Mexiko | Nummer 435/436 - Sept./Okt. 2010

„Dann holt doch die USA“

Alternativen zur fatalen Verbrechensbekämpfung in Mexiko sind nicht leicht zu finden

Der so genannte Drogenkrieg beherrscht die Schlagzeilen über Mexiko. Die massive Militarisierung unter Präsident Felipe Calderón hat die Situation verschärft, soziale Bewegungen und Menschenrechtsgruppen haben dem bisher wenig entgegen zu setzen. Die Lateinamerika Nachrichten dokumentieren einen Ausschnitt aus Anne Huffschmids neuem Buch Mexiko – das Land und die Freiheit. das gerade im Rotpunktverlag erschienen ist.

Anne Huffschmid

Die Uniformierten auf den offenen Lastern, die in Ciudad Juárez auf allen größeren Straßen mit Schnellfeuergewehren patrouillieren, sind Soldaten. Das ist nicht selbstverständlich, die mexikanische Verfassung sieht den Einsatz der Armee zum Schutz der inneren Sicherheit nicht vor. Dennoch gehören die Militärpatrouillen hier seit ein paar Jahren zum Straßenbild. Rund 10.000 Sicherheitskräfte, darunter 7.000 Soldaten, sind seit dem Frühjahr 2008 im Einsatz.
Fernando Hernández gehört nicht zu denen, für die eine Uniform per se Ungutes verheißt. Im Gegenteil. Im Unterschied zur Polizei genieße das Militär, glaubt er, ja zumindest den Ruf, nicht korrupt zu sein. „Aber sie benehmen sich nicht respektvoll“, sagt er in seiner zurückhaltenden Art. Viermal haben sie ihn schon verhaftet, zweimal vor seinen Kindern. Er getraute sich nicht, sich zu beschweren, „wir legen uns besser nicht an mit den Behörden“. Einer seiner Neffen sitzt seit drei Monaten hinter Gittern. Der junge Mann wollte nur aussagen, als Zeuge eines Überfalls auf die Tankstelle, in der er arbeitet. Prompt hatte er eine Anklage als Entführer am Hals. Da Entführungen derzeit die Hauptsorge der „normalen“ Bevölkerung sind, sollen auf Anweisung des Gouverneurs nun verstärkt „Entführer“ festgenommen werden.
Landesweit hat Präsident Felipe Calderón seit seinem Amtsantritt im Dezember 2006 fast 50.000 Soldaten in den War on drugs geschickt. Nach Berechnungen des Menschenrechtszentrums Miguel Agustín Pro Juárez wurden von 2006 bis 2009 fast 40 Prozent mehr Soldaten für Sicherheitsaufgaben eingesetzt als in den Jahren zuvor. Mit einem neuen Gesetz soll das zumindest nachträglich legalisiert werden.
Aber die frontale Kriegslogik hat die Gewalt ja nicht einmal gestoppt. Allein 2009 wurden 7.700 Drogenmorde im ganzen Land gezählt. Zum Vergleich: Unter Vicente Fox, der von 2000 bis 2006 regierte, waren es insgesamt noch 2000. Eine der letzten Hochrechnungen des Schreckens von Mitte Februar 2010 beläuft sich auf genau 17.042 Ermordete seit dem Amtsantritt von Felipe Calderón im Dezember 2006, davon 5.000 Polizisten, 87 Soldaten und 620 Frauen. Aktualisiert werden muss diese Statistik jeden Tag. Ende Juni, kurz vor Drucklegung dieses Buches, war schon von über 23.000 Mordopfern in der Ära Calderón die Rede. Zudem fördert die massive Präsenz von Soldaten, so Menschenrechtsgruppen, „das uniformierte Verbrechen“. Allein in Juárez wurden 2009 einige Tausend illegale Festnahmen, willkürliche Hausdurchsuchungen und einige Hundert Fälle von Folter und Misshandlung durch die Armee dokumentiert. Im April 2010 wurde zwar beschlossen, die Militärstreifen im Stadtgebiet durch Polizisten zu ersetzen, abgezogen aber werden die Soldaten nicht.
Dabei ist die harte Linie im Grunde Ausdruck der Hilflosigkeit. Denn Calderón hatte sein Amt mit einem argen Legitimitätsproblem angetreten. Mit gerade einem halben Prozentpunkt soll er laut der offiziellen Stimmenauszählung gegen den populären Linkspolitiker und klaren Umfragefavoriten Andrés Manuel López Obrador gewonnen haben. Monatelang protestierte die Opposition und mit ihr einige Millionen Mexikaner wütend gegen den vermuteten Wahlbetrug. Da die Wahlbehörde die geforderte Neuauszählung verweigerte, blieb der Schatten des Betrugs. So hoffte man mit einem Antidrogenkrieg zu punkten.
