Nummer 310 - April 2000 | Venezuela

Chávez bläst zur finalen Schlacht

Für den Präsidenten könnte es bei der Wahl noch eng werden

Während Präsident Hugo Chávez bei der Bevölkerung nach wie vor hohes Ansehen genießt, bröckelt es allmählich in seinem direkten Umfeld. Drei seiner engsten Mitarbeiter haben ihm Mitte März den Rücken gekehrt, wovon einer bei den Präsidentschaftswahlen am 28. Mai gegen ihn kandidieren wird. Dazu bläst ihm auch international der Wind ins Gesicht: sein revolutionärer Diskurs kommt bei ausländischen Geldgebern gar nicht gut an.

Sebastian Sedlmayer

Am 28. Mai wählt das venezolanische Elektorat einen neuen Präsidenten. Bei den vorgezogenen Neuwahlen wird es für Amtsinhaber Hugo Chávez schwieriger als im Dezember 1998, über die Gegenkandidaten zu triumphieren. Vor zwei Jahren konnte der 45jährige noch einen radikalen Neuanfang in dem von Korruption und Armut gezeichneten Land versprechen. Nun ist Chávez selbst seit 15 Monaten Chef im Präsidentenpalast von Miraflores. Er hat eine neue Verfassung durchgesetzt, die er selbst als „revolutionär“ bezeichnet. Doch besonders in der wirtschaftlichen und politischen Oberschicht Venezuelas mehrt sich der Widerstand gegen den als despotisch verschrienen Ex-Militär.
Drei Offiziere hatten Chávez 1992 bei seinem ersten Sturm auf den Präsidentenpalast, einem gescheiterten Putschversuch, unterstützt und dem ehemaligen Fallschirmjäger auch während seiner ersten Monate als demokratisch legitimierter Staats- und Regierungschef den Rücken gegen die machthungrige Führungselite der Fuerzas Armadas (Bewaffnete Streitkräfte) freigehalten. Doch Mitte März sagten sich alle drei von ihrem politischen Ziehpferd los. Sie gaben an, sich von der Politik Chávez’ betrogen zu fühlen, der einzig den Ausbau seiner eigenen Macht vor Augen habe. Einer der Ex-Putschisten, Francisco Arias Cardenas, trug sich gar in die Liste der Präsidentschaftskandidaten ein.
Arias stellte bei seiner Registrierung als Kandidat fest: „Eine Revolution kann sich nicht auf einen einzigen Mann stützen, der die verschiedenen Machtstrukturen dominiert. So werden wir keine Demokratie haben.“ Nachdem er innerhalb weniger Tage nach seiner Ankündigung, gegen Chávez antreten zu wollen, bereits den Umfragewert von 20 Prozent erreicht hat, wird Arias nun als einziger ernstzunehmender Herausforderer des populistischen Präsidenten gehandelt. Zwei Splitterparteien des Parteienbündnisses, das Chávez 1998 zur Macht verholfen hatte, scharen sich um Arias: die kommunistische Causa R und der ehemals Chávez beistehende Polo Patriótico (PPT). Ihr Wunschkandidat ist momentan Gouverneur des ölreichen Bundesstaates Zulia, dem nach Caracas bevölkerungsreichsten Teil Venezuelas.
Der Grund für die neuerlichen harschen Angriffe auf Chávez aus seinen eigenen Reihen sind die anstehenden Neuwahlen. Im Dezember vergangenen Jahres verabschiedeten die wahlberechtigten VenezolanerInnen mit deutlicher Mehrheit eine neue Verfassung für ihr Land. Diese sieht Neuwahlen für alle (über 6.000) Regierungsämter des Staates vor, einschließlich für das Amt des Präsidenten. Die zentralen Änderungen gegenüber der Verfassung von 1961 liegen in der Abschaffung der zweiten Kammer des Paralaments und der Stärkung des Präsidenten, dessen Macht bis hin zur Auflösung des Parlaments erweitert wurde. Offensichtlich steigert die Aussicht auf ein recht ungehindertes Schalten und Walten für sechs Jahre den Wunsch in den Reihen der Militärs, einen guten Verbündeten wie Arias auf dem Präsidentschaftssessel zu sehen. Chávez zu kontrollieren erwies sich für die Miltärs in den letzten Monaten als schwierig.
Viel Neues gegenüber Chávez hat Arias nicht zu bieten. Er beschränkt sich darauf, die Wirtschaft wieder stärker in den Entscheidungsprozess einbeziehen zu wollen, um mehr Investoren ins Land zu locken, „den aggressiven Ton“ des Hugo Chávez zu unterlassen und – hervorstechendster Punkt in Arias’ Ankündigungen – die „demokratische Revolution“ wie gehabt aber ohne Chávez weiterführen zu wollen.
Trotz der wenigen markanten Unterschiede zwischen den beiden Favoriten sehen Anhänger Arias’, wie zum Beispiel Andrés Velásquez von der Causa R, die Gefahr eines Bürgerkriegs, sollte Chávez weiter Macht anhäufen. Hintergrund sind Spannungen in verschiedenen Blöcken des Militärs, die Chávez und Arias repräsentieren. Wer sich nicht den Vorgaben Chávez’ bei der Erstellung des neuen Verfassungstextes unterwerfen wollte, den bestrafte der „Commandante“ mit teils empfindlichen Demütigungen oder Entlassung.
Zwei weitere Kandidaten treten am 28. Mai für das Amt des Präsidenten an: Claudio Fermín und der wenig bekannte Alberto Solano. Während die Medien Solano als chancenlose Kuriosität beäugen und sich über den „Mann der sich drei Stunden vor Schließung der Listen einschrieb, als keine Journalisten mehr anwesend waren“ (El Universal) lustig machen, ordnet man Fermín eher der alten politischen Elite zu. Diese hatte Venezuela bis zur Wahl Hugo Chávez’ 40 Jahre lang in einen Sumpf aus Korruption und Misswirtschaft gezogen, was das Wahlvolk so schnell nicht verzeihen wird. Fermíns Aussichten, den Chavismo wieder rückgängig zu machen, dürften daher äußerst gering sein.

