Literatur | Nummer 281 - November 1997

Calibans Töchter -basisnah und praxisorientiert

Ein neuer Sammelband vermittelt einen Eindruck von der Vielfalt karibischer Frauenwelten

Caliban, der urwüchsige Rebell aus Shakespeares Sturm, gilt in der Karibik seit den 60er Jahren als Symbolfigur für die kolonialisierte Mischbevölkerung, die sich mit den vielfältigsten Spielarten der Fremdbestimmung auseinanderzusetzen hat. Daughter’s of Caliban lautet auch der Titel einer bemerkenswerten Aufsatzsammlung, in der karibische Akademikerinnen ein breites Spektrum frauenspezifischer Themen aus den diversen Sprach-und Kulturräumen behandeln: von Guadeloupe und Haiti über die englischsprachigen Inseln, Kuba, die Dominikanische Republik und Puerto Rico bis hin zur US-Diaspora.

Gerhard Dilger

„Obwohl ,Caliban9 weitgehend als männliches Konstrukt gilt, greifen wir das Erbe seines Kampfes auf (…)” schreibt die Herausgeberin Consuelo L6pez in ihrer Einleitung und schlägt so gleich den Tenor des Buches an: Selbstbewußt und undogmatisch nehmen die Autorinnen Positionsbestimmungen vor, die immer von der konkreten Wirklichkeit karibi-scher Frauen ausgehen. Allzuoft, so beklagt Lizabeth Paravisini-Gebert, gingen nordamerikanische und europäische Feministinnen zu theorielastig und ethnozentrisch an die Karibik heran, was zu Interpretationen führe, die an der Sache vorbeigingen -etwa zur Behauptung, die Frauenbewegungen in der Region seien rückständig. Insbesondere die enge Verknüpfung der Frauenfrage in der Karibik mit sozialer Schicht, Hautfarbe, Armut und politischer Repression könne mit postmodernen Kategorien nicht aus-reichend erfaßt werden.
Die Protagonistinnen von Jean Rhys’ Romanen beispielsweise würden je nach Herkunft der Kritikerinnen vorwiegend als Opfer patriarchaler Unterdrückung gesehen beziehungsweise als Heldinnen, die nicht nur sich selbst, sondern auch die koloniale Ordnung der Plantagengesellschaft zertrümmerten. Weibliche Stimmen prägen die karibischen Literaturen der Gegenwart ungleich stärker, als dies in den meisten lateinamerikanischen Ländern der Fall ist. Schade, daß dem nicht in einem eigenen Beitrag nach-gegangen wurde.
Nur zwei Kapitel widmen sich kulturellen Phänomenen im engeren Sinn: Frances Aparicio schreibt über Salsa, vor allem über die „Dekonstruktion” machohafter Salsalyrik in einer puertorikanischen Kurzgeschichte. In „Cuatro selecciones para una peseta” ironisieren Ana Lydia Vega und Carmen Lugo Filippi genial das Machogetue von vier männlichen Salsa- hörern, und an konkreten Textbeispielen weist Aparicio nach, wie sehr in Salsaliedern „die Macht von Männern verstärkt (wird), ihrem Blick und Be-gehren gemäß Frauen zu konstruieren.” Ihr hoch-gestecktes Ziel ist es, eine Hörkultur zu fördern, in der Frauen „ein Bewußtsein darüber erlangen, wie sehr die Diskurse der Liebe, des Begehrens und des Vergnügens von der patriarchalischen Gesellschaft geschaffene soziale Konstrukte sind”, um diese Mechanismen schließlich in ihrem eigenen Leben zu „dekonstruieren”. Dafür sieht sie Ansätze im Hör- verhalten von Latinas aus der Unterschicht, die sie in den USA befragt hat.

