Argentinien | Nummer 341 - November 2002

Créditos statt Pesos

Durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch boomen in Argentinien die Tauschmärkte

Mangels Pesos im Portemonee weichen die ArgentinierInnen zunehmend auf Tauschmärkte aus, um sich mit Lebensmitteln, Kleidung und verschiedenen Dienstleistungen zu versorgen. Durch den Tauschhandel entstehen neue Arbeitsplätze und neue Perspektiven für die Bevölkerung. Der größte der Märkte, auf denen der Crédito gültige Währung ist, findet einmal pro Woche in der Provinz Mendoza statt.

Mirco Lomoth

In der warmen Wintersonne drängeln sich die Menschenmassen zwischen den dicht gestellten Tischen. Ein Kessel für den Mate-Tee dampft auf dem Feuer. Die Leute preisen mit lauten Stimmen ihre Waren an, übertönt von der Andenfolklore, mit der die Gruppe „Vocal Cuyo“ von einer zentralen Bühne aus den Platz beschallt.
Das Gemeindegelände von Lujan de Cuyo in der argentinischen Andenprovinz Mendoza diente bislang hauptsächlich für die Feierlichkeiten der kleinen Stadt. Doch das hat sich geändert, seit die Zeiten schlechter geworden sind in Argentinien. Heute kommen jeden Samstag an die 30.000 Besucher und verwandeln das abgezäunte Gelände in den größten Tauschmarkt des Landes. Eine Sphäre des geldlosen Handels, die den Leuten die Möglichkeit bietet, an benötigte Produkte zu kommen. Denn Geld haben zurzeit nur Wenige in Argentinien: Über die Hälfte der Bevölkerung ist von Armut betroffen, der Arbeitslosenanteil liegt weit über 20 Prozent. Die Tauschwirtschaft, trueque genannt, scheint eine Antwort auf diese Situation zu sein: Über 5000 dieser Märkte existieren bereits in Argentinien.
Der Andrang auf die angebotenen Produkte zeigt, wie wichtig den Leuten der Tauschhandel in den Zeiten der Krise ist. Obst, Gemüse, selbst gebackenes Brot und Kuchen wechseln dabei am häufigsten den Besitzer. Doch die Palette der Angebote geht längst über Grundnahrungsmittel und Basisprodukte hinaus, auch FriseurInnen, SchlüsselmacherInnen oder Zimmerleute bieten ihre Dienste zum Tausch an. In einem kleinen Zelt, mitten zwischen Zuckerwatte und gebrauchten Autoteilen, werden Zahnuntersuchungen angeboten. An einem anderen Zelt wirbt ein handgeschriebenes Schild für Akupunktur und chinesische Massage. Der treque ist an vielen Orten längst zu einem Parallelmarkt geworden, der die Bedürfnisse der wachsenden Zahl von Menschen erfüllt, die durch die Wirtschaftslage von der regulären Geldwirtschaft weitgehend ausgeschlossen bleiben. Trotz ihrer Größe und Verbreitung sind die Tauschmärkte in Argentinien keine Konkurrenz für den freien Markt, sie existieren vielmehr parallel und erfüllen eine spontane Aufgabe: Die Lebensqualität der Menschen in einem Land zu erhöhen, das die tiefste wirtschaftliche Krise seiner Geschichte durchmacht.

Ein Crédito für vier Knollen Knoblauch

Inés García kommt seit sechs Monaten zum Tauschmarkt von Lujan de Cuyo, seit die Krise sich auch in ihrem Geldbeutel bemerkbar machte. Selbst gefertigten Schmuck bietet sie an: Kleine, eingefasste Halbedelsteine als Anhänger, die dem Träger Glück in der Liebe versprechen oder Gesundheit – vielleicht auch einen Geldsegen. Mit dem Geschäft auf dem trueque ist sie zufrieden. „Hier werde ich viel mehr los als üblich – auf der Straße gibt es doch sowieso kein Geld“, sagt sie, ohne zu lächeln. Für sechs Créditos ist bei ihr der günstigste Stein zu haben. Créditos, das sind die kleinen, grünbedruckten Scheine mit der Aufschrift „Ticket Trueque“, über die jeder Tauschhandel läuft, um einen komplizierten direkten Tausch zu vermeiden. Diese Tauschwährung wird vom „Red Global de Trueque“ herausgegeben, der größten Gemeinschaft der Tauschmärkte in Argentinien. Den Tauschwert eines Produktes in Créditos legt der Anbieter fest, in der Regel in Anlehnung an den Marktwert. Dabei gleicht ein Crédito offiziell etwa einem Peso, liegt aber durch die gestiegenen Preise oft im Wert darunter. Gustavo Ortolán, der kistenweise Knoblauch im Angebot hat – vier Knollen für einen Crédito – ist sich sicher: „In Wirklichkeit liegt der Wert eher bei einem halben Peso“. Gustavo ist Besitzer einer kleinen Finka in der Nähe von Lujan und versucht jeden Samstag auf dem „trueque” das loszuwerden, was er auf dem normalen Wochenmarkt nicht verkaufen kann. Glücklich scheint er dabei nicht zu sein: Er denke daran auszuwandern, einen italienischen Pass habe er bereits, erzählt er später. Seine Hoffnung sei es, nach Deutschland zu kommen und sich dort eine Anstellung als Schweißer zu suchen. „Anstatt hier zu stehen und Knoblauch zu tauschen“, sagt er verächtlich und wirft dabei ein paar Knollen Knoblauch in den Holzkasten zurück. Aussichten gäbe es hier sowieso keine mehr. „Argentinien ist so ein reiches und so ein armes Land, die Politiker stecken sich alles in die eigene Tasche“.

