Chile | Dossier 18 - Vivas nos queremos

GEWALT UND GESETZ: CHILE

Gewalt und Gesetz. Beginn einer Dokumentation geschlechtsspezifischer 
Rechtsprechung in 19 Ländern

Von Susanne Brust

Mutig kämpfen Sie haben uns so viel weggenommen, dass sie uns auch unsere Angst genommen haben (Illustration: Magda Castría, @magdacastria)

Bis Anfang Oktober hat es im Jahr 2020 nach Angaben des Ministeriums für Frauen und Gleichstellung der Geschlechter in Chile 29 Feminizide und 102 versuchte Feminizide gegeben. Das Ministerium gibt jedes Jahr eine Liste mit Namen der Opfer von Feminiziden heraus, im vergangenen Jahr 46 Fälle. Diesen Angaben gegenüber stehen die Statistiken des chilenischen Netzwerkes gegen Gewalt an Frauen, die für den gleichen Zeitraum 2020 schon 38 Feminizide im Land zählen, im vergangenen Jahr 63. Die seit 30 Jahren aktive Organisation dokumentiert jeden Fall detailliert und betont die politisch-strukturelle Dimension von Feminiziden sowie die Verstrickung von sexualisierter und rassistischer Gewalt in Chile. Das Netzwerk zählt neben Feminiziden auch Fälle von sogenannten suicidios femicidas, also Suizide von Frauen, nachdem sie Gewalt erfahren haben. Transfeminizide werden an keiner dieser Stellen dokumentiert.

Der Tatbestand Femizid ist im chilenischen Recht seit 2010 mit dem Gesetz 20.480 als Mord an Frauen durch den Ehemann oder Partner etabliert. Zehn Jahre lang kritisierten feministische Bewegungen, dass dies andere Gewaltkontexte als den familiären völlig ausblenden würde. Im März dieses Jahres fand dann mit dem Gesetz Gabriela eine Erweiterung statt: Seitdem beschreibt der Tatbestand Femizid alle Tötungsdelikte an Frauen, die aus Hass-, Verachtungs- oder Missbrauchsmotiven in Bezug auf das Geschlecht geschehen. Hierfür können Gefängnisstrafen von 15 Jahren und einem Tag bis lebenslänglich verhängt werden. So fortschrittlich die Rechtslage sich auch gestaltet: In weiten Teilen der chilenischen Gesellschaft wird Gewalt an Frauen noch immer nicht klar verurteilt. Dazu zählt auch Präsident Sebastián Piñera: Als er das neue Gesetz vorstellte, betonte er ausdrücklich, dass es bei sexualisierter Gewalt nicht immer nur um den Willen von Männern ginge, sondern auch am Willen der Frauen, missbraucht zu werden. Organisationen wie das Netzwerk gegen Gewalt an Frauen betonen daher, dass neben der entsprechenden Gesetzgebung auch in Sachen Aufklärungs- und Präventionsarbeit Fortschritte nötig seien. Denn die Zahl der Feminizide bleibt auch mit den neuen Gesetzen konstant.

Ein Fall, der die mangelnde Durchsetzung der bestehenden Gesetze offenbart, ist der von Ámbar Cornejo. Im August 2020 wurde die 16-Jährige von ihrem Stiefvater ermordet. Der Täter war erst 2016 aus dem Gefängnis freigekommen, wo er nach elf von 27 Haftjahren für den Feminizid an seiner damaligen Partnerin und deren Sohn frühzeitig entlassen worden war. Gegen ihn galt außerdem eine einstweilige Verfügung, sich von Ámbar fernzuhalten. Nach deren Tod sitzt er nun erneut in Untersuchungshaft. Auch seine Partnerin, Ámbar Cornejos Mutter, wurde Anfang Oktober in Untersuchungshaft genommen und wird beschuldigt, an der Tat beteiligt gewesen zu sein.

Die feministische Bewegung im Land gilt als stark und wachsend. Und sie hat mit den breiten gesellschaftlichen Protesten seit November 2019 neuen Aufwind erhalten. So brachte der Internationale Frauentag im März 2020 zwei Millionen Frauen und Queers auf die Straßen der Hauptstadt Santiago. Zu den wichtigsten feministischen Gruppen gehört die Coordinadora 8M mit ihren landesweiten und regionalen Gruppen. Dazu kommen unzählige feministische asambleas (Nachbarschaftsversammlungen) im ganzen Land. Gegen Gewalt an Frauen engagieren sich unter anderem der Verein feministischer Anwältinnen (ABOFEM) und das chilenische Netzwerk gegen Gewalt an Frauen. Einen symbolischen Erfolg konnte die feministische Bewegung im Oktober verbuchen: Der Senat verabschiedete einstimmig ein Gesetz, nach dem der 19. Dezember in Zukunft landesweiter Gedenktag gegen Femizide wird.

Dieser Text ist Teil der Übersicht Gewalt und Gesetz aus unserem Dossier ¡Vivas nos queremos! Perspektiven auf und gegen patriarchale Gewalt. Das Dossier kann hier heruntergeladen werden oder über unser Aboformular gegen Versandkosten bestellt werden.

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