Das Brot der Dichtung für die Massen
Pablo Neruda
Schon 1949, im Jahr der Gründung der DDR, gaben Anna Seghers und Stephan Hermlin den ersten Gedichtband von Pablo Neruda heraus, und es folgten rasch viele weitere Neruda-Übersetzungen. Wie erklären Sie dieses frühe und große Interesse der DDR an ihm?
In der Zeit, als Neruda populär wurde, fehlte in der sozialistischen Welt ein Dichter wie Majakowski. Majakowski war in den zwanziger Jahren der große Barde gewesen, und für ihn gab es keinen Ersatz. Die deutschen Lyriker der Emigration, die nach dem Krieg in die spätere DDR zurückkamen, die hatten nicht dieses Format. Hermlin hatte kein großes Werk anzubieten, Johannes R. Becher war ausgelaugt und hat sich dann als DDR-Kulturminister verausgabt. Es fehlte eine Integrationsfigur, die die richtige politische Botschaft massenwirksam unters Volk brachte. Dafür hat sich Neruda gut geeignet. Was ihn zum Volksdichter machte, war das Hymnische. Wenn Sie sich eine Aufnahme von ihm anhören – er trug seine Gedichte fast wie ein Priester vor, der das Brot der Dichtung an die Massen verteilt. Das hatte er mit Majakowski gemein, oder später noch einmal mit Jewgeni Jewtuschenko – ganz im Gegensatz etwa zu Brecht, der ein sehr cooler Interpret seiner eigenen Dichtung war.
Neruda ist ein vielseitiger Lyriker, vor allem thematisch. Mit der politischen Indienstnahme hat das aber wahrscheinlich nicht zusammengepasst.
Zuerst standen Nerudas Texte seit dem Spanien-Krieg im Vordergrund, das heißt, das große antifaschistische und proletarische Element, das Neruda im Dienste der sowjetischen Politik weltweit vertreten hat. Es ist folgerichtig, dass die ersten übersetzten Bücher Der Große Gesang, die Elementaren Oden und Die Trauben und der Wind waren. Da man den großen Neruda nicht nur auszugsweise veröffentlichen kann, gerät man schon bald in Zugzwang mit den Gedichten, die einen eher surrealistischen Ton anschlagen: Aufenthalt auf Erden, darin Gedichte wie „Der Tango des Witwers“ oder „Walking around“. Hier geht Neruda zurück auf die spanischen Traditionen, auf Góngora, auf die französischen Surrealisten, und das zu einer Zeit, wo die DDR-Kulturoffiziellen weit davon entfernt waren, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. Das galt ja als Dekadenz! Insofern war Neruda für uns nicht nur die Fahne, die uns voranwehte, sondern auch jemand, der sich enorm gewandelt hat in seiner Zeit und der einer der ersten war, der die Bürokratie und das Langweilige und Rituelle des sozialistischen Alltags erkannt hat. Ich denke da an die wunderbaren Zeilen in Memorial von Isla Negra, wo er beschließt, angesichts der öden Erste-Mai-Feiern nur noch den 2. Mai zu feiern. Er war uns immer wieder einen Schritt voraus.
Zunächst einmal hat Neruda aber den Ersten Mai – sozusagen – kräftig mitgefeiert. Zumindest verbal war er bis zur berühmten Chruschtschow-Rede 1956 Anhänger Stalins. Wie erklären Sie sich, dass er sich – trotz seiner guten Kontakte zu höchsten politischen Kreisen — so spät vom Stalinismus abgewandt hat?
Ich denke, es dauerte so lange, bis er einen zweiten Mann gefunden hatte, den er verehren konnte – und das war Fidel Castro. Den Kult um Stalin verlagerte er auf die kubanischen Genossen, später dann auf Salvador Allende. Er brauchte wohl einen Politiker, der ihn auf dieser Bühne vertrat. Dass Neruda selbst gerne eine direkt politische Rolle gespielt hätte, hatte sich ja schon 1945 gezeigt, als er für die Kommunistische Partei in den chilenischen Senat ging, und dann noch einmal 1969, als er sich als Präsidentschaftskandidat aufstellen ließ und zugunsten von Allende zurücktrat.
