Bücher wie Chop-Suey to go
Einführung in das alternative Verlagswesen Lateinamerikas

In Kolumbien ist es üblich, wenn man sich die Nase putzt, nach einem Kleenex zu fragen – also einem Taschentuch, jedoch einer ganz bestimmten Art oder Marke. Etwas Ähnliches ist mit dem Wort „Buch“ passiert: Die Verlagsindustrie hat einen perfekten linguistischen Taschenspielertrick angewandt, der die Idee verankert hat, die Bedeutung des Wortes „Buch” sei identisch mit den von der Industrie produzierten Formen. Doch dieses vereinheitlichte Verständnis war nicht immer das dominante. Wenn wir ältere Darstellungsformen miteinbeziehen, kann ein Buch auch offener definiert verstanden werden, als ein zusammenhängender Korpus von Ideen, die in verbaler Form festgehalten sind. Auch heute wird eine Debatte darüber, was als Buch gilt und was nicht, vielerorts hitzig geführt.
In Lateinamerika begann der Wunsch, sich von der tyrannischen Strenge der Verlagsindustrie zu befreien, in den Jahren der künstlerischen Avantgarde, die den Kontinent im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts im Sturm eroberte. Als Erben von europäischen Dichtern wie Mallarmé, Apollinaire und in stetigem Kontakt mit dem französischen Surrealismus zersprengten lateinamerikanische Poeten wie Vicente Huidobro und Carlos Oquendo de Amat die strenge Trennung der künstlerischen Disziplinen der Epoche. Schriftsteller*innen sollten nicht mehr gezwungen sein, sich ausschließlich mit Worten zu beschäftigen, sondern zugleich auch bildende Künstler*innen werden können. So schrieb Oquendo de Amat eine Gedichtsammlung mit dem Namen Cinco metros de poemas (1926), dessen Seiten sich wie ein Akkordeon zusammenfalten ließen, während sich Huidobro eine parisianische Galerie vornahm und zwölf Gedichte auf die Wände malte – seine berühmten Poemas pintados (1922).
Verengende Definitionen
Leider produzierten diese avantgardistischen Experimente nicht die ersehnte Revolution: Die auch heute noch anhaltende Prävalenz der Verlagsindustrie und ihrer homogenisierenden Praktiken, zeigen uns, wer der unbestreitbare Gewinner des damaligen Wettbewerbs war. Die Suche nach Veränderung der Verlagspraktiken Lateinamerikas ist schon lange vorhanden, blieb jedoch eine untergründige, eher marginale Strömung, die nur gelegentlich aus der Versenkung auftaucht, um dann wieder aus dem Blickwinkel zu verschwinden.
Wer näher hinschaut, findet dennoch viele kleine Beispiele selbstorganisierter, alternativer Veröffentlichungen: So erarbeiteten sich in Brasilien die Brüder Campos und Décio Pignatari in mühevoller Kleinarbeit die Grundlagen einer Kunstform, die sie „konkrete Poesie” nannten. Obwohl die materielle Gestalt des Buches als Gegenstand nicht im Fokus ihrer Interessen stand, führte ihr Wunsch, den grafischen Charakter von Schriften und Wörtern zu nutzen, nicht nur dazu, sich kommunikativen Formen zu nähern, die bisher nicht zur Buchwelt gehörten – wie etwa die Werbegrafik –, sondern auch dazu, die traditionelle Ordnung des Lesens einer Seite aufzuheben. Das klassische Lesen lateinischer Schrift von links nach rechts und von oben nach unten schafften sie ab, alle Richtungen standen dem Auge offen.
Rebellion gegen die Verlagsindustrie
Eine größere Rebellion gegen das Buch in seinem industrialisierten Sinne, formierte sich in Lateinamerika erst wieder in den 70er Jahren, als der damals recht traditionelle, mexikanische Schriftsteller Ulises Carrión sein Land verließ und beschloss, eine umfassende Kampagne gegen die Institutionen zu führen, die seine künstlerische Freiheit einschränkten. In Amsterdam lebend erkannte Carrión die Bedeutung der Komposition des Buchobjekts, um ein Kunstwerk zu schaffen, das Integrität besitzt und komplett ist – „das Medium ist die Botschaft” würde der kanadische Philosoph Marshall McLuhan sagen. Der Autor begann, das Buch nicht nur als leeres Objekt, welches seine Bedeutung aus dem darin abgedruckten Inhalt zieht, zu betrachten. Die künstlerische Gestaltung weitete sich für ihn auch auf die konkrete Darstellungsform des Geschriebenen aus. Carrión hinterließ mit diesen Gedanken in seinem Werk El nuevo arte de hacer libros (1975) ein Manifest, das zur Pflichtlektüre für selbstständige Verleger*innen im gegenwärtigen Lateinamerika geworden ist.
Eines der führenden Länder in der Bewegung des unabhängigen und alternativen Verlagswesens ist heutzutage Argentinien, wo beispielsweise die weltweit bekannten Cartonera Verlage ihren Ursprung haben. Mit der Absicht, Bücher für die marginalisierten Klassen zu verlegen, gründeten Washington Cucurto und Javier Barilaro 2003 den heute legendären Verlag Eloisa Cartonera. Ihre Veröffentlichungen zeichnen sich durch ihre kostengünstige und trotzdem sorgfältige Herstellung aus. Anstatt harter oder kartonierter Einbände nutzen sie handbemalte Pappeinbände, statt Druckpapier Fotokopien. Aus dem gleichen Land stammen auch Projekte wie der Barba de Abejas Verlag, sowie Künstler*innen wie Cristian Forte, dessen Projekt des handwerklichen Verlegens in Berlin angesiedelt ist.
Bücher für marginalisierte Klassen
In anderen Ländern des Kontinents sind die Bücher der mexikanischen Autorin und plastischen Künstlerin Verónica Gerber Bicecci, des chilenischen Yanko González und der brasilianischen Veronica Stigger Teil der Bewegung. Zu guter Letzt gibt es aktuell auch in Kolumbien eine lebendige alternative, handwerkliche Verlagsszene mit Projekten wie Tragaluz editores, La jaula editores und Cajón de sastre und mit Schriftsteller*innen wie María Paz Guerrero, Juan Afanador und der Dichterin Andrea Cote, deren Gedichtsammlung Chinatown a toda hora (2020) die ungewöhnliche Form einer Chop-Suey-Box hat. Obwohl niemand die zukünftigen Entwicklungswege dieser „neuen Kunst der Buchgestaltung“ festlegen kann, ist doch deutlich, dass sich die ehemalige Grenze zwischen den verschiedenen Kunstformen sowie unsere Vorstellungen von den Trägermaterialien der Literatur derzeit in einem Veränderungsprozess befinden, der niedrigschwellige Zugänglichkeit und Kreativität in den Fokus setzt.