Brasilien | Nummer 295 - Januar 1999

Cardoso und IWF präsentieren die Rechnung

Abhängigkeit – von der Theorie zur Praxis

Ein Witz zirkuliert an der Wall Street: „Was ist der Unterschied zwischen Rußland und Brasilien? – Drei Monate“. Ein Kreditpaket des Internationalen Währungsfonds soll verhindern, daß nun auch Brasilien kippt.

Andreas Missbach

Die Rußlandkrise überraschte die brasilianische Regierung mitten im Wahlkampf. Ausländische und inländische Kapitalbesitzer bekamen Angst um die Sicherheit ihrer Anlagen. Die Börsen von Sao Paulo und Rio klappten zusammen, allein in den Monaten August und September verließen 30 Milliarden Dollar das Land. Auf dem Höhepunkt der Panik betrug der Nettokapitalabfluß eine Milliarde Dollar pro Tag. Cardoso, der um seine Wiederwahl bangte, ging in die Offensive und beklagte, Brasilien sei ein unschuldiges Opfer der Börsenpanik und der globalen Finanzkrise. Willkommene Unterstützung erhielt er dabei aus den USA. Die betitelte einen Leitartikel mit „Brazil as a victim“, und der zweite Mann der Weltbank, Joseph Stiglitz, meinte gar, das Problem sei nicht Brasilien, sondern das kapitalistische System. Hinter den Kulissen bastelten Regierung und Internationaler Währungsfonds (IWF) hektisch an einem Rettungspaket. Allen Beteiligten war klar, daß viel auf dem Spiel stand, so sagte der brasilianische Ökonom Edmar Bacha: „Wenn der Dominostein Brasilien nicht kippt, kann die Krise gestoppt und die Gefahr einer Wiederholung der Weltwirtschaftskrise von 1929 gebannt werden.“
Der IWF und die brasilianische Regierung waren sich einig, daß die ausländischen Investoren vor allem vom doppelten Defizit in der Zahlungsbilanz und im Staatsbudget verunsichert seien. Das Außendefizit (Zahlungsbilanz) wurde als eine Folge der fehlenden Ausgabendisziplin und der defizitären Rentenversicherung dargestellt: Ein zunehmender Kapitalfluß aus dem Ausland sei notwendig, um die Löcher im Budget zu stopfen. Auf die Grundzüge der Rettungsaktion einigten sich die Verhandlungsparteien deshalb schnell. Brasilien sollte sein Budgetdefizit durch Steuererhöhungen und Ausgabenstopp beseitigen. Zusammen mit der massiven Finanzspritze des IWF sollte so das wiederhergestellt werden; ein kleines Stottern im Wirtschaftsmotor, nichts weiter.
Die Krisenhilfe des IWF soll im Unterschied zu Mexiko oder Südostasien dem Kollaps zuvorkommen. Brasilien erhielt Zusagen für 41,6 Milliarden Dollar: 18 Milliarden kommen direkt vom IWF, der Rest soll von der Weltbank, der Interamerikanischen Entwicklungsbank und den Regierungen der Industrieländer aufgebracht werden. Geschäftsbanken mußten nicht in die Kasse greifen, anders als es Deutschland gefordert hatte.
Die USA legten ihr Gewicht zugunsten der Rettungsaktion in die Waagschale: US-Geschäftsbanken haben in Brasilien viermal mehr zu verlieren als seinerzeit in Rußland.
Cardoso wartete den Ausgang des zweiten Wahlgangs der Gouverneurswahlen ab, bevor er die Details des brasilianischen Teils des Abkommens bekannt gab. Höhere Steuern und Sozialversicherungsbeiträge sollen mehr Geld in die Kasse bringen. Etwas mehr als acht Milliarden Dollar will die Regierung bei den Ausgaben sparen. Die Bundesstaaten und Gemeinden dürften ebenfalls in die Sparübung einbezogen werden. Das Staatsbudget soll so für die kommenden Jahre vor Bezahlung der Zinsen einen Überschuß aufweisen. 2,6 Prozent des Bruttoinlandproduktes bereits im kommenden Jahr, bis 2001 soll der Überschuß drei Prozent erreichen.

Alles falsch, sagt die Opposition

Ein großer Teil der brasilianischen ÖkonomInnen, und alle die der Opposition nahe stehen, sehen allerdings ganz andere Gründe für die Schwierigkeiten Brasiliens. Seit den Anfängen der Währungsreform (Real-Plan) vor vier Jahren warnen sie vor den Folgen. Brasilien sei nicht das unschuldige Opfer, sondern die Regierung Cardoso habe sich durch ihre Wirtschaftspolitik selbst in die Sackgasse manövriert. Die Börsenpanik sei nur der Reflex der gefährlichen Ungleichgewichte in der „Real“-Wirtschaft.