70 Prozent für Hugo Chávez

Mitte März lagen die Umfrageergebnisse bei 70 Prozent für Hugo Chávez. Der Mann mit dem roten Barett auf dem Kopf als Markenzeichen versteht es offenbar, die Massen, trotz einer Rezession von sieben Prozent im letzten Jahr und katastrophaler wirtschaftlicher Prognosen, für sich zu gewinnen. In Ansprachen setzte er mit einer von Metaphern überschäumenden Sprache, dem markigen Ton und der populistischen Zuversicht in den letzten Wochen auf Durchhalteparolen. Die Wahlen Ende Mai seien die „finale Schlacht des revolutionären Projekts“, tönte der bekennende Duzfreund Fidel Castros.
Vorangegangene „Schlachten“ waren sein Wahlsieg und die neue Verfassung, mit der Venezuela den Namen gewechselt hat: República Bolivariana de Venezuela (Bolivarianische Republik Venezuela) taufte die von Chávez in großen Teilen beeinflusste Verfassunggebende Versammlung den „neuen Staat“ im Gedenken an den venezolanischen Volkshelden Simón Bolivar, der vor rund 170 Jahren die nördlichen Länder Südamerikas durch seinen Kampf in die Unabhängigkeit führte.
Doch die Namensänderung ist freilich der geringste Stein des Anstoßes, den die neue Verfassung birgt. Die Kritik kommt aus allen Teilen des öffentlichen Lebens und betrifft eine Reihe von Änderungen. Zentrales Angriffsfeld ist die Ausweitung der Macht des Präsidenten. Dessen Position wird gestärkt durch die neue Rolle des Vizepräsidenten. Dieser wird vom Staats- und Regierungschef eingesetzt, also nicht demokratisch gewählt, und koordiniert die Arbeit der Exekutive mit der Legislative und den übrigen administrativen Organen. Er unterliegt zwar der Bestätigung durch das Parlament, lehnt dieses den Vorschlag des Präsidenten allerdings dreimal ab, kann der Präsident das Parlament auflösen und Neuwahlen veranlassen.
Die Macht der Volksvertreter in der Asamblea Nacional wird noch gröber beschnitten. Statt zwei Kammern (Senat und Abgeordnetenhaus) gibt es künftig nur noch eine Kammer. Damit reduziert sich die Zahl der Abgeordneten, die darüber hinaus ihre Immunität verlieren. Besonders im Ressort Verteidigung werden ehemalige Kompetenzen des Parlaments auf die Exekutive übertragen. Die Einschnitte bei der demokratischen Repräsentation des Volkes soll die Einsetzung eines großspurig bezeichneten „Moralischen Rats der Republik“ (Consejo Moral Republicano) kaschieren, der sich zusammensetzt aus einer Art Ombudsmann (Defensor del Pueblo), dem „Allgemeinen Wächter der Republik“ (Contralor General de la República) und dem „Obersten Staatsanwalt“ (Fiscal General). Im Sinne des Befreiers Simón Bolivar: „Moral und Aufklärung sind unsere ersten Bedürfnisse“, weist die neue Carta Magna dem „Moralischen Rat“ einen vielfältig auslegbaren Weg.
Tatsächliche demokratische Verbesserung bringt die Umformung des Obersten Gerichtshofes (jetzt: Tribunal Supremo de Justicia). Wurde der alte Corte Suprema de la Justicia noch mit einfacher Mehrheit durch den Kongress eingesetzt, trifft nun das venezolanische Elektorat eine Vorentscheidung, die das Parlament mit Zwei-Drittel-Mehrheit besiegelt.