Neue Arbeit durch den trueque

Olga Colosimo war von Anfang an eine Organisatorin des trueque in Lujan de Cuyo. Sie engagiert sich ehrenamtlich und mit vollem Einsatz. Die Leute drängen von allen Seiten an sie heran, keine Minute kommt sie zur Ruhe, macht Ausrufe über das Mikrofon, löst Streitigkeiten, überprüft die Echtheit von Créditos. „Ich liebe es unter den Leuten zu sein, mit ihnen zu sprechen und zu tanzen“, sagt sie mit einer ansteckenden Fröhlichkeit und fordert über das Mikrofon die Marktbesucher zum Tanzen auf, während aus den Lautsprechern Latino-Rhythmen über das Gelände wummern. „Wir wollen hier die Mentalität der Argentinier verändern“, sagt sie, „die Leute sollen lächeln können, wenn sie nach Hause gehen“. Seit sechs Jahren ist Olga mit dabei, seit alles mit nicht mal zwanzig Leuten in einer Schulhalle in Lujan angefangen hat. Heute scheint sogar das Gemeindegelände knapp bemessen für die wachsende Zahl an Besuchern. Die Größe bringt auch Probleme mit sich, insbesondere die vielen Fälschungen von Créditos, die im Umlauf sind. Schon mehrfach sind illegale Druckereien aufgeflogen, in denen die Tauschwährung massenweise gefälscht wurde. Neue, sicherere Créditos sollen nach und nach eingeführt werden, um ein Fälschen zu erschweren.
Durch die Tauschmärkte soll die Solidarität unter den Menschen gefördert und eine neue Perspektive geschaffen werden, so die Organisatoren. „Unsere Absicht ist es, Leute zum Produzieren zu bringen, die vorher arbeitslos waren“, fasst Salvador Martinez zusammen, der wie Olga von Anfang an in Lujan mit dabei war. „Dadurch wird der interne Markt aktiviert und die Leute können arbeiten und haben eine Perspektive“. Am Eingang zum trueque prangt daher ein großes Schild: „Kein Eintritt ohne eigene Produktion“ und ein Weiteres – „Bezahlen mit Pesos verboten, es wird eine Strafe erhoben“. Der Markt erscheint wie ein geregeltes Chaos. Um die 200 Ordner sorgen dafür, das alles nach den Regeln verläuft. Auch sie waren vorher arbeitslos und erhalten jetzt einen Lohn in Créditos. „Der trueque schafft neue Arbeitsplätze“, sagt Martinez. Erst vor kurzem habe man mit einer Recycling-Firma eine neue Zusammenarbeit ausgehandelt, bei der gesammeltes Altglas gegen Mehl und Zucker eingetauscht würden – 28 Altglas-Flaschen für jeweils ein Kilo Mehl oder Zucker.
Solche Arten der Zusammenarbeit des „Red Global de Trueque“ mit Unternehmen der freien Wirtschaft weiten sich immer weiter aus. Seit Juni gibt es bereits die erste Apotheke, in der, durch die Zusammenarbeit mit Pharma-Konzernen, Medikamente zur Hälfte in Créditos und zur Hälfte in Pesos erstanden werden können. Seit Mitte Juli können auch Zugfahrten der privaten Gesellschaft Ferrobairres teils in Pesos, teils in Créditos bezahlt werden. Salvador Martinez ist sich sicher: „im Grunde kann man auf dem Trueque alles bekommen, was notwendig ist .“ Und mit einem Lächeln fügt er hinzu: „Sogar die Prostituierten drüben an der Autobahn sollen schon die Créditos nehmen“.

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