Gender | Nummer 194/195 - Juli/August 1990

Chile-Gewalt gegen Frauen

Lisa Luger

“Ich bin nun 50 Jahre verheiratet und bis auf den heutigen Tag schlägt er mich. Sogar am 35. Hoch­zeitstag hat er mich so heftig geschlagen, daß sie mich blut­überströmt zum Sanitätsposten brach­ten. Trotzdem bleibe ich bei ihm, weil ich ihn mag, und es täte mir leid, ihn zu verlassen, vor allem jetzt, wo wir alt sind.” (Ester, 80 Jahre, Krankenschwester)
Täglich werden in Chile Hunderte von Frauen, Mädchen und Erwachsene vergewal­tigt, viele Frauen aus allen sozialen Schichten werden durch ihre Ehe­männer und Partner zuhause geschla­gen. Nur wenige dieser Fälle gelangen an die Öffentlichkeit. Meist schämen sich die Frauen über das, was ihnen angetan worden ist, oder haben Angst, den Täter bloßzustellen. Diejenigen, die schließlich die mühselige und demü­tigende Tortur einer Anzeige in Kauf nehmen, werden mit dem Unverständnis und den Vorurteilen der meist männlichen Polizeibe­amten und Richter kon­frontiert. Diese nehmen letztendlich ihre Geschlechtsge­nossen in Schutz und geben den Frauen die Schuld, durch ihr Verhalten die Männer zu dieser Tat provoziert zu haben, oder tun die Tat als Ka­valiersdelikt ab.
Das Institut der Frau in Santiago griff dieses lange Zeit tabuisierte und “heiße” Thema noch in der Zeit der Diktatur auf und organisierte wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen im Dezember 1989 in seinen Räumen eine Diskussionsveran­staltung.
Das Interessante und bisher Einmalige an dieser Veranstaltung war zudem die Zusammensetzung des Podiums: Neben Expertinnen in Frauenfragen aus psychologi­scher, psychiatrischer und recht­licher Sicht war ein Vertreter von CA­VAS geladen, einer Anlauf- und Beratungsstelle der chileni­schen Polizei für Frauen, die ge­schlagen oder vergewaltigt worden waren.
Die Psychologin Rosario und die Psychiaterin Sofìa beleuchten in ihren einlei­tenden Ausführun­gen den sozialen Hintergrund dieses Problems. Schuld an der männlichen Gewalt ist das beste­hende Mann-Frau-Verhältnis. Die dominierende Rolle des Man­nes hat eine entsprechende Denk- und Verhaltensweise geprägt, die dem Mann selbstverständlich erscheinen läßt, daß die Frau sein Eigentum ist, über das er bestimmen kann. Ihre Entscheidungen, ihre Mei­nung sind nicht ge­fragt und nicht akzeptiert. Zum Beispiel brauchen viele Frauen die Er­laubnis ihres Mannes, um arbeiten zu gehen.
Ohne sich in platten Pauschalitäten verlieren zu wollen, sollen hier Grundstruktu­ren von Mann-Frau-Verhältnissen aufgezeigt werden, sozusagen als Erklärungsmu­ster, die selbstverständlich in­dividuell abweichen können. Männer, die der Erwar­tung der Gesellschaft nicht entsprechen, grei­fen nicht sel­ten zu Drogen, Alkohol oder sie werden gewalttätig. Ihre Aggression richtet sich gegen ihre “Untergebenen” – Frau und Kinder. Die höchste Form der Beherr­schung und Demütigung der Frau ist die sexuelle Gewalt. Manche Männer scheinen ihr mangelndes Wertgefühl nur dadurch aufbessern zu können, wenn sie ihre sexuelle Potenz unter Beweis stellen und eine Frau durch ge­waltvolle In­besitznahme demütigen. Die Frauen fügen sich in die ihnen vermeintlich zuste­hende Rolle. Sie ertragen die Situation, weil sie auf­grund ihrer Sozialisation so dressiert sind, verstehen alles – und vergeben letz­tendlich.