Die Ölindustrie bleibt staatlich

Handfestere Auseinandersetzungen um den neuen Verfassungstext als mit der zersplitterten politischen Kaste führte Chávez mit der Wirtschaft. In zwei zentralen Punkten konnte der Unternehmerschreck sich durchsetzen: Die Zentralbank muss künftig vor dem Parlament Rechenschaft über ihre Währungspolitik ablegen und wird in ihrer Autonomie beschnitten. Außerdem bleibt die Ölgesellschaft PdVSA, wichtigstes Standbein der venezolanischen Ökonomie, in Staates Händen. Die Verfassung schreibt explizit fest, dass die Ölproduktion nicht der Privatisierung anheim fallen kann. Chávez’ Amtsvorgänger Rafael Caldera hatte noch auf eine Privatisierung der mächtigen PdVSA gedrängt, um Devisen ins Land zu holen. In den vergangenen Monaten verließen über 2000 Angestellte den Konzern. Der Präsident besetzte die wichtigen Posten mit loyalen Genossen. Der oft geäußerten Kritik, sein planwirtschaftlicher Umgang mit der PdVSA ruiniere die Gesellschaft, begegnet der Ex-Militär mit dem Hinweis auf seinen Beitrag zu den gestiegenen Ölpreisen. Tatsächlich verhielt sich Venezuela ungewohnt diszipliniert bei der Begrenzung der Fördermengen, doch bewirkt der ruckartig nach oben geschnellte Preis für die begehrte Ressource paradoxerweise eine Überbewertung der Währung und schadet damit dem Export und der heimischen Produktion.
Noch liegt Hugo Chávez bei den Umfragen weit vorne. Doch sein schwacher Punkt bleibt die wirtschaftliche Talfahrt Venezuelas, die nach den verheerenden Überschwemmungen im vergangenen Dezember noch drastischer ausfällt. Besonders die private Wirtschaft hat wenig Vertrauen in Venezuela. Selbst für den Wiederaufbau des zerstörten Bundesstaates Vargas verhandeln die internationalen Finanzgeber um juristische und steuerliche Sonderkonditionen. Frankreichs Entwicklungsminister Charles Josselin, dessen Land nach eigenen Angaben zu einem Viertel an den humanitären Transfers beteiligt ist, bestätigte das Misstrauen bei den privaten Investoren in einem Interview. Die „revolutionären Konnotationen“ des Diskurses, den Chávez bei seinen Auftritten pflegt, schmeckten den Finanziers nicht, so Josselin.
Francisco Arias bemüht passendere Worte, um das Geld des Establishments wieder nach Venezuela zu locken. Er will den Dialog mit den Investoren suchen und Venezuela nach alter Tradition von oben nach unten wieder aufbauen. Kaum anzunehmen, dass dieser Vorschlag bei den im Partizipationsfieber befindlichen venezolanischen Wahlberechtigten auf viel Gegenliebe stößt. Gerade in der aktuellen prekären Situation ist zu erwarten, dass die Mehrheit sich dem Ausruf Chávez’ anschließt: „La revolución sigue!“ (Die Revolution geht weiter). Worin der nächste Schritt nach der „finalen Schlacht“ (Chávez) am 28. Mai bestehen soll, hat der Kommandant allerdings noch nicht verraten.

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