Mexiko | Nummer 427 - Januar 2010

Dampfkochtopf Oaxaca

Ein Bericht über die explosive Stimmung im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca

Der mexikanische Journalist Pedro Matías ist einer der besten Kenner der Situation in seinem Heimatstaat Oaxaca. Aufgrund seiner mutigen Artikel gegen die Repression wurde er Opfer eines Überfalls und lebt seither vorübergehend in Deutschland. Für die Latein-amerika Nachrichten berichtet er über die aktuelle Lage in Oaxaca: Den Stand der sozialen Bewegung, die Repression der Regierung, die Straffreiheit für die Verantwortlichen und die Weichenstellung für 2010.

Pedro Matías

Das Gute vorweg: Trotz der nicht verheilten Wunden, die der Konflikt 2006/2007 mit ungefähr 500 Festgenommenen, 380 Folterfällen, 26 Ermordeten und sieben „Verschwundenen“ hinterlassen hat, besteht die soziale Bewegung in Oaxaca immer noch. So ist auch ihr 2006 gegründetes organisatorisches Dach, die Volksversammlung der Völker Oaxacas (APPO), weiterhin existent. Allerdings ist die APPO tief gespalten durch einige ihrer Gruppen, die sich mit Hingabe internen Kämpfen widmen. Auch die Regierung des Bundesstaats hat ihren Teil dazu beigetragen. Einerseits ist es ihr gelungen, Zwietracht unter den Gruppen zu säen, andererseits hat sie durch die massive Repression, die Folterfälle und selektiven Verhaftungen Angst bei den AktivistInnen geschürt. Doch trotz aller Probleme ist die soziale Bewegung in Oaxaca nicht am Ende, im Gegenteil: Sie ist lebendiger als zuvor. Doch hat sie ihre Lektion von 2006, dem Jahr ihrer gewaltsamen Niederschlagung, gelernt und agiert nicht mehr so sichtbar. Stattdessen arbeitet jeder Sektor auf seinem Gebiet weiter. Um es mit den Worten des Intellektuellen Gustavo Esteva zu sagen: „Mit der Repression von 2006 haben die Bundes- und die Bundesstaatsregierung nur einen Deckel auf den Dampfkochtopf gepresst, der weiterhin kocht und kurz vor der Explosion steht.“
In der Tat konzentrieren sich in Oaxaca soziale Elemente von höchster Explosivität, die detonieren könnten, falls sich der derzeitige Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) entscheiden sollte, bei den Gouverneurswahlen 2010 Jorge Franco Vargas als Kandidaten aufzustellen. Vargas, in Anspielung auf die Hollywood-Mörderpuppe „El Chucky“ genannt, war als damaliger Innenminister der direkt Verantwortliche für die gewaltsame Räumung des Protestcamps der LehrerInnen im Juni 2006, die die soziale Revolte auslöste.
Inzwischen hat sogar der Oberste Gerichtshof Mexikos SCJN die Schuld von Ruiz Ortiz an der Repression festgestellt. In seinem Gutachten vom 14. Oktober heißt es, der Gouverneur habe die Menschenrechte schwer verletzt. Allerdings hat das Gutachten nur einen Empfehlungscharakter für andere Institutionen, was de facto bedeutet, dass es keinerlei Konsequenzen hat. Es ist es nur ein weiterer Fall, der die Straflosigkeit beweist.
So wird Ruiz Ortiz nicht nur auf seinem Gouverneursposten bleiben, sondern auch künftig keinerlei strafrechtliche oder politische Verantwortung übernehmen müssen. Zu verdanken hat er dies den bestehenden gesetzlichen Leerstellen, aber vor allem der Komplizenschaft, die immer noch zwischen der Exekutive, Legislative und Judikative besteht.
Um das Ausmaß der Ungerechtigkeit in der Strafverfolgung zu begreifen, muss man sich vor Augen führen, dass in Mexiko und speziell in Oaxaca verschiedene Indígenas ins Gefängnis gesteckt wurden, weil sie aus Hunger Leguane gejagt oder Schildkröteneier gegessen hatten.
Die Gouverneure hingegen können sich totaler Straffreiheit erfreuen. Ulises Ruiz ist da kein Einzelfall. Nehmen wir nur den Gouverneur von Puebla, Mario Marín, der erwiesenermaßen Kinderschänder schützt und die in diesen Fällen recherchierende Journalistin Lydia Cacho festnehmen ließ (siehe LN 380). Oder Enrique Peña Nieto, der als Gouverneur des Estado de México für die Repression im Fall Atenco verantwortlich ist (siehe LN 384). Schlimmer noch, diesen Politikern scheint eine große Karriere bevorzustehen. Peña Nieto gilt als aussichtsreichster Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2012, unterstützt vom Mediengiganten Televisa und der alten Garde seiner Partei PRI. Ulises Ruiz hingegen strebt den Parteivorsitz der PRI an, sobald sein Mandat 2010 endet.
