Contreras als Bauernopfer der Militärs
Verfahren gegen ehemaligen Geheimdienstchef wieder aufgenommen
Als das Regime von General Augusto Pinochet 1989 nach 16jähriger Herrschaft abgewählt wurde, hofften viele ChilenInnen auf die Aufklärung der unzähligen Menschenrechtsverletzungen. Die erste demokratisch gewählte Regierung unter Präsident Patricio Aylwin sah sich unter dem Druck der Menschenrechtsorganisationen gezwungen, Untersuchungen über politisch motivierte Morde, Verschleppungen und Folterungen einzuleiten. Die Ergebnisse wurden im sogenannten Rettig-Bericht vorgelegt, der akribisch die Verbrechen der Militärjunta auflistet. Opfer finden darin massenhaft Erwähnung, die Namen der Täter werden allerdings verschwiegen.
Vergangenheitsbewältigung auf chilenische Art
So kamen während der Aylwin-Regierung nur ganz wenige Fälle von Menschenrechtsverletzungen zur Anklage, in keinem Fall wanderten die Verantwortlichen ins Gefängnis. Die entsprechende Bilanz seines Nachfolgers Eduardo Frei, ebenfalls Christdemokrat und seit März 1994 an der Spitze einer Koalition aus Mitte-Links-Parteien, wird kaum besser ausfallen. Chile sonnt sich im Glanze seines Wirtschaftswunders und fiebert mehrheitlich der bevorstehenden Aufnahme in die NAFTA entgegen. Von Gerechtigkeit für die Opfer der Diktatur spricht fast niemand mehr.
Nur ab und zu führt die Menschenrechtsproblematik vergangener Jahre zu kleinen politischen Erdbeben: Fernando Castillo war erst wenige Wochen als Gouverneur von Santiago im Amt, als er sich offen für die Genehmigung einer Demonstration der Hinterbliebenen der Opfer des Pinochet-Regimes am 11. März vor dem Regierungspalast aussprach. Frei ließ die Demo verbieten – zweifellos auf Druck der Militärs – und setzte seinen Parteifreund Castillo kurzerhand ab. Der sozialistische Innenminister Germán Correa mußte seinen Hut nehmen, nachdem er sich allzu deutlich für die Entlassung von Polizeichef Rudolfo Stange ausgesprochen hatte. Stange hatte die Untersuchungen über die Ermordung von drei Kommunisten im Jahre 1985 durch falsche Aussagen behindert und wurde vorübergehend beurlaubt.
Der weitgehend reibungslose Abgang der Militärs wurde mit einer Reihe von Zugeständnissen erkauft. Die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, ist politisch nahezu unmöglich. Einzige Ausnahme von der bisherigen Praxis, alles unter den Teppich zu kehren, ist jetzt die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den langjährigen Leiter des gefürchteten Geheimdienstes DINA, Manuel Contreras, und seinen Stellvertreter. Möglich wurde die Eröffnung des Verfahrens durch die Intervention der USA, wo der Mörder von Letelier, Michael Townley, zu vier Jahren verurteilt worden war. Vor Gericht erklärte er, im Auftrag der DINA gehandelt zu haben. Deren einst allmächtiger Chef Contreras, der die Drecksarbeit für das Regime erledigt hatte, könnte nun das Bauernopfer sein, um das leidige Thema der Menschenrechtsverletzungen ein für alle Mal abzuhaken.
Wie unabhängig ist die Justiz?
Vor der Wiederaufnahme des Verfahrens wurde von allen Seiten Druck auf die Richter ausgeübt. Der weiterhin als Oberbefehlshaber des Heeres amtierende General Pinochet schickte eigens seinen Stellvertreter zum Justizministerium, um nachdrücklich das Interesse der Armeeführung an einer Herabsetzung des Strafmaßes auf fünf Jahre zu bekunden. Die Regierung verhält sich betont neutral. Verteidigungsminister Pérez Yoma verwies den Ex-Diktator auf die Unabhängigkeit der Justiz, als dieser ihn auf die Probleme ansprach, die das Urteil gegen Contreras im Heer hervorrufen dürfte. Die Armee könne nicht einerseits global die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen ablehnen und sich andererseits derart bedingungslos hinter jemanden stellen, der genau deswegen verurteilt worden sei.