Diese Rechnung ist bekanntlich nicht aufgegangen. Im Gegenteil: Immer häufiger hört man vor Ort den Ruf nach Unterstützung aus dem Ausland, selbst aus den verhassten USA. Als der Gouverneur von Chihuahua Anfang 2010 am Grab der ermordeten Teenager seine Aufwartung machte, spuckten Familienangehörige ihn buchstäblich an. „Wenn ihr nicht in der Lage seid“, riefen sie, „dann holt doch die USA zu Hilfe.“ Ob Aufforderung oder Beschimpfung: Für die stolzen Mexikaner gibt es wohl keine größere Demütigung, als den großen Bruder um Hilfe zu bitten. […]
Was bei aller Kritik an Felipe Calderón zuweilen in Vergessenheit gerät: Seine frontale Kriegserklärung hat den Terror nicht in die Welt gesetzt, es gab ihn schon vorher. Die Militarisierung hat nach Ansicht der meisten Experten viel zur Brutalisierung des Geschäftsgebarens der mexikanischen Mafias beigetragen. Unstrittig ist auch, dass ohne eine effektive Prävention beim größten Drogenkonsumenten der Welt, den USA, der Handel nicht effektiver bekämpft werden kann. Aber welche Alternativen gibt es in Mexiko zur fatalen Verbrechensbekämpfung der Calderón-Regierung, die offensichtlich immer mehr statt weniger Verbrechen produziert?
Das Nachdenken jenseits von Anklage und Fatalismus ist kompliziert. Das Problem ist für Edgar Cortéz vom Menschenrechtsnetzwerk Todos los derechos para todos (Alle Rechte für alle), dass beim Thema Sicherheit weder die sozialen Bewegungen noch die Menschenrechtler sehr präsent seien. Nur Angehörige Betroffener, etwa die Mütter, würden Sicherheit immer wieder auf die Agenda setzen – nicht selten einhergehend mit dem Ruf nach harter Hand. Deshalb müssten sich endlich auch andere zivilgesellschaftliche Gruppen positionieren und gegen eine autoritäre Sicherheitspolitik die Forderung nach Seguridad ciudadana, Bürgersicherheit, setzen. Zentral dafür ist nach Ansicht von Cortéz eine demokratische Polizeireform, die Säuberung, Neustrukturierung und Professionalisierung der Polizei auf allen Ebenen.
Immer lauter werden in Lateinamerika auch die Rufe nach Entkriminalisierung des Drogengeschäfts. Prominente Fürsprecher wie Carlos Fuentes, Mario Vargas Llosa oder der ehemalige brasilianische Präsident Fernando Cardoso plädieren seit Langem für die Legalisierung zumindest weicher Drogen, die den kriminellen Mehrwert kappen und dem Staat sogar neue Steuereinnahmen bescheren könnte. In Mexiko ist seit August 2009 immerhin der Besitz von kleinen Mengen Marihuana und ein halbes Gramm Koks für den Eigenbedarf legal. Kenner wie Edgardo Buscaglia oder Diana Washington halten wenig von diesem Weg. Schließlich, so argumentieren sie, sei die Geschäftspalette der Kartelle inzwischen weit gefächert, Mafias handeln ja längst nicht mehr nur mit Rauschmitteln, sondern mit Waren aller Art – von Gewehren über gefälschte Pässe bis zu sexuellen Dienstleitungen.
Für viel entscheidender hält Edgardo Buscaglia Strategien, die in das Kerngebiet der Narco-Macht vordringen, den Finanzsektor. Kein einziges der in Mexiko gelagerten und investierten illegalen Vermögen wurde bislang vom Finanzministerium ins Visier gefasst. Es müsse eine entschiedenere und möglichst transnationale Politik zur Kontrolle, Regulierung und Überwachung finanzieller Transaktionen geben, mit dem Ziel, die Geldwäsche trockenzulegen. Mindestens ebenso wichtig aber sei, das hätten Erfahrungen aus Sizilien und Kolumbien gezeigt, die präventive Jugendarbeit, um den Kartellen den Nachwuchs und die Nachfrage abzuschneiden.

Auszug aus:
Anne Huffschmid // Mexiko – das Land und die Freiheit // Rotpunktverlag // Zürich 2010 // 288 Seiten // 26 Euro // www.rotpunktverlag.ch

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