Wenn psychische und psychiatrische Beratung aufgrund von Gewalttätigkeit in An­spruch ge­nommen werden, dann von den Frauen. Dabei klagen sie oft nicht ihre Männer an, sondern bitten um Hilfe, um ihre Partnerschaftsprobleme be­wältigen zu können; einmal mehr ein Beweis, daß Frauen immer wieder zunächst die Schuld bei sich suchen.
Die Medien tragen einen erheblichen Teil zu dieser Situation bei. Sie vermitteln in Zeitschriften, Illustrierten, in Funk und Fernsehen das Bild des Mannes, der über die Frau herrscht und be­stimmt. Die Frau – ohne Meinung und Verstand – hat in dieser Vision keinerlei Rechte und defi­niert sich über den Mann. Die Frau glaubt, ohne den Mann nicht existieren zu können, ist ihm hö­rig, liegt ihm zu Füßen, all­zeit bereit. Der Mann hat jederzeit Zugriff auf die Frau und somit auch auf ihren Körper. Auch in der Werbung wird dem Mann die freie Verfügung über den Körper der Frau suggeriert und er ihm als Beigabe zum Rasierwasser oder Auto schmack­haft gemacht. Eine eigenständige Frau, die unabhängig von Männern weiß, was sie will und was sie nicht will, exi­stiert in diesem Frauenbild nicht. Ein Recht auf eigene Entscheidung wird ihr nicht zugestanden. Dem Mann jedoch obliegt das Recht, über sie und ihren Körper zu bestimmen und ihn jeder­zeit und jederorts zu “nehmen” oder zu züchtigen, wie es ihm gefällt; kann er sich doch immer wieder der (zumindest unterschwelligen) Anerkennung der Gesell­schaft oder dem Verständ­nis der männlichen Polizisten und Richter sicher sein.
Aus ihrer alltäglichen Erfahrung mit der Verteidigung von Frauen, die (sexuelle) Gewalt erlitten haben, berichtet die Rechtsanwältin Berta. Mit einem bekannten chilenischen Sprichwort drückt sie genau das aus, was Männer über Gewalttätig­keit gegenüber Frauen denken: “Kümmere dich nicht um die Frage, warum du deine Frau schlägst, sie weiß es ohnehin.” Die Frau wird geschlagen, aber sie als Opfer fühlt sich schuldig. Sie ist isoliert mit ihren Problemen, erfährt nur in den seltensten Fällen Solidarität von anderen Frauen, sondern sie wird mit den An­forderungen der Gesellschaft konfrontiert: Reize Deinen Mann nicht! Wider­sprich ihm nicht, sonst…! Gib nach!
Die Frau fühlt sich verantwortlich für die Stimmung in der Familie. Sie gibt also nach, damit Ruhe ist. Sie hat Angst, ihn anzuzeigen, um nicht seinem Zorn ausge­liefert zu sein. Sie hat auch Angst, ihn zu verlieren. Wenn sie sich schließ­lich doch durchringt, ihn anzuzeigen, kann es durchaus sein, daß sie einem Richter be­gegnet, der sie mit dem Rat abschiebt: “Gute Frau, benehmen Sie sich halt nicht so provozierend, daß er sie immer schlagen muß. Warum wollen sie ihn denn nicht be­dienen? Warum widersprechen sie ihm denn immer?” Und die Frau internalisiert das, fühlt sich schuldig und zeigt ihn das nächste Mal nicht an. Der Mann seinerseits fühlt sich in seinem Ver­halten bestärkt.
