Nummer 299 - Mai 1999 | Sachbuch

Da piepst der Schwan im Entennest

Ein Jahrhundert puertoricanischer Geschichte im Spiegel der Literatur

Die von Frauke Gewecke zusammengestellte Anthologie von 26 Texten puertoricanischer AutorInnen diesen Jahrhunderts umfaßt Gedichte, Erzählungen, Romane und ein Theaterstück. Versehen mit einem begleitenden Essay zur puertoricanischen Geschichte, bietet sie NeueinsteigerInnen einen guten Einblick in die Widersprüchlichkeit und Vielfalt der Auseinandersetzung dieser Insel mit der immer gleichen Frage: Wer sind wir und wo wollen wir hin?

Monika Feuerlein

Seit der Invasion der US-amerikanischen Truppen 1898 dreht sich in Puerto Rico alles um die Frage nach dem künftigen Status für die Kolonie. Die Verfechter der Unabhängigkeit, des Anschlusses an die USA oder der derzeitigen Autonomie argumentieren dabei hauptsächlich mit der puertoricanischen Kultur – denn ernstzunehmende Alternativen zur gegenwärtigen Situation wissen sie alle nicht zu bieten (vgl. LN 296). Akademische Kreise auf der Insel sprechen von einem „Nationalismus light“ – einem vergeistigten Nationalismus, der sich auf Kultur als letzte Sphäre begrenzter nationaler Souveränität stürzt und aus dem engen politischen Handlungsspielraum innerhalb der kolonialen Zwänge resultiert. Seine Vertreter überzeugten weniger durch ihre Taten als durch rhetorische und literarische Bravour.
Nichts liegt somit näher, als eine Abhandlung der puertoricanischen Geschichte im Opus der puertoricanischen Literatur zu spiegeln. Frauke Gewecke, Dozentin am Romanischen Institut der Universität Heidelberg, nahm den hundertsten Jahrestag der Invasion US-amerikanischer Truppen in Puerto Rico zum Anlaß, um einen solchen zweigleisigen Rückblick auf das letzte puertoricanische Jahrhundert zu wagen und ein schwarzes Loch auf dem deutschen Büchermarkt zu schließen. Seit 1998 liegt das zweibändige Ergebnis in den Farben Puerto Ricos im Vervuert Verlag vor: Eine Anthologie von 26 herausragenden Texten puertoricanischer AutorInnen von 1898 bis zur Gegenwart, in zum Teil erstmaliger deutscher Übersetzung (roter Einband). Und ein begleitender Überblick über die puertoricanische Politik, Wirtschaft und Gesellschaft seit der Kolonialzeit (blauer Einband).
Blau skizziert auf 120 Seiten knapp, aber fundiert die historischen Parameter, die trotz des mehrfachen Kulissenwechsels auf der Bühne der puertoricanischen Politik stets von neuem auch unwillige Akteure fast zwanghaft auf die bis heute ungelöste Frage nach dem Verhältnis zwischen der politischen und der nationalen Identität der Insel stießen, jedoch nie zu einer ernstzunehmenden separatistischen Bewegung führten.

Spagat im kolonialen Hinterhof

Possibilismo, das Streben nach dem Machbaren, nennt sich das keinesfalls als Untugend verstandene Kunststück, das die puertoricanischen Politiker vollführen und das gehöriges rhetorisches Geschick erfordert. Gemeint ist die Geschicklichkeit, die Gunst der Metropole zu gewinnen, um sich an der Macht der Kolonialherren zu beteiligen, gleichzeitig aber dem Volk zu vermitteln, daß es sich bei diesem vorrangig persönlichen Anliegen um ein ‘nationales Projekt’ handelt. Dies erfordert, Veränderungen im politischen Gewebe rechtzeitig zu erkennen, blitzartig eine programmatische Pirouette zu vollziehen und dann – um von den eigenen wackeligen Füßen abzulenken – zornig einen anklagenden Finger gegen den Gegner – dito der oppositionellen Partei im Lande – auszustrecken. Das programmatische Gezeter verstärkte die Mißbilligung der ernsten Herren im US-Kongreß und verursachte Irritationen auf beiden Seiten der Karibik: Keiner wußte je so recht, was die beiden so verschiedenen Länder eigentlich zusammenführte.
Rot versammelt politische Pamphlete, Interviews, Essays und Artikel, die jener geschickt taktierenden Rhetorik, aber auch verschiedenen Überzeugungen bezüglich der Statusfrage Ausdruck geben, sowie Auszüge jener literarischen Klassiker, die zu Bezugspunkten des nationalen Identitätsdiskurses wurden. Viele der Dokumente sprechen für sich, die Auswahl der jeweiligen Texte der Autoren erscheint allerdings etwas kryptisch. Abgedruckt wurden Stellungnahmen von Muñoz Rivera und Celso Barbosa, den Vorsitzenden der beiden Parteien, die sich nach der US-amerikanischen Invasion formierten und sich trotz programmatischer Nähe bis aufs Blut befehdeten. Beide sahen die Integration in das demokratische System der USA als eine Chance für ihre Insel, “endlich frei zu sein“ und brachten damit die überhöhten Erwartungen zum Ausdruck, die damals viele Puertoricaner teilten. Celso Barbosa, der sich als Wortführer bedingungsloser Amerikanisierung hervortat, wurde von der US-amerikanischen Administration bevorzugt und Rivera ging ins Exil – wie viele puertoricanische Exilierte ausgerechnet nach New York. Leider fehlt in der Anthologie jedoch eine spätere Stellungnahme von Rivera, der angesichts der Indifferenz der US-Amerikaner und des wachsenden Unmuts in der puertoricanischen Bevölkerung seine Position modifizierte. Gleiches gilt für den 1936 veröffentlichten Text von Luis Muñoz Marín. Als Kontrapunkt zu diesem Dokument aus seiner parteipolitisch noch ungefestigten Zeit, als der Politiker Autonomie als „Freiheit an der langen Leine“ ablehnte und sich alternativenlos der Unabhängigkeit verschrieb, fehlt eine Textprobe zu seiner langjährigen Inkarnation als gütiger Patriarch des Commonwealth, der sich nun selbst in jenem Faltenwurf der Autonomie versteckte, der sich so gut zur Schau trug, da er „die Lumpen der Kolonie verdeckt und der Toga der Unabhängigkeit ähnelt“.

Auswege aus dem kulturellen Schleudertrauma

Weniger Irritation ruft die Zusammenstellung der literarischen Vertreter hervor, denn diese umfaßt unbestritten die im Nationalitätsdiskurs meist erwähnten Texte. Antonio Pedreira, intellektuelle Leitfigur der 30er Jahre, gab mit seinem heute noch zitierten Essay insularismo neben dem Kulturschock (durch den Hoheitswechsel) auch der Insellage und der als con-fusión empfundenen mestizaje die Schuld an der Orientierungslosigkeit und der angeblich so gefügigen puertoricanischen Mentalität. Mit der Unterscheidung zwischen der US-amerikanischen Zivilisation und der überlegenen hispano-amerikanischen Kultur zielt er ab auf ein bourgoises Programm der Rehispanisierung der puertoricanischen Kultur.
Doch weiß sich der als „das häßliche Entlein“ verkannte stolze Schwan Puerto Rico, den laut einem gleichnamigen Gedicht von Luis Lloréns Torres die drei Gluckenkaravellen des Kolumbus als Ei in das Nest der „fetten nordamerikanischen Ente“ legten, auch subtil-ironisch gegen die feiste Nordamerikanisierung zu verteidigen. Und über den Passagen aus dem 1925 veröffentlichten Roman Die Erlöser von Manuel Zeno Gandía, der die Intrigen und Selbstgefälligkeiten US-amerikanischer wie lokaler Politiker demaskiert, liegt trotz der beißenden Kritik ein verliebtes Schmunzeln über diese Menschen, die den einen Tag pathetisch ihre nationalen Helden ehren und den anderen süffisant verkünden: „Mein Vaterland ist blond und heißt Bertha.“

Selbstbewußter Hüftenschwung

Während die Lyriker und Romanciers der 30er bis 50er Jahre das authentisch Puertoricanische im Jíbaro – dem Campesino des bergigen Landesinneren – und im kulturellen Erbe Spaniens suchten, dessen paternalistische Strukturen sie verklärten, rehabilitierten die Autoren der 70er den afro-amerikanischen Kultureinfluß und priesen die Synthese oder das Zusammenleben von Taino, afro-amerikanischer und hispanoamerikanischer Kultur. Undenkbar in den 30ern: Luis Palés Matos musikalisch phrasiertes Gedicht „Laß die Hüften schwingen (Plena)“ (1953) trägt provokativ den erotischen Tanz einer Mulattin, Symbol einer nicht kolonisierbaren kulturellen Energie, zur Schau, der einstige Vorwurf der Obszönität wäre nun ein Sakrileg.
Schwer verdaulich ist dagegen der viel diskutierte Essay „Der gefügige Puertorikaner“ (1960) von René Marqués, der mit drei Textproben vertreten ist. Der Autor analysiert erbarmungslos die kollektive puertoricanische Psyche oder Mentalität, die er zwar nicht als angeboren, wohl aber als irreversiblen Defekt bezeichnet. Seine Überlegungen sind nicht nur wegen seiner teils aus selbstverfaßten literarischen Werken stammenden Belege zweifelhaft, über die These, das heutige Gerede vom demokratischen Puertoricaner sei nur eine zeitgemäßere Umschreibung dessen, was den Politikern in den 20er Jahren als “demütig und ergeben” in den 30ern als “fatalistisch” und später “tolerant und friedfertig” gegolten habe, lohnt sich dennoch nachzudenken.

Memorial in Badehosen

Glücklicherweise läßt der charmante Abschlußtext des Autors Rodríguez Julía wieder aufatmen und ermöglicht einen versöhnlich-beschwingten Abgang aus der 98-er Spirale: Als “Motive der Rührung im Zeichen des Mittelmaßes“ demaskiert dieser Autor die nationalgeschichtliche Überfrachtung der Bucht von Guánica, wo einst die Truppen landeten und nun alljährlich ein paar abgekämpfte Unabhängigkeitskämpfer auf badehosige Gelegenheitsnationalisten treffen, um einen lächerlich-pathetischen Abgesang auf die Nation zu singen.
Spätestens nach diesem letzten Text wird man sich dankbar auf die Bio-Bibliographie der einzelnen Autoren stützen, die jedem Text vorangestellt ist und eine erste Einordnung des Gelesenen ermöglicht. Neueinsteigern kann das blau-rote Vermächtnis von Frauke Gewecke einen guten Überblick über die wichtigsten Quellen – historiographisch, dokumentarisch und literarisch – zur puertoricanischen Auseinandersetzung mit der eigenen Situation vemitteln, der zur Weiterschau ermutigt. Literaturfreaks dürfte die Auswahl der Texte allerdings zu dürftig sein, und letztendlich bleiben die Dokumente und der geschichtliche Abriß auch voneinander weitgehend isoliert. Schade ist, daß die Autorin die Möglichkeit des Blicks von außen nicht genutzt hat, um die Brücke zu der inzwischen fast ebenso großen Gemeinde der in den Staaten lebenden Puertoricaner zu schlagen. Deren reiche literarische Produktion wird vom kulturellen Establishment der Insel auch gerne mit der Begründung, sie schrieben nicht auf spanisch ignoriert – ein fadenscheiniges Argument, bedenkt man, daß viele der in der Anthologie versammelten Autoren eine Zeit in den USA verbrachten und ihre ersten Texte ebenfalls in englisch veröffentlichten. Grund ist wohl eher, daß die US-Autoren eine eher sozialkritische und von ihrer Erfahrung als farbige Minderheit in den USA geprägte Auseinandersetzung mit Identität führen, die dem von der Commonwealth-Rhetorik bestimmten Kanon unbequem ist. In den puertoricanischen Anthologien, die in den USA veröffentlicht wurden, sind die Inselautoren in jedem Fall zu finden, und es bleibt zu hoffen, daß auch in deutscher Sprache bald ein Versuch gemacht wird, der die Insel- und die Festlandperspektive zusammenbringt.

F. Gewecke: Puerto Rico zw. beiden Amerika. Band 1: Zur Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur einer Nation im territorialen Niemandsland (1898-1998). Vervuert Verlag, Frankfurt a.M. 1998,132 S., 32,-DM (ca. 8 Euro).
F. Gewecke (Hg.) Puerto Rico zw. beiden Amerika. Band 2: Konfliktive Wirklichkeit im Spiegel der puertoricanischen Literatur (1898-1998).Vervuert Verlag, Frankfurt a.M. 1998, 262 S., 36,-DM (ca. 10 Euro).

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