Nummer 461 - November 2012 | Venezuela

Chávez wiedergewählt

Venezuelas Präsident Hugo Chávez sichert sich neues Mandat bis 2019

Der bolivarianische Prozess in Venezuela lebt auch nach 13 Jahren an der Macht. Das zeigten die Massendemonstrationen der Chavistas vor den Wahlen am 7. Oktober. Und das zeigte das Ergebnis: Der amtierende Präsident Hugo Chávez erhielt mit 54 Prozent ein Mandat für weitere sechs Jahre. Sein Herausforderer Henrique Capriles kam auf 45 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei 81 Prozent.

Eva Haule

An der Endhaltestelle der Metrolinie 1, Propatria, steht ein großes Einkaufszentrum mit viel unverkleidetem Beton, dahinter windet sich das Viertel die Hänge hoch, Straßenhändler_innen und Transportverkehr bestimmen das Bild. Hier in Catia, einem der bevölkerungsreichsten Viertel von Caracas, gelegen am nordwestlichen Stadtrand der Millionenmetropole, sieht man die Veränderungen: Jahrelange Bauruinen sind inzwischen fertiggestellt und bewohnt. Dazu die ganz neuen Komplexe der Misión Vivienda, dem landesweiten Wohnungsbauprogramm. Straßen werden verbessert, zentrale Plätze in den armen Vierteln gestaltet, um den Aufenthalt schöner zu machen.
Beim Wahlkampfendspurt erschien Venezuelas Präsident Hugo Chávez bei vier von sechs großen Mobilisierungen in einer Woche persönlich. Am Montag war er hier in Catia. Entlang der Metrolinie und auf den umliegenden Hängen leben arme Hauptstadtbewohner_innen, kein bewohnbarer Raum bleibt dort ungenutzt. Betonklötze treffen auf selbstgebaute Häuser, breiter Asphalt auf enge, zum Teil unbefestigte Straßen, Straßenhändler_innen auf Einkaufspassagen – alles vereint sich zu einer Gesamtheit.
Wann Chávez erscheint, ist nach Ort und Zeit ungenau angekündigt. Ohne erkennbare Regie sind irgendwann Menschen und Gruppen auf den Beinen, die durch T-Shirts, Kappen oder mitgeführte Gegenstände als „Chavistas“ erkennbar sind. An verschiedenen Orten wachsen provisorische Bühnen aus dem Boden, Musik dröhnt, Parolen werden gerufen und die ersten Reden gehalten. Und vor allem wächst die Menschenmenge in den Straßen unaufhörlich. Manche erklettern Häuserfassaden, Balkone, Dächer, Kioske, um einen besonderen Platz zu ergattern. Der Auftakt des Umzuges von Chávez fand vor dem Einkaufszentrum Propatria in Gegenwart auch von internationaler Presse statt. Dann fuhr Chávez auf der offenen Ladefläche eines LKW, von Regierungs- und Parteimitgliedern begleitet, durch die Straßen, an den Bühnen vorbei, wo sich Massen von Anhänger_innen schon versammelt hatten. Reden wurden von Aktivist_innen der Basis gehalten, Chávez zeigte sich nur und schon brach Begeisterung aus. Die Stimmung ist – wie immer – wie auf einem Fest, kommunikativ, spielerisch, Scherze fliegen hin und her und erkennbar sind die Leute erfüllt von großer persönlicher Sympathie für den Präsidenten.
So ging die Woche weiter. Am Mittwoch mehrere Tausend Menschen bei einer Demonstration zur Unterstützung von Chávez in Ciudad Guyana, dem Zentrum der Schwerindustrie, organisiert von den gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Arbeiter_innenbewegung. Im Wahlaufruf der venezolanischen Bewegung für Arbeiter_innenkontrolle wird Chávez als Politiker beschrieben, der „mit der Wucht, Leidenschaft und Aufsässigkeit der karibischen Indigenen und afrikanischen Schwarzen, die keinerlei Beherrschung akzeptieren“, agiert.
Abends ein Treffen von Chávez mit der organisierten Jugend im Poliedro, einem Stadion am südwestlichen Rand der Hauptstadt. Mehr als 20.000 Jugendliche aus den armen Vierteln, zur Popkultur hingezogen und zu explosiver Begeisterung fähig. Ohne nachzulassen wird stundenlang großzügig unerschöpfliche Energie rausgehauen. Als Chávez schließlich redet, ist das eine ungekünstelte Interaktion, die keine Anschleimerei an die Jugend nötig hat. Er hat seine Herkunft aus den einfachen Verhältnissen nie abgelegt und hier liegt die Grundlage, dass ihm die Kommunikation mit seinen Anhänger_innen immer gelingt.
Am Freitag in der Universitätsstadt Mérida mit etwa 300.0000 Einwohner_innen, im Anstieg der Anden gelegen, eine der größten Massenkundgebungen, die die Stadt je gesehen hat. Auch hier spricht Chávez zu seinen Anhänger_innen. Gleichzeitig wird in Caracas eine Demonstration organisierter Frauen für seine Wiederwahl durchgeführt. Unter der Parole: „Die Misiones gehören dem Volk und sind mit Chávez“ haben für den Samstag schließlich Mitarbeiter_innen und Teilnehmer_innen der Misiones, zu einer Massendemonstration und Kundgebung in Caracas aufgerufen. Sie vertreten, dass ihre weitere Arbeit nur unter einer Fortsetzung der Regierung Chávez möglich ist. Bei den Misiones handelt es sich um die zahlreichen Sozialprogramme der Regierung. Zur gleichen Zeit tritt Chávez im Bundesstaat Trujillo vor einem unüberschaubaren Publikum auf.