Aber dieser “Mythos vom schuldigen Opfer”, das seinen Täter provoziert, der von Männern immer wieder zur Rechtfertigung herangezogen wird, bricht letzt­endlich dann endgültig zusammen, wenn man sich die Beispiele aus der alltägli­chen Praxis an­sieht: Ein 8jähriges Mädchen wird von ihrem Vater vergewaltigt, ein Taxifahrer mißbraucht ein schlafendes Kind…
Nach dem beeindruckenden Beitrag von Berta stellt Elías Escaff von CAVAS seine Organisation und ihre Arbeit vor. CAVAS wurde vor zwei Jahren innerhalb der Kri­minalpolizei in Santiago ge­gründet. Es gibt zwar schon eine Reihe von staatlichen Stellen, die sich um Rehabilitation und Re­sozialisation von Tätern kümmern, aber es gibt bisher keine Instanz, die sich um “Gewalt gegen Frauen” und speziell um die betroffenen Opfer bemüht. CAVAS hat dieses Thema aufge­griffen und Strategien entwickelt, die Opfer zu betreuen. CAVAS dient nun als Anlaufinstanz für Frauen und Mädchen, die sexuelle Gewalt erlitten haben und bei der Polizei eine Anzeige erstatten wol­len. Die Pädagogen und Psychologen wirken unterstützend auf die Op­fer ein und betreuen sie, bevor die oft demüti­genden Verhöre durch Polizei und Gericht beginnen.
In Flugblättern, Plakaten und Zeitungsanzeigen ruft CAVAS die Frauen und Mäd­chen auf, über die erlebte Vergewaltigung und Gewalt nicht zu schweigen, sondern sie öffentlich zu machen. Als Erfolg ihrer Arbeit wertet CAVAS die Tat­sache, daß die Zahl der Anzeigen in den ersten zwei Mo­naten um über 40% ge­stiegen und demgegenüber die Dunkelziffer der Gewalttaten gegen Frauen ge­sunken sei.
Eine Plakataktion von CAVAS warnt Frauen vor möglichen sexuellen Übergrif­fen durch Männer und erteilt Ratschläge: Sie sollen jede gefährliche Situation vermei­den, keinen Minirock anziehen, und wenn, dann nur in Begleitung gehen, nicht trampen, nicht einsame Plätze aufsuchen, nicht abends ohne Begleitung ausgehen, nicht durch anzügliche Kleidung und leichtfertiges Verhalten Männer provozie­ren…lautet der Tenor. Nach der Einschätzung von CAVAS werden die sexuellen Übergriffe darüberhinaus ohnehin von sexuell gestörten Psychopathen begangen.
Die Ausführungen von Elías Escaff über die Arbeit von CAVAS und die Erfolge, die bereits er­reicht wurden, riefen Unruhe und Widerstand bei den anwesenden Frauen hervor und zogen eine erregte Diskussion nach sich. Die vorgetragenen Strategien und Arbeitsansätze von CAVAS wur­den in wesentlichen Punkten zerpflückt.
Unter den Anwesenden waren viele Expertinnen, die jahrelange Erfahrung in der Arbeit mit ge­schlagenen und vergewaltigten Frauen haben. Ihnen erschien es an­maßend, daß Elías CAVAS als einzige Organisation präsentierte, die auf diesem Ge­biet arbeitet, und daß seit dem Beginn der Ar­beit von CAVAS die Zahl der Anzei­gen dermaßen gestiegen sein soll. Die Frauen stellten infrage, daß eine Organisa­tion, die obwohl sie vielleicht gute Ideen hat, erfolgreich ihre Arbeit re­alisieren kann, wenn sie innerhalb der Polizei angesiedelt ist; denn nach 16 Jah­ren Diktatur hat die chileni­sche Bevölkerung nicht viel Vertrauen in die Polizei, und es beste­hen viele Vorurteile und genü­gend schlimme Erfahrungen. Zudem wurde ihm vorge­worfen, daß bei CAVAS mit Ausnahme der Sekretärin aus­schließlich Männer tätig sind, die Frauen betreuen wollen, die Gewalt durch Männer erlitten haben.