Real mit Geburtsfehler

Das Rezept zur Stabilisierung der neuen Währung hatte zwei wichtige Pfeiler: Die Bindung an den Dollar als Stabilitätsanker und die schnelle Öffnung der abgeschotteten Wirtschaft. Durch die Konkurrenz aus dem Ausland sollten die brasilianischen Unternehmen daran gehindert werden, ihre Preise bei jedem kleinen Kostenschub zu erhöhen und so die Inflationsspirale erneut anzustoßen. Als Tribut an den Ultraliberalismus wurde auch gleich noch der Kapitalverkehr weitgehend liberalisiert.
Der Real hatte jedoch einen folgenschweren Geburtsfehler: Er war von Beginn an überbewertet, das heißt, Importe wurden billiger. Weil gleichzeitig die Zollschranken wegfielen, überschwemmte eine Importwelle das Land. Die Einfuhren stiegen von 25 Milliarden Dollar 1993 auf 62 Milliarden im letzten Jahr. Das Agrarland Brasilien begann sogar Nahrungsmittel einzuführen: Während die brasilianische Landwirtschaft am Boden lag, importierte das Land durch den Wechselkurs verbilligten Reis aus Asien. Brasilianische Produkte wurden dagegen im Ausland schlagartig teurer, die Handelsbilanz (Exporte-Importe) wurde tiefrot. Die zweite Außenbilanz, diejenige der Dienstleistungen, die vor allem den Schuldendienst, Gewinnüberweisungen ausländischer Konzerne und die Ausgaben brasilianischer TouristInnen im Ausland umfaßt, ist traditionellerweise negativ. Beide Defizite zusammen betrugen in den letzten 12 Monaten 34,5 Milliarden Dollar, 1994 beliefen sie sich lediglich auf 1,6 Milliarden. Die Folgen der negativen Außenrechnung kommentierte einer der Direktoren der Zentralbank gegenüber der Zeitung lakonisch: „Die Stabilisierungsstrategie, die wir gewählt haben, beinhaltet, daß das Land stärker vom internationalen Finanzmarkt abhängig wird.“ Der Realplan erforderte also, daß kontinuierlich ausländisches Kapital in Form von Direktinvestitionen, langfristigen Krediten oder kurzfristigem Spekulationskapital ins Land strömte. Lange Zeit schien das auch gutzugehen, es kam sogar soviel Kapital, daß nicht nur die Löcher in der laufenden Außenrechnung gestopft werden konnten, sondern auch große Devisenreserven angehäuft wurden. Diese Reserven zeigten die Richtigkeit der gewählten Strategie, antwortete die Regierung ihren KritikerInnen. Der Geldsegen hatte jedoch auch seine Schattenseiten. Um zu verhindern, daß sich die brasilianische Geldmenge durch die hereinströmenden Dollars vergrößerte – was nach monetaristischer Lehre Inflationsgefahr bedeutet – „sterilisierte“ die Zentralbank einen Teil des Kapitals, indem sie Schuldtitel ausgab und so die Geldmenge im Inland wieder verkleinerte. Die interne Verschuldung versechsfachte sich in vier Jahren auf 360 Milliarden Dollar. Der Zinssatz in Brasilien mußte die ganze Zeit hochgehalten werden, um dem Kapital auch den nötigen Anreiz zum Strömen zu bieten. Brasilien häufte also auf der einen Seite Devisenreserven an, die zu einem internationalen Satz verzinst wurden, bezahlte auf der anderen Seite auf seine Schuldtitel die wesentlich höheren brasilianischen Zinsen – und voilà, da haben wir es wieder, das Budgetdefizit. Nicht gierige Staatsbeamten, wucherndes Gesundheitswesen oder die sich fieserweise ständig vermehrenden Schüler, sind dafür verantwortlich, sondern vor allem die steigenden Zinsen auf einer wachsenden Inlandsschuld.
Spätestens seit der Asienkrise ist Brasilien in einer Schuldenspirale gefangen. Die Zinszahlungen vergrößern das Budgetdefizit, das mit neuen Schulden gedeckt wird, die noch mehr Zinszahlungen nach sich ziehen, die das Budgetdefizit … Im Verlauf der Rußlandkrise mußten die Zinsen auf ein Niveau angehoben werden, das nur noch als ökonomisches Harakiri auf Raten bezeichnet werden kann: Bei einem Maximalzins von 49,5 Prozent liegen die Zinsen de facto zwischen 40 und 45 Prozent pro Jahr. Anders allerdings hätte das Auslandskapital nicht bei der Stange gehalten werden können und der Real hätte die Wahlen von Anfang Oktober nicht mehr erlebt.

Wer zu spät kommt, den …

Eine überbewertete Währung, die Export- und Binnenwirtschaft ruiniert, und unmöglich hohe Zinsen – gegen diese beiden Übel forderten oppositionelle ÖkonomInnen lange vor den internationalen Finanzturbulenzen eine Abwertung der Währung und Zinssenkungen. Die anspringende Konjunktur hätte die Steuereinnahmen vergrößert und zusammen mit den geringereren Kapitalkosten geholfen, ein ausgeglicheneres Budget zu erreichen.
Mittlerweile ist diese Strategie jedoch extrem riskant geworden. Die Märkte sind in Aufregung, die SpekulantInnen hysterisch und das kleinste Anzeichen einer kommenden Abwertung – die den Wert von Kapital, das in brasilianischer Währung fakturiert ist, mindert – könnte eine Massenflucht auslösen, die nicht mehr zu stoppen wäre, bis die Zentralbank keinen Dollar mehr in der Kasse hat.
Das Regierungsprogramm setzt dagegen auf Biegen und Brechen weiter auf das Auslandskapital. Die Einsparungen und Steuererhöhungen verschärfen zwar die Rezession, bringen aber nicht die Dollars in die Kasse, die notwendig sind, um das Außendefizit zu decken. Das Sparprogramm ist vor allem ein Zeichen an das internationale Kapital, daß Brasiliens Regierung gewillt ist, der Bevölkerung Opfer zuzumuten, um die Gläubiger zufriedenzustellen. Die Regierung hofft, daß diese Maßnahmen zusammen mit dem IWF-Kredit dem internationalen Finanzmarkt Vertrauen einflößen und die Zinsen deshalb gesenkt werden können.
Die brasilianische Bevölkerung wird unter Cardosos Blut-, Schweiß- und Tränen-Paket zu leiden haben. Zinsen, rückläufige Staatsausgaben und fehlende Nachfrage durch die gestiegene Steuerbelastung werden die Rezession verschärfen. Schon jetzt stehen bei Brasiliens Autobauern 200 000 Wagen herum, die keine KäuferInnen finden, VW do Brasil hat seiner Belegschaft Zwangsferien verordnet. Die Arbeitslosigkeit derjenigen ArbeiterInnen, die im formellen Sektor der Wirtschaft beschäftigtwaren, hat den höchsten Stand seit Beginn dieser Statistik im Jahre 1982 erreicht. Offiziell sind es 7,6 Prozent, ein gewerkschaftsnahes Forschungsinstitut geht allerdings davon aus, daß die Arbeitslosigkeit in den Großtädten zwischen 15 und 20 Prozent beträgt.

„Vertrauen ist gut, Zinsen sind besser“

Ob die Regierungsstrategie aufgeht, ist zudem alles andere als sicher. Ohne eine Veränderung des Außendefizits bleibt Brasilien abhängig vom Ausland. Das Defizit ist allein im August und September noch einmal um zwei Milliarden Dollar gewachsen, hauptsächlich wegen Gewinn- und Dividendenüberweisungen der Multis. Dreißig Milliarden Dollar hat das Land in nur zwei Monaten verloren. Allein bis Ende des Jahres werden unabhängig vom Kapitalabfluß Auslandsverbindlichkeiten im Umfang von 20 Milliarden Dollar fällig, weitere achtzig Milliarden sind es nächstes Jahr. Die Privatisierungen, die in den letzten vier Jahren 72 Milliarden Dollar einbrachten, können nicht endlos weitergehen: maximal 40 Milliarden kann der verbliebene Staatsbesitz noch einbringen.
So zeichnet sich ein mögliches Horroszenario für die kommenden Monate ab: Sagt sich das Auslandskapital „Vertrauen ist gut, Zinsen sind besser“, dann können die Zinsen nicht wie gewünscht gesenkt werden. Die gegenwärtige Rezession würde sich zu einer Wirtschaftskrise auswachsen, wodurch Steuereinnahmen wegbrechen und die geplante Sanierung des Staatshaushaltes scheitert. Wird offensichtlich, daß Brasilien keinen Budgetüberschuß erreicht, dann dürften Kapitalflucht und Spekulation gegen den Real erst recht wieder losgehen. Die unkontrollierte Abwertung wäre nicht mehr zu vermeiden, die Ansteckung anderer lateinamerikanischer Länder auch nicht, ein weiterer Schritt Richtung Weltwirtschaftskrise. Und dann bliebe Brasilien vermutlich nichts anderes mehr übrig, als die brasilianische Währung noch fester an den Dollar zu binden. Das Land müßte auf eine eigene Geld- und Wechselkurspolitik verzichten und die Löhne absolut flexibel gestalten.
Als Soziologe ist Fernando Henrique Cardoso mit der Theorie der Abhängigkeit (dependencia) bekannt geworden, als Präsident holt er die Praxis nach.

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