Nein, die Bedingungen unter denen die MexikanerInnen momentan leben müssen, sind alles andere als vorteilhaft. Ihr Leben ist geprägt von der Gewalt, der politischen, der sozialen und der, die von der organisierten Kriminalität ausgeht und das Land an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. Im Fall von Oaxaca gilt zudem die Fortführung eines politischen Systems, das der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa einst auf den Punkt brachte: „Mexiko, das ist die perfekte Diktatur“. Damit gemeint ist die Fähigkeit des politischen Systems unter der PRI, sich selbst immer wieder neu zu erfinden und sich so seit fast 80 Jahren an der Macht zu halten. So passt auf Oaxaca auch nach wie vor der Titel der Kurzgeschichte des Schriftstellers Augusto Monterroso: „Und als er aufwachte, war der Dinosaurier immer noch da.“
Und der Dinosaurier namens PRI will immer noch weiter machen. Die Bundesstaatswahlen in Oaxaca rücken näher und Ulises Ruiz und die Parteiführung konzentrieren all ihre Kräfte und die öffentlichen Mittel darauf, an der Macht zu bleiben, um so bei den Präsidentschaftswahlen 2012 wieder ganz das Land zu übernehmen.
Dabei wird Ulises Ruiz allerdings den Überdruss der Bevölkerung Oaxacas umschiffen müssen, angesichts eines politischen Systems, das die Armut verwaltet, statt sie zu bekämpfen. In Oaxaca konzentrieren sich 49 der 100 ärmsten Gemeinden Mexikos. Laut einer Studie des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen sind die Bedingungen in einigen dieser Gemeinden mit denen im subsaharischen Afrika vergleichbar. Verschärft wird die Armutssituation durch einen deutlichen Rückgang der remesas, den überlebenswichtigen Geldtransfers der in die USA emigrierten Oaxaqueños. Deren Summe sank im ersten Halbjahr 2009 um ca. 78,5 Millionen US-Dollar, im Vergleich mit dem Vorjahr bedeutet das einen Rückgang um 6,2 Prozent.
Ein weitere Hürde für die PRI könnte sein, dass fast alle oppositionellen politischen Kräfte in Oaxaca ihre Bereitschaft erklärt haben, sich zu einer großen Allianz zusammenzuschließen, um das fast 80 Jahre währende autoritäre Regime der PRI zu beenden, das den Bundesstaat in einer beleidigenden Armut belassen hat.
Die Explosivität dieser Gemengenlage erhöht sich zudem durch einen weiteren Akteur, die Guerilla Revolutionäres Volksheer EPR. Im Mai 2007 „verschwanden“ in Oaxaca-Stadt zwei ihrer Mitglieder, Edmundo Reyes Amaya und Gabriel Alberto Cruz Sánchez. Nach Angaben der EPR sind sie verhaftet worden (siehe LN 401). Seitdem forderte die EPR in mehreren Kommuniqués einen Beweis von Ulises Ruiz dafür, dass sie noch am Leben sind. Im Falle einer Verweigerung kündigte sie weitere militärische Aktionen an. Ihre Schlagkraft hat die EPR mit ihren Bombenanschlägen auf Erdgas- und Erdölleitungen in mehreren Bundesstaaten bereits bewiesen.
Währenddessen setzen viele AktivistInnen auf den historischen Zyklus, der sich Jahr 2010 im schließen soll. Nach der mexikanischen Unabhängigkeit im Jahr 1810 und dem Beginn der Revolution 1910 erwarten sie Großes für das nächste Jahr: „Wir sehen uns 2010“ ist an vielen Wänden zu lesen. Angesichts all dieser Umstände nimmt auch die Unruhe bei der Bundes- und der Bundesstaatsregierung zu. Sie reagieren mit der Intensivierung ihrer Strategien der Aufstandsbekämpfung und der Repression: Selektive Festnahmen, Strafmaßnahmen gegen die sozialen KämpferInnen und Einschüchterung der VerteidigerInnen der Menschenrechte. Oaxaca steht ein heißes Jahr bevor.

Übersetzung: Manuel Burkhardt

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