Nach Auffassung von CAVAS sind die Täter bei sexuellen Übergriffen psychopathi­sche Männer. Die Frauen dagegen sind überzeugt, daß jeder Mann allein aufgrund der Tatsache, daß er männli­chen Geschlechts ist, ein potentieller Vergewaltiger ist. Die Einschätzung von Vergewaltigung als Problem von Psy­chopathen wird unter dem Hinweis als absurd abgetan, daß nur wenige der vielen Vergewaltigungen nachweis­lich von psychopathischen Tätern begangen wurden. Außer­dem, so dokumentieren auch Plakate an den Wänden im Ver­sammlungsraum des Fraueninstituts, sind 80% der Vergewaltiger dem Opfer vorher bekannt. So ist auch die Forderung von CAVAS un­sinnig, die Frauen und Mädchen sollen nur in Begleitung ausgehen, da sie gerade durch diese männliche Begleitung wiederum gefährdet sein können.
Ein anderer Kritikpunkt war die präventive Arbeit von CAVAS. Die Kampagne zur Verhinderung sexueller Übergriffe richtet sich an die Frauen und stellt eine mög­liche Vergewaltigung als ein in­dividuelles Problem jeder einzelnen Frau dar, das sie mit ihrem Benehmen, ihren Handlungen verursachen oder abwenden kann. Die Prä­ventionskampagnen beinhalten immer irgendeine Art der Ein­schränkung für die Frau. Es wird mit erhobenem Zeigefinger gearbeitet: Zieh’ keinen Mini­rock an, fahr’ nicht per Anhalter, mach nicht dies, mach nicht das! So hat CAVAS ein Poster mit ei­nem Mädchen herausgebracht, die auf der Straße steht und trampt: dies sei eine Situation von höchster Gefahr. Außerdem, so kriti­sieren die Expertinnen im Saale, richtet sich die Präventivar­beit dieser Organisa­tion der Polizei in keinster Weise an die Männer, die ja schließlich Täter und Ver­ursacher des sexuellen Übergriffs und der Gewalt sind.
Da die Gewalt gegen Frauen ein soziales Problem ist und als solches angegangen werden muß, werden Gesetze gefordert, die den Medien verbieten, ein Bild der Frau als Sexualobjekt darzustel­len und den Körper der Frau gewerblich zu be­nutzen.
Elías wurde gefragt, warum CAVAS niemals den Austausch mit den zahlreichen Frauengruppen gesucht hat, die in diesem Bereich arbeiten, um von der bereits existierenden Erfahrung zu profi­tieren und diese auszubauen. Der Vertreter von CAVAS wirkte konsterniert angesichts der Vor­würfe und Argumente und ver­suchte, die Einschränkungen und Schwierigkeiten in seiner Arbeit offenzulegen. Er zeigte sich sehr interessiert an einem weiteren Treffen zu diesem Thema und be­tonte, daß er den Austausch und die Diskussion mit den Expertinnen suche, um letztendlich eine bessere Arbeit mit größerem Erfolg für die betroffenen Frauen erreichen zu können. Man trennte sich an diesem Abend mit dem festen Vorhaben, weitere Tref­fen dieser Art zu organisieren, um dieses wichtige Thema nicht wieder in Verges­senheit geraten zu lassen.
Das Bemerkenswerte an dieser Diskussion war, mitzuerleben, wie vehement die Frauen im Saal auftraten und das Problem der sexuellen Gewalt öffentlich machten. Die Frauen machten keinen Hehl aus ihrem Mißtrauen und Unmut ge­genüber der Diktatur und der chilenischen Polizei. Viel­leicht war es die Aussicht auf die bal­dige Demokratie, die die Frauen ermutigte. Von der Demo­kratie erhof­fen sie sich unter anderem, daß sich ihre Situation als Frau in der chilenischen Gesell­schaft ändern wird… und damit nicht zuletzt auch das leidige Problem der (sexuellen) Ge­walt ge­gen Frauen.
Doch das Problem der sexuellen Gewalt gegen Frauen wird sich solange nicht än­dern, wie das bis­herige Mann-Frau-Machtverhältnis bestehen bleibt. Es wird sich auch nichts ändern, wenn sexu­elle Gewalt weiterhin als privates Problem abge­tan und in seiner politischen Dimension nicht nur nicht ernst genommen, son­dern durch staatliche Gewalt auch noch legitimiert wird.

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