Salsa und Miß-Wahlen: Machismo pur?
Natasha Barnes zeichnet die Geschichte der Miß- Wahlen auf Jamaica und Trinidad als Gradmesser ethnischer und nationaler Identitätsstiftung nach. Es ist kein Zufall, daß in den bewegten fünfziger Jahren, der Zeit also vor der Erlangung der politischen Unabhängigkeit von Großbritannien, am meisten Bewegung in die Rituale dieser in der ganzen Region äußerst beliebten Veranstaltungen kam. Für die „weiße Elite (…)war die Kontrolle über die Schönheitswettbewerbe der letzte Versuch, eurozentrische soziale und kulturelle Werte zu erhalten.” Dennoch organisierte bereits 1955 eine Zeitung den Ten Types, One People”-Wettbewerb, in dem Siegerinnen in zehn verschiedenen Hautschattierungen (von „Miß Ebenholz” bis „Miß Apfelblüte”) gekürt wurden. 1986 verursachte die Wahl einer weißen Miß jamaica einen mittleren Aufruhr -ein Zeichen dafür, wie sehr sich viele jamaicanerlnnen immer noch aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert fühlen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Rolle von Kandidatinnen chinesischer Abstammung-aufgrund ihrer sozialen Position von vielen Schwarzen in die Nähe der Weißen gerückt -so-wie die Tatsache, daß an keiner Stelle der sexistische Charakter von MißWahlen thematisiert wird. Ähnlich wie in bezug auf Salsa in den spanischsprachigen Ländern gibt es hier eine breite positive Grundhaltung quer durch alle Gesellschaftsschichten, die auch von kritischen Köpfen kaum hinterfragt wird.
Anhand der Antillen-insel Guadeloupe, politisch immer noch ein Teil Frankreichs, zeigt Cynthia Mesh den engen Zusam-menhang zwischen kreolischer Sprache und sozialer Praxis am Beispiel der bekannten Soziologin und Linguistin Dany Bebel-Gisler auf. Deren zentrale These lautet, daß die Anerkennung des (Französisch-) Kreolischen als offizielle Sprache eine unabdingbare Voraussetzung für jede emanzipatorische Politik sei. Folgerichtig gründete sie eine experimentelle Schule, wo jenen, die im französischsprachigen Schulsystem scheitern, auf kreolisch Basisfertigkeiten vermittelt werden. In ihrem Dokumentarroman Leonora Iäßt sie eine siebzigjährige Bäuerin zu Wort kommen.
Rechts-und gesundheitspolitische Themen bilden weitere Schwerpunkte des Bandes. Die Rechts- Systeme in jamaica und Kuba etwa gehen immer noch stark vom Ideal der Kleinfamilie als kleinster Zelle der Gesellschaft aus. Besonders in jamaica erweist sich dieses als reine Oberschichtsideologie, die nichts mit den Realitäten der Bevölkerungsmehrheit zu tun hat. Auf Kuba wird das Ideal der Kleinfamilie seit den siebziger Jahren als Inbegriff der Modernität propagiert. Allerdings hat die Mangelwirtschaft der letzten Jahre traditionellere Netzwerke wie die Großfamilie wieder stärker aktiviert. Auch die Rolle der Frau ist dem Wandel unterworfen: So steht zu er-warten, daß vor allem Frauen von den strukturell absehbaren Massenentlassungen betroffen sein wer-den, während die neuen Selbständigen vor allem Männer sind. Wirtschaftsplaner Carlos Lage tat die allgegenwärtige Prostitution mit der Bemerkung ab, sie sei der „soziale Preis, den wir für die Entwicklung zahlen.” Carollee Bengelsdorff befürchtet, daß sich derartige „traditionelleu Tendenzen fortsetzen werden, zumal auch der Sozialismus nichts Grund-legendes an der Dominanz der Männer im öffentlichen Leben geändert habe.
Segnungen der Strukturanpassung