Bedrohlicher Riß in der Armee
Das chilenische Militär ist in dieser Frage gespalten. Heereschef Augusto Pinochet ist enormem Druck aus den eigenen Reihen ausgesetzt. Die Hardliner betrachten die Verurteilung eines der ihrigen, zudem eines Generals, für ein Sakrileg und einen unzulässigen Eingriff der Zivilstrafrichter in die Belange der Armee. Außerdem fürchten sie, daß ein derartiges Urteil in der Frage der Vergangenheitsbewältigung bahnbrechend sein und es ihnen ebenso an den Kragen gehen könnte. Hartnäckig halten sich Gerüchte, daß Contreras im Falle einer Haftstrafe in einer Kaserne vor dem Zugriff des Strafvollzugs geschützt wird.
Andererseits waren Contreras und die DINA unter den Uniformierten nie unumstritten. Die Auflösung dieses Militärgeheimdienstes bzw. seine Umstrukturierung zur CNI entsprach nicht zuletzt der Kritik aus den eigenen Reihen, die vornehmlich in der Luftwaffe und Marine laut wurde. Im Bewußtsein des fehlenden Rückhalts in den militärischen Chefetagen haben sich die Folterer und Mörder aus den Reihen der DINA seit vielen Jahren dagegen verwahrt, als Sündenböcke herzuhalten. Mit dem nahenden Ende der Diktatur wuchs das Bemühen, sich von deren Exzessen abzusetzen. “Die moralischen Vorstellungen von General Contreras unterscheiden sich von dem, was ich für richtig halte!” Wer das sagte, war nicht etwa ein Folteropfer oder ein ehemaliger politischer Gefangener, sondern niemand Geringerer als der ehemalige Vordenker und Chefideologe des Pinochet-Regimes, Jaime Guzmán. Bereits im Juli 1989 stand Contreras wegen des “Verschwindens” der Geschwister Andrónicos vor Gericht. Der inzwischen einem Attentat zum Opfer gefallene Guzmán war als Zeuge geladen und betonte den “tiefen Gegensatz”, in dem er während der Militärherrschaft zu Contreras gestanden habe. Auf die Frage nach den Methoden von General Contreras antwortete der eloquente Guzmán damals: “Ich glaube, es waren die wirkungsvollsten für seine Ziele, sie hielten aber wesentlich geringeren moralischen Anforderungen stand, als ich sie für erforderlich halte.” Folgerichtig habe er entscheidenden Anteil an der Auflösung der DINA gehabt.
Im Berufungsverfahren im Mordfall Letelier kann Guzmán nicht mehr aussagen. Der angeklagte Schlächter des Regimes hat ihn überlebt. Doch der einst mächtige Geheimdienstchef, der in den ersten Jahren die Drecksarbeit für Pinochet erledigte, könnte zum Bauernopfer der Aufarbeitung der jüngeren chilenischen Geschichte werden. Wird das Urteil der ersten Instanz bestätigt, wo Contreras zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war, muß er seine Strafe in einem normalen Gefängnis absitzen. Der Versuch der Frei-Regierung, eigens für Verbrecher wider die Menschlichkeit ein Spezialgefängnis bauen zu lassen, hätte vielleicht die Haudegen des Heeres beruhigt, war politisch jedoch nicht durchsetzbar. Einen möglichen Ausweg bietet die Verkürzung des Strafmaßes auf fünf Jahre: Nach einem Gesetz der Aylwin-Regierung könnte die Haftstrafe dann nämlich in Hausarrest umgewandelt werden. Mit einem solchen Urteilsspruch könnte sich der überwiegende Teil der Gesellschaft in dem südamerikanischen Land arrangieren. Einerseits würde damit die Schuld des ehemaligen DINA-Chefs festgestellt, andererseits müßte kein Militär tatsächlich ins Gefängsnis wandern.