Nachruf | Nummer 430 - April 2010

Chronist des Untergründigen

Zur Erinnerung an den mexikanischen Schriftsteller Carlos Montemayor

Am 28. Februar 2010 ist der Autor Carlos Montemayor in Folge eines Krebsleidens verstorben. Carlos Montemayor war einer der bedeutendsten Schriftsteller Mexikos, ein luzider und unbestechlicher Intellektueller sowie ein engagierter Menschenrechtsaktivist. Sein Tod ist ein schmerzlicher Verlust.

Theo Bruns

Carlos Montemayor wurde am 13. Juni 1947 in Parral im nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua geboren. Er studierte Jura und iberoamerikanische Literatur in Mexiko-Stadt, lernte Griechisch und Latein und übersetzte Vergil, Catull, Sappho und andere Dichter des klassischen Altertums ins Spanische. Er begeisterte sich für die prähispanischen und indigenen Sprachen, gab Anthologien oaxaquenischer Poesie heraus und veröffentlichte ein Nahuatl-Spanisch-Wörterbuch. Ein Sprachbesessener, der auch noch Dänisch lernte, um Kierkegaard im Original lesen zu können. In der Musik galt seine Leidenschaft der Oper und er war selbst ein begabter Tenor. Die Grande Dame der mexikanischen Literatur, Elena Poniatowska, nannte ihn „einen modernen Renaissance-Menschen“. Seine eigene literarische Produktion setzte mit Gedichtsammlungen wie Las armas del viento (Die Waffen des Windes, 1977) ein. Unter seinen Prosawerken ragen Guerra en el Paraíso (Krieg im Paradies,1991), Los informes secretos (Die geheimen Berichte, 1999), ein Roman über den staatlichen Infiltrations- und Ausspähungswahn gegenüber der Linken, sowie Las armas del alba (die Waffen der Seele, 2003) hervor.
Die größte Resonanz erfuhr zweifellos sein Roman Krieg im Paradies, der 1998 auch auf Deutsch veröffentlicht wurde. Der Roman thematisiert ein bis heute tabuisiertes historisches Ereignis: die unter dem Namen Partei der Armen von dem Dorfschullehrer Lucio Cabañas geführte Bauernguerilla, die zwischen 1971 und 1974 in den Bergen von Guerrero aktiv war und erst durch einen „schmutzigen Krieg“ des mexikanischen Militärs zerschlagen werden konnte. Der Roman ist über seinen zeitgeschichtlichen Bezug hinaus zugleich eine Parabel auf die Lebensverhältnisse der arm gehaltenen und in den Hintergrund der geschichtlichen Bühne gedrängten lateinamerikanischen Landbevölkerung und ihrer niedergeschlagenen, aber aufgrund ihrer unveränderten sozialen Lage immer wieder aufflammenden Aufstände, die bei der städtischen Linken so häufig kein Gehör finden. Aufgrund seiner dichten und rhythmischen Prosa erreichte der „Guerillaroman“ in diesem Werk höchsten literarischen Rang.
Viele Beobachter halten Krieg im Paradies für eines der wichtigsten Werke der mexikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Roman hat eine Vorgeschichte, die Carlos Montemayor zeitlebens geprägt hat. Während seines Studiums an der Universität von Chihuahua war er mit einer Gruppe von Gleichaltrigen befreundet, die sich als Agrarrevolutionäre verstanden und später die erste mexikanische Guerilla nach der kubanischen Revolution gründeten. Am 23. September 1965 versuchten sie nach dem Vorbild der Erstürmung der Moncada eine Militärkaserne in Ciudad de Madera einzunehmen. Bei der Aktion kamen fünf Soldaten und acht Guerilleros ums Leben, unter ihnen Arturo Gámiz und Pablo Gómez. Carlos Montemayor studierte zu diesem Zeitpunkt bereits in Mexiko-Stadt und erfuhr von ihrem Tod über eine Wandzeitung an der Universität.