Westliche Medizin stößt besonders schnell an ihre Grenzen, wenn -wie in Haiti und jamaica-afro-karibische Heiltraditionen lebendig sind, die oft von Frauen weiterentwickelt werden. Aus dem hohen Auftreten von Herzinfarkt und Diabetes als Todesursache wird häufig steigender Wohlstand abgeleitet -zu Unrecht, wie eine genauere Analyse ein-schlägiger Statistiken zeigt, in denen die englischsprachige Karibik weit vor den USA liegt. Vielmehr macht Caroline Allen veränderte soziale Normen wie Eßgewohnheiten hierfür verantwortlich, die sie aus dem von IWF und Weltbank aufgedrückten Strukturanpassungsmodellherleitet: Mit der forcierten Exportorientierung geht die Produktion von Lebens-mitteln für den Binnenmarkt zurück; stattdessen ernährt man sich vorwiegend von importierten Konserven aller Art, die meist billiger sind als einheimische Produkte. Andererseits haben Kürzungen im Gesundheits-und Erziehungssektor zur Folge, daß in den Staaten der Karibischen Gemeinschaft (CA- RICOM) mit Unterentwicklung assoziierte Infektions-und Parasitenkrankheiten wieder auf dem Vormarsch sind.
Der zentrale Abschnitt zu „Frauen und Arbeit” umfaßt vier Kapitel, von denen hier nur dasjenige von Carla Freeman herausgegriffen sei. Sie beschreibt, wie Frauen aus Barbados sich in den veränderten Arbeitswelten der neunziger Jahre zurechtfinden. Der letzte Dreh der (gar nicht mehr so) neuen internationalen Arbeitsteilung sind auf Barbados Daten- verarbeitungsbüros, in denen Tausende von Frauen -für einen Stundenlohn von maximal drei US-Dollar -Korrespondenz über Herstellergarantien und Versicherungen oder Anträge auf Kreditkarten für nordamerikanische Firmen erledigen. Da das Ein-kommen aus diesen „Bürofabrikenn in aller Regel zum Leben nicht reicht, verdienen diese Angestellten im informellen Sektor dazu, sei es durch Dienstleistungen wie Zöpfchenflechten oder den Verkauf von importierter Schmuggelware oder selbstgenähter Kleidung. Darüberhinaus fällt oft in beträchtlichem Umfang Hausarbeit an. Doch diese Frauen sind nicht unbedingt nur passive Opfer der Globalisierung: Freeman schildert, wie die abenteuerlustigen „Kofferhändlerinnen” -zum Teil gefördert durch ihre Informatikarbeitgeber -Billigflüge nach Caracas, Miami oder New York nutzen, um dort eigene Produkte zu ver-kaufen und fremde einzukaufen. Das macht ihnen Spaß, und sie nutzen diese Gelegenheiten auch, um sich selbst nach den letzten internationalen Modetrends einzukleiden. Sie stehen damit in der urkaribischen ,,Tradition weiblichen Unternehmertums und kreativer Strategien, um sich den Lebensunterhalt
zu verdienen.”
All dies ändert jedoch nichts an der hemmungslosen Ausbeutung von Frauen im Gefolge der Strukturanpassung, über die -für die CARICOM-Staaten -Mary Johnson Osirim einen guten Überblick gibt. Daß die Regierungen der karibischen Kleinstaaten willens und in der Lage wären, dem etwas entgegenzusetzen, ist unwahrscheinlich. Bleibt die Hoffnung auf gelungene Basisinitiativen wie die Theatergruppe Sistren aus Jamaika, die aus einem Projekt mit arbeitslosen Frauen hervorging.
Allen Frauen und Männern, die dieses -und vieles mehr -genauer nachlesen wollen, sei „Daughters of Caliban” aufs Wärmste ans Herz gelegt.

Gerhard Dilger

Consuelo Lopez Springfield (Hrsg.): Daughters of Caliban
-Caribbean Women in the Twentieth Century, lndiana University Press (Bloomington and Indiana)/Latin Ameri- can Bureau (London) 1997, 3 16+XXI S. Bezug über die LN zum Preis von 36,-DM.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren