Film | Nummer 464 - Februar 2013

Bretter, die die Welt bedeuten

Matías Piñeiros interessantes Filmexperiment untersucht das Verhältnis von Fiktion und Realität, barockem Theater und der heutigen Welt

Thilo F. Papacek

Die beiden Frauen wiederholen immer wieder denselben Text. Sie laufen durch die Wohnung von Cecilia in Buenos Aires und probieren eine Passage aus Shakespeares Was ihr wollt. Cecilia spielt Viola, ihre Kollegin Sabrina die Olivia. In Shakespeares Stück ist Viola als Mann verkleidet und bringt eine Liebesbotschaft an Olivia. Immer eindringlicher spricht Cecilia die Komplimente aus dem barocken Text nach, beginnt Sabrinas Haare zu streicheln. Rigoros beginnt sie immer wieder von vorne, um an die besonders pikanten Stellen zurückzukommen, in denen im Text vom begehrenswerten Haar, den Lippen, dem Hals von Olivia die Rede ist. Kleine Veränderungen schleichen sich ein. Der Text permutiert, andere Texte schleichen sich ein, zum Beispiel Passagen aus Der Kaufmann von Venedig. Die erotische Spannung steigert sich ins Unerträgliche. Endlich vermischen sich der Text aus dem England des 16. Jahrhunderts und die Lebenswelt der beiden jungen Frauen aus dem Argentinien des 21. Jahrhunderts. Sie küssen sich.
Ein scharfer Schnitt führt zu einer anderen Viola, einer Viola aus Buenos Aires. Ein Freund erzählt ihr, wie die Geschichte mit den beiden Schauspielerinnen weitergeht. Sabrina rennt aus dem Haus, denn sie ist vom Gefühl überwältigt, ihren Freund betrogen zu haben, den sie eigentlich kurz vorher verlassen hatte. Genau das wollte Cecilia erreichen… Später zieht Viola – die aus dem 21. Jahrhundert – wieder los, um zu arbeiten. Ihr Job ist es, DVDs, die sie mit ihrem Freund vertreibt, an die Kunden zu liefern. Eine Kundin ist die Schauspielerin Cecilia, bekannt aus der vorherigen Szene. Viola begegnet der Viola aus der Shakespeare-Komödie und ihre Leben werden danach nie wieder so sein wie vorher.
Fiktion und Realität, ihr kompliziertes Verhältnis zueinander und wie sie sich gegenseitig beeinflussen, das sind die Themen im Film Viola von Matías Piñeiro. Der mit 65 Minuten Länge recht kurze – und dadurch auch kurzweilige – Film ist eher ein Experiment. Es untersucht, wieviel ein barockes Theaterstück aus England fast 500 Jahre später, auf der anderen Seite der Erde, noch über das Leben zu sagen hat.
Das Ergebnis: eine ganze Menge. Die komplizierten Liebesaffairen der platensischen Bohème gleichen den Kabalen aus dem barocken Theater wie ein Ei dem anderen. Aber halt! Was ist Effekt, was Ursache? Entdeckt Cecilia vielleicht ihre Freude am Ränkeschmieden vor allem deshalb, weil sie mit ihrer Theatertruppe ein Shakesspeare-mash-up spielt, ein Stück, kombiniert aus vielen Stücken des englischen Meisters? Dies liegt sehr nahe, denn in den verschiedenen Komödien geht es ja auch hoch her, und alle mischen sich in die Liebesdinge der anderen ein.
Nicht anders geht es bei der Cecilia und Viola im Buenos Aires des 21. Jahrhunderts zu. Obwohl sie sich gerade erst kennenlernten, fragt Cecilia die Lieferantin Viola über intime Details ihre Liebesbeziehung aus. Sie scheut sich nicht, Tipps zu geben, um herauszubekommen, wie Violas Freund „wirklich“ fühlt.
Diese Passage des Films wirkt in seiner Konstruiertheit sehr amüsant; aber nicht unglaubwürdig. Vielmehr wird eine weitere Ebene der Fiktion aufgebaut. Es scheint eher, als würden die „echten“ Schauspielerinnen den Charakter ihrer Figuren – Cecilia und Viola und ihren Freund – diskutieren.
Hier liegt dann das wirklich Interessante an dem Spiel mit Realität und Fiktion, Film und Theater, das Matías Piñeiro und sein fabelhaft agierendes Team auf der Berlinale präsentieren. Das Leben als Schauspiel, dieser barocke Topos ist so aktuell wie vor 500 Jahren. Jede Person ist konstruiert, spielt ein Spiel. Die Bretter, die die Welt bedeuten, sind überall, denn alles ist ein Schauspiel. Eine Essenz unserer Person gibt es nicht, hinter jeder Maske ist nur eine weitere Maske. Gut, das mag nicht besonders originell klingen, doch elegant und amüsant wurde es in dem Film Viola doch auf Leinwand gebracht. Dass die Vielfalt der Namen und Rollen und ihre Überschneidungen gelegentlich verwirrt, ist Teil des cineastischen Genusses. Und dadurch, das hier nicht versucht wurde, einen Film in Überlänge zu produzieren, bleibt es auch kurzweilig und wird nicht anstrengend. Wer sich gerne mit Texten und intertextuellen Spielereien beschäftigt, wer offen ist für cineastische Experimente, der_dem sei es empfohlen, sich Viola auf der Berlinale anzusehen. Eine spätere Chance dazu wird sich wohl nicht bieten.

Viola // Regie: Matías Piñeiro // Darstellerinnen: María Villar, Romina Paula, Agustina Muñoz, Elisa Carricajo, Esteban Bigliardi // Argentinien 2012 // 65 min. // Spanisch mit engl. UT // Der Film ist im Forum-Programm der Berlinale 2013 zu sehen.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren