich.“ Diesen Widerstand meine ich. Es geht darum, zu verteidigen, wer du bist und deutlich zu machen, dass wir Rechte haben. Denn oft beschuldigen sie dich einfach für Dinge, die nicht stimmen.
G.: In Guatemala gibt es sehr viele organisierte Banden, die Menschen entführen, ausrauben und umbringen. Einige dieser Banden haben Kleidungsstile angenommen, die typisch für die HipHop-Kultur sind. Deshalb denken viele Menschen, dass du und deine Crew eine weitere kriminelle Bande seid. Zum Beispiel sagt sich die Polizei: „Der da ist ein Bandenmitglied“ und halten dich an und verprügeln dich.
P.: Oder sie schmuggeln dir Drogen unter, um dir Geld abzunehmen. Sie erpressen uns wegen unseres Kleidungsstils. Ich denke, der Widerstand beginnt schon dort, wenn wir auf der Straße tanzen oder von HipHop erzählen, denn es ist ein Ausdruck von Freiheit. HipHop bedeutet aus nichts etwas zu machen.

Wie wird HipHop von anderen Teilen der guatemaltekischen Gesellschaft wahrgenommen?
G.: Vor ein paar Monaten gab es eine Reportage über Breakdance. Darunter schrieben die Leute Kommentare wie: „Das sind Drückeberger, die nichts tun außer Marihuana zu rauchen.“ Oder „Gebt denen kein Geld, die sollen sich eine richtige Arbeit suchen.“ Dazu habe ich eine Erklärung geschrieben, was BBoying ist, und die Nachricht bekam sehr viele Likes. Danach wurden einige Kommentare veröffentlicht, die zugestimmt haben, dass BBoying auch eine Kunstform sein kann.

Im Dokumentarfilm BBoy for life erzählt ihr auch davon, dass es gefährlich ist, BBoy in Guatemala zu sein, weil die Banden nicht wollen, dass ihr tanzt?
G.: Ja, weil sie dich verwechseln. Die Gesellschaft denkt, du gehörst zu einer Bande und die Banden verwechseln dich mit anderen Banden. Z.B. kannst du in Guatemala mit einem bestimmten Modell von schwarzen Adidas-Schuhen nicht einfach überall hingehen, weil eine Bande diese als Zeichen benutzt. Eine andere Bande verwendet die Schuhe Nike Cortez. Deshalb verwechseln sie dich mit einem Bandenmitglied. Sie ziehen sich auch gerne Dickies-Hosen an. Eine Bande benutzt blaue und die andere beigefarbene. Mir gefällt es diese Kleidung zu tragen, aber ich kann damit an bestimmte Punkte der Stadt, wo Banden aktiv sind, nicht gehen. Sie könnten mich verwechseln und tschüss. Ein Schuss und das war’s.
P.: Das passiert vor allem in Guatamala-Stadt.
G.: Nicht so sehr im Landesinneren, und auch nicht im Stadtzentrum, sondern hauptsächlich an den Rändern der Stadt, in den sogenannten „roten Zonen“. Es hat auch einige Fälle gegeben, bei denen Bandenmitglieder nicht wollten, dass du tanzt, weil sie der Meinung waren, dass du ihnen Soldaten wegnimmst.

Ist das immer noch ein Problem?
P.: An manchen Orten ja. Zumindest an manchen Orten kannst du nicht einfach auf der Straße tanzen.
G.: Es gibt Leute, die drohen dir: „Wenn du tanzt, dann bringe ich dich um!“ Es gibt viele Menschen, die so sind.
P.: Aber es gibt auch andere Menschen. Mittlerweile wissen viele, dass an bestimmten Punkten der Stadt getanzt wird, und kommen sogar zum Zuschauen. Es sind wenige Orte, an denen das so ist, aber zumindest ein paar. Die Sicht auf HipHop ändert sich langsam ein bisschen. Vor ungefähr zwei Jahren hat die Regierung auch ein paar Räume geschaffen, in denen Workshops zu BBoying gegeben werden. Es sind sehr kleine Räume, aber immerhin. Auch in Parks werden immer mehr Workshops gegeben. Dort habe ich sogar gesehen, dass eine Mutter ihre Tochter mitbrachte, um den BBoys beim Tanzen zuzuschauen. Ich habe das Gefühl, dass sich etwas entwickelt und dem HipHop eine größere Akzeptanz entgegengebracht wird.

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