Warum hat die Mobilisierungskraft nicht nachgelassen? Álvaro García Linera, Mitglied der regierenden Bewegung zum Sozialismus (MAS) und Vizepräsident Boliviens, hat schon Ende 2009 vorausgesagt, dass nur diejenigen Regierungen wiedergewählt werden, „die den Übergang zu einer gesellschaftlichen Veränderung entschlossen angehen“. Dies entspreche dem Willen der Bevölkerung und sie beteilige sich aktiv. Die fortschrittlichen Regierungen müssten die Transformationsprozesse in Lateinamerika sogar noch beschleunigen, um die Zustimmung im Volk zu behalten. Die unverbrauchte Zustimmung erklärt sich also trotz der negativen Erscheinungen, die anhaltend sind. Chávez selbst spricht immer wieder von Ineffizienz und Bürokratismus, die die Umsetzung von Programmen behindern. Zudem ist die Partei der Regierung, die PSUV, keine Organisation von Revolutionär_innen. Sieben Millionen Mitglieder nominell, beherbergt die Partei eine Masse von Mitläufer_innen, die auf Vorteile im Berufsleben oder anderer Art hoffen.
Der Kandidat des rechten Oppositionsbündnisses MUD (Tisch der Demokratischen Einheit), Henrique Capriles, liefert traditionelle Wahlkampfauftritte ab, wie es in repräsentativen Demokratien üblich ist. Er greift auf das Handwerkzeug der Imageberatung zurück und verspricht Großes: für die nächsten sechs Jahre eine Million neue Arbeitsplätze und mehr „Sicherheit“ innerhalb eines Jahres. Was in Europa in der Regel auf gelangweilte Resignation stößt, ist in Venezuela bereits zu einem Fremdkörper geworden. Nach 14 Jahren Politisierung, ernsthaften, enthusiastischen Programmdebatten und Partizipation der Bevölkerung ist die öffentliche und permanente Diskussion um soziale und politische Programme, um die Veränderung der Gesellschaft und Sozialismus, eine Realität geworden.
Bei den Auftritten von Capriles, bei denen er wenig spricht, soll vor allem ein jugendlicher, kraftstrotzender Kandidat gegen einen kranken Chávez präsentiert werden. Inhaltlich gibt er sich als gemäßigter und volksnaher Rechtspolitiker, der die sozialen Errungenschaften der letzten zwölf Jahre Chávez-Regierung durchaus anerkennt und beteuert, dass er die wichtigsten Sozialprogramme nicht wieder abschaffen würde, nur ihre Finanzierung durch die staatliche Erdölgesellschaft PdVSA. Im Gegenteil, er werde als Präsident diese Programme erst effektiv zum Laufen bringen. Die Linke versage bei der Umsetzung.
Selbstverständlich würde es unter seiner Regierung „keine Enteignungen“ und „keine Konfiszierungen“ (von gehorteten Waren, die aus politischem oder geschäftlichem Kalkül einen Mangel hervorrufen sollen) mehr geben. Und er lehnt die neuen Wirtschaftsbeziehungen ab, die Venezuela im Rahmen des ALBA-Bündnisses eingegangen ist. Diese Beziehungen orientieren sich an Komplementarität und Solidarität und sollen die traditionellen und ungleichen Wirtschaftsbeziehungen zwischen den entwickelten Industrienationen und dem Süden ablösen. Capriles hat außerdem angekündigt, die Großverträge mit den globalen US-Konkurrenten Russland und China zu „überprüfen“.
Geplante Wahlkampfauftritte von Capriles in den Barrios von Caracas mussten abgesagt werden, weil die Bewohner_innen klar machten, dass er in ihren Vierteln unerwünscht ist. Wenn die rechte Opposition auftauchte, um – ohne Capriles – durch die Viertel zu ziehen, stieß sie auf friedliche, aber massive Ablehnung und wurde von den Bewohner_innen regelrecht verschrien. Die Berichte von angeblich „bewaffneten Chavistas“, die Auftritte von Capriles verhindert hätten, sind Propaganda der Rechten. Unter den Barrios ist nur eines, in dem die Opposition bei den vergangenen Wahlen eine Mehrheit erzielte. Petare liegt am östlichen Rand von Caracas, direkt gegenüber einem der reichsten Viertel. Capriles wendet sich hier in subkulturellem Stil an seine „Brüder und Schwestern“. Sicher hat er genügend Stoff, um Frustrationen der „natürlichen Basis“ des Chavismus zu nutzen. Es gibt Mängel in der Gesundheitsversorgung, die Probleme mit der Strom- und Wasserversorgung, eine hohe Kriminalitätsrate und häufige Verzögerungen von Lohnzahlungen. Seine Botschaft an die Bewohner_innen: Die Chávez-Regierung biete keine Lösungen, sie wolle stattdessen „die Menschheit retten“ und sei nur daran interessiert, „dass ihr revolutionäres Projekt voranschreitet.“ Capriles versteht nicht, dass die Unterschichten in ihrem politischen Denken zwar Skepsis, aber nicht Zynismus kennen.
Die Polarisierung der venezolanischen Gesellschaft und der Klassenkampf haben in den 14 Jahren bolivarianischer Revolution kaum nachgelassen. Der Wahlkampf und die dazu gehörende öffentliche Debatte um eine neoliberale „verdeckte Agenda“ der Rechten für den Fall einer Regierungsübernahme hat den Sprengstoff sichtbar gemacht, der in einem sozialen Rollback für die armen Mehrheiten der venezolanischen Bevölkerung liegen würde. Mit dem Wahlsieg von Chávez wurde der Rollback abgewendet.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren