Musik | Nummer 298 - April 1999

Chicano Power!

Der Soundtrack zur Latino-Bewegung in den USA

Mitte der sechziger Jahre entstand an der Westküste der USA das Chicano-Movement. In dieser Bürgerrechtsbewegung wurde die Rolle der Mexican-Americans in der US-Gesellschaft reflektiert und für politische Emanzipation gekämpft. Aus der Bewegung geborene Musikbands leisteten ebenfalls einen Beitrag zur Identitätsbildung: Der Chicano Rock’n Roll war geboren. Die kürzlich erschienene Doppel-CD „Chicano Power! Latin Rock in the USA 1968-1976“ ermöglicht einen akustischen Blick auf diese Epoche

Oliver Haas

In den späten sechziger Jahren kam es in Los Angeles und San Francisco fast zeitgleich zur Entwicklung eines Musikstils, der als Latin Rock bezeichnet wird. Mit ihm entstand eine Fusion von musikalischen Elementen, die nicht nur eine Synthese der aktuellen Musikrichtungen darstellte, sondern auch ganz klar die kulturellen Wurzeln der Künstler mit der in den USA vorherrschenden Popkultur vermischte. Dabei spielte die Westküste eine bedeutende Rolle. In Los Angeles und San Francisco trafen sich in den sechziger Jahren Hippies und Freaks aus aller Welt und regelmäßige Konzerte musikalischer Größen wie Jimi Hendrix, Janis Joplin oder Greatful Dead zogen ein großes Publikum an. Sowohl der steigende Anteil der Latinos in diversen Barrios als auch die erstarkende Chicano-Bewegung brachten so eine unverwechselbare Mischung aus Pop, Tradition und Protest hervor. Abseits der Westküste entwickelten sich nur noch in New York und in Miami ähnliche Bands, allerdings mehr mit puertorikanischem Background.

Jimi Hendrix meets Tito Puente
So ist es nicht weiter verwunderlich, daß der Latin Rock neben Jazz, Funk, Rock und Soul vor allem durch seine starken Einflüsse afro-kubanischer und puertoricanischer Musikkultur besticht, was besonders durch den verstärkten Einsatz von Congas, Bongos sowie anderen Percussionsinstrumenten deutlich hörbar ist. Auch sind die refrainbetonten Stücke vom Arrangement her eher der Salsa als dem Rock zugehörig. So sind die einzelnen Tracks facettenreicher und wesentlich komplexer strukturiert, als die bis dahin bekannten Rock und Soul Nummern. Es scheint, als hätte man das Gemisch aus wilden Trommelorgien, virtuosen Orgelpassagen, präzise eingesetzten Bläsersätzen und bohrender Wah-Wah Gitarre schon irgendwo einmal gehört. Doch die damaligen Größen mit Namen wie Sapo, Tierra, Azteca oder Black Sugar blieben hierzulande sowie auch international nahezu unbekannt, da sich ihr Material von den Plattenfirmen nicht massenkompatibel vermarkten ließ. Die meisten Künstler nahmen lediglich eine Platte auf, ehe sie wieder in der Versenkung verschwanden. Die große und auch einzige Ausnahme stellt der in Mexiko geborene Carlos Santana dar. Durch ihn ist dieser Stil auch bei uns bekannt geworden. Der Sohn eines Mariachi, der mit seinem legendären Gastspiel auf dem Woodstock-Festival 1969 im Bundesstaat New York den Latin Rock mit einem Mal bekannt machte, ist der einzige Weltstar, den das Rock-Subgenre hervorgebracht hat. Bis heute ist Carlos Santana, dessen Bruder Jorge in der ebenfalls sehr bekannten Latin Rock Band Malo spielte, seinen musikalischen Wurzeln treu geblieben und transponiert in seinen aktuellen Stücken den musikalischen Geist der damaligen Zeit in einem modernen Klangbild. Wer Santana mag wird auch die anderen Gruppen dieser CD mögen.

Mira pa ca: Schau und hör her

Die bei Soul Jazz Records erschienene Doppel-CD „Chicano Power!“ läßt nun all die vergessenen, unbekannten oder kaum beachteten musikalischen Künstler der Chicano-Bewegung noch einmal aufleben. Neben einer sehr vielseitigen Auswahl von Stücken der verschiedenen Größen, besticht vor allem das umfangreiche Begleitbooklet, welches auf die Hintergründe der Bewegung, den Musikstil und die einzelnen Interpreten chronologisch eingeht. Illustriert wird das Ganze mit einer interessanten Kombination aus Photos aus den Barrios der Städte, von Demonstrationen sowie den einzelnen Bands. Dadurch erhält man nicht nur einen plastischen Eindruck von den damaligen Auseinandersetzungen, sondern findet auch einen leichteren Einstieg in die gesamte Thematik und das Umfeld der Chicano-Bewegung. Mitte der siebziger Jahre ebbt diese Bewegung allmählich ab. Die utopischen Ziele von einst waren zwar nicht erreicht, gleichwohl gab es jetzt zahlreiche politische Organisationen und an den Unis die Chicano-Studies. Das vordringliche Interesse verschob sich mehr auf die Wahlregistrierung und die politische Repräsentation auf lokaler, regionaler und einzelstaatlicher Ebene (vgl. LN 295). Einige Bands, wie Tierra, El Chicano und Malo existieren weiterhin. Andere haben sich neu formiert, ihren Stil verändert. „Chicano Power!“ bringt Licht in dieses viel zu unbekannte Kapitel der Rockgeschichte und eine gute Zusammenstellung einzelner Stücke von mehr als zehn verschiedenen Bands, die allesamt ansonsten wohl nicht so leicht in Europa erhältlich sind.

„Chicano Power! Latin Rock in the USA 1968-1976“, Soul Jazz Records,1998, Doppel-CD.

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