Dennoch: Zu seiner Stalin-verehrenden Phase hat sich Neruda doch reichlich verharmlosend geäußert, zum Beispiel in seiner Autobiographie Ich bekenne, ich habe gelebt. Kann man diesen Neruda verehren?
Ja, selbstverständlich kann man das. Warum haben so viele Menschen, die wussten, was Stalin für ein Schwein war, ihn gelobt und unterstützt? Weil sie wussten, dass nur diese Kraft etwas gegen Hitler und den Faschismus ausrichten kann. Das war bei Neruda nicht anders. Zudem war er vorübergehend Stalinist, nicht bis zum Ende. Die Frage lässt sich verlängern auf Brecht, auf Hermlin, auf eine ganze Reihe von Dichtern, die ja auch in dem Sinne Stalinisten waren.
Gerade Der Große Gesang, das erste umfangreiche Neruda-Buch, das in der DDR erschien, ist inhaltlich ziemlich veraltet: Die Welt wird eingeteilt in Gut und Böse, und die Lösung liegt bei der Kommunistischen Partei und bei Stalin. Wie gehen Sie mit diesen Gedichten um?
Vieles davon lässt sich heute nur noch literaturgeschichtlich lesen. Aber: Neruda hat ein großes, vielfältiges Werk geschrieben, und bei meiner Gedicht-Auswahl für den gerade bei Luchterhand erschienenen Band habe ich keinen besonders weiten Bogen schlagen müssen. Die Stalin-Gedichte haben mich einfach nicht interessiert, und ich habe diese drei, vier Gedichte, in denen das so direkt ausgedrückt wird, einfach überlesen.
Was ist Ihnen statt dessen an Neruda wichtig?
Ein Dichter, der im Namen des Proletariats, der Weltrevolution durch die Welt fährt – der entdeckt plötzlich die Welt, und zwar die Welt, die er selbst mitgebracht hat, die lateinamerikanische! Er ist ein gesamtamerikanischer Erbe von Walt Whitman – historisch gesehen, aber auch, wenn Sie sich die Natur, den Urwald, die ganze Kosmographie dieses Kontinents bei Neruda anschauen. Daraus geht der Sammler Neruda hervor, der alles, was das Meer so anschwemmt, in seinen Häusern versammelt hat. Und schließlich der große Liebende Neruda. Es ist der Neruda der Elementaren Oden, des Extravaganzenbreviers, der mich fasziniert, der Neruda, der versucht hat, die ganze Welt in einer Person zu versammeln. Es gibt für mich keinen Dichter, der so total Welt veranschaulicht, spiegelt, wie Neruda.
Im Westen wurde Neruda zwar schon in den 60er Jahren verlegt, aber erst in der Allende-Zeit und nach dem Pinochet-Putsch wirklich bekannt. Und vor allem die westliche Linke hat ihn gelesen, er war auch dort – in anderem Sinne als in der DDR – ein Parteidichter. Gilt es, Neruda heute neu zu entdecken? Brauchen wir heute eine neue Neruda-Lektüre, und was könnte die bringen?
Natürlich wird jede Generation ihren eigenen Neruda lesen, insofern braucht es immer wieder eine neue Neruda-Lektüre. Die agitatorischen Gedichte, sowohl die für Stalin und China als auch die für die Unidad Popular unter Allende, müssen heute nicht mehr im Vordergrund stehen. Aber wenn Sie ein Gedicht nehmen wie die „Ode auf die Seeaalsuppe“ – das ist ein ganz aktuelles, unvergängliches Stück Literatur. Weder haben andere lateinamerikanische Schriftsteller Neruda überrundet, noch gibt es in der deutschsprachigen Literatur viel Vergleichbares zwischen Enzensberger und Durs Grünbein. Wenn wir behaupten, dass Lyrik vor allem begeistern soll, dann ist Neruda unschlagbar. Bewältigt oder erledigt wird er jedenfalls auch nach seinem hundertsten Geburtstag nicht sein.