Berlinale | Brasilien

Chronik des Unvorhersehbaren

Der Kurzfilm Arame Farpado ist zeigt eine Momentaufnahme des Alltags, der durch eine unerwartete Tragödie erschüttert wird

Von Karina Tarasiuk
Einfühlsame Darbietungen und fesselnder Schnitt Arame Farpado (Barbed Wire) lief im diesjährigen Berlinale-Panorama (Renato Groberman Hojda)

In einem Dorf auf dem Land in São Paulo überredet Angelina (Isabella Guido) ihren jüngeren Bruder Santiago (Gabriel Novaes), ihr dabei zu helfen, einen Stacheldraht zu befestigen, der die unbefestigte Straße durchschneidet. Dort fährt ihr Stiefvater Zé Luis (Ricardo Bagge) normalerweise mit seinem Lastwagen vorbei. Was als eine Art „kleine Rache“ dafür gedacht war, dass Zé Luis den Platz seines Vaters eingenommen hat, als dieser fortging, wird zu einer Tragödie, als die Radfahrerin Ariane (Dione Castro), ihren Weg kreuzt. So beginnt Gustavo de Carvalhos Kurzfilm Arame Farpado (Barbed Wire).

Kurz nach dem Unfall trifft die ältere Schwester Evita (Camila Botelho) die Kinder auf der Straße. Sie bittet ihren Bruder, nach Hause zu gehen, und fährt mit Angelina und Ariane in die Notaufnahme. Zé Luís folgt ihnen im Auto.  Während Ariane versorgt wird, kümmert sich Evita darum die Familie des Opfers zu finden, während Angelina und Zé Luis gemeinsam warten. In dieser Zeit des Wartens und noch immer von Schuldgefühlen wegen des tragischen Unfalls überwältigt, lässt sich das Mädchen auf ein Gespräch mit ihrem Stiefvater ein und scheint sich mit ihm zu versöhnen, indem es seine Sicht der Dinge versteht.

Mit einfühlsamen Darbietungen und fesselndem Schnitt ist der Kurzfilm eine Momentaufnahme des Alltags einer Familie auf dem Lande, die in einen Unfall verwickelt wird, der eine unerwartete Unterbrechung der Routine auslöst. Er erinnert daran, dass das Leben nicht linear verläuft und von plötzlichen Ereignissen und plötzlichen Veränderungen überrollt werden kann – von denen viele manchmal durch einen Dialog vermieden werden könnten. Ein Ereignis zieht das nächste nach sich und das „Schicksal“, falls es so etwas gibt, ist ebenso von unseren Entscheidungen wie von unkontrollierbaren Faktoren geprägt.

Arame Farpado ist eine Erinnerung daran, dass Kino nicht nur aus den fantastischen Ereignissen großer urbaner Zentren besteht, sondern dass auch alltägliche, lokale Geschichten eine Dimension im internationalen Film einnehmen können. Die 22 Minuten dieses Films sind wie die Lektüre einer Chronik: ein Ausschnitt aus der alltäglichen Realität, ohne Kontext, ohne Einleitung und ohne wirkliches Ende. Die ganze Geschichte stellt nur einige Stunden eines Ereignisses dar, das auf den geografischen Raum einer kleinen Stadt auf dem Lande beschränkt ist. Doch selbst dieser einfache Schnitt vermag die Tiefe der familiären Beziehungen und die unerwarteten Interaktionen, die sich mit Fremden ergeben können, anzudeuten.

Arame Farpado liefert keine Antworten, aber er zeigt, wie der Zufall das tägliche Leben beeinflussen und Gefühle freilegen kann, die wir manchmal zu ignorieren versuchen. Zwischen Schuldgefühlen, Bedauern und einem Gefühl der Resignation gegenüber dem, was man nicht ändern kann, zeigt uns der Kurzfilm, dass der Alltag voller Überraschungen ist.

Arame farpado (Barbed Wire), Brasilien, 2025, 22 Minuten, Berlinale-Sektion Panorama; Regie und Buch: Gustavo de Carvalho, Portugiesisch mit englischen Untertiteln

LN-Bewertung: 4/5 Lamas


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