Ihn empörte die Darstellung seiner Jugendfreunde in der Presse, in der sie als „Delinquenten, Pistoleros, Viehdiebe und Banditen“ dargestellt wurden. Seither empfand er es als eine Verpflichtung, über sie zu schreiben, um sie von den Entstellungen zu befreien, die über sie verbreitet wurden. In dem Roman Las armas del alba hat er dieses Versprechen schließlich eingelöst. Besonders verbunden war Carlos Montemayor den Campesino- und Indígena-Bewegungen. Die zapatistische Bewegung im Süden Mexikos, der er das Buch Chiapas, la rebelión indígena de México (Chiapas, die indigene Rebellion Mexikos) widmete, begleitete er mit Sympathie, aber auch Sorge angesichts der staatlichen Repression, deren Mechanismen er in analytischer Schärfe beschrieben hat.
Montemayor blieb stets ein unbeirrbarer Verteidiger der Menschenrechte, ein Anwalt der Ärmsten der Armen, der Verfolgten und Opfer der Staatsgewalt. Zuletzt war er Mitglied einer Vermittlungskommission zwischen der Bundesregierung und der in Guerrero aktiven Guerilla EPR (Revolutionäres Volksheer), um das Schicksal zweier Verschwundener aufzuklären. Ein Kommissionsmitglied beschrieb den Moment, als in der Vermittlungskommission eine heftige Kontroverse über den einzuschlagenden Weg ausgebrochen war: „Als der Streit seinen Höhepunkt erreichte, erhob sich Carlos plötzlich von seinem Stuhl, bat um das Wort und stimmte zur Verwunderung aller mit seiner Tenorstimme eine Arie an. Die Szene endete mit Applaus und alle Uneinigkeit war verflogen.“ Die Kommission löste sich später auf, als auf Regierungsseite kein Einlenken erkennbar war. Ein letztes Mal bestätigte Carlos Montemayor seine Rolle als scharfzüngiger Kritiker staatlicher Gewalt, als kurz vor seinem Tod das Buch La violencia de Estado en México (Die Gewalt des Staates in Mexiko) veröffentlicht wurde.
Carlos Montemayor verkörperte den Typus des engagierten Intellektuellen, wie ihn in Europa Jean-Paul Sartre geprägt hat und der hierzulande im Aussterben begriffen zu sein scheint. Sein Tod löste in der mexikanischen Öffentlichkeit ein überwältigendes Echo aus. SchriftstellerkollegInnen, EPR-Guerilleros, ParteienvertreterInnen, ElektrizitätsgewerkschafterInnen, MenschenrechtsaktivistInnen beklagten das Verschwinden der „klarsten Stimme des aufständischen Mexikos“.
Ein mexikanischer Freund, Paco Ignacio Taibo II, schrieb in diesen Tagen in Erinnerung an Carlos Montemayor: „Irgendwann einmal habe ich dir gesagt, dass alt gewordene ‚Rote‘, alte Rockmusiker, alte Romanschriftsteller niemals sterben, und du hast mir vorgeschlagen, dieser Liste die Opernsänger hinzuzufügen. Ich muss dir gestehen, dass ich es nie getan habe … Immer bleibt mir noch etwas zu sagen. Immer komme ich zu allem zu spät: zu den Würdigungen, zum Gedenken, zum Schmerz über den Verlust, zu den Erinnerungen. So ist es auch diesmal. Aber sei beruhigt, ich werde die Opernsänger doch noch in die Liste derjenigen aufnehmen, die niemals sterben, und ich werde dich weiterhin lesen … Und ich werde mit Dir in den Nächten reden, so wie ich es mit vielen anderen tue.“ Da wir seit Juan Rulfos „Pedro Páramo“ wissen, dass sich in Mexiko die Toten unter die Lebenden mischen, schließen wir uns Paco Taibos Worten an: „Wir bleiben im Gespräch, Don Carlos.“

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