Aktuell | Kolumbien | Nummer 553/554 - Juli/August 2020

DAS DOPPELTE ÜBEL

Corona und Korruption machen Kolumbien das Leben schwer

Noch hat die Corona-Pandemie ihren Höhepunkt in Kolumbien nicht erreicht. Doch in dem auf Frieden wartenden Land hat der ausgelöste Ausnahmezustand die strukturellen Probleme offenbart und weiter verschärft, welche den bewaffneten Konflikt bis heute anfeuern: COVID-19 stellt das Land vor eine gefährliche Zerreißprobe mit katastrophalem Potenzial, während die Verbindungen der Regierung mit dem Drogenhandel zunehmend ans Licht kommen.

Von Daniela Rivas G. & Fabian Grieger

Marta Lucía Ramírez Die Kolumbianische Vizepräsidentin beim OAS Treffen (Foto:   Juan Manuel Herrera OAS via Flickr) CC BY NC-ND 2.0

Das Virus hält Kolumbien fest im Griff: Laut der nationalen Gesundheitsbehörde haben sich 182.140 Kolumbianer*innen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert, 6.288 Menschen sind bislang daran gestorben (Stand: 18.07.2020). Die Tendenz steigt seit Mitte Juni um 4.000 bis 8.000 neu gemeldete Fälle täglich, just als die Regierung die landesweite Quarantäne mit einer Reihe von Ausnahmen lockerte. Angesichts dessen verlängerte die Regierung von Präsident Iván Duque die Isolationsmaßnahmen zum sechsten Mal bis zum 1. August. Menschen über 70 Jahre können nach wie vor bis zum 31. August ihr Haus nicht verlassen, bis dahin gilt der verhängte gesundheitliche Notstand.

Nach drei Monaten angeordneter Isolation wünschen sich viele Kolumbianer*innen in einer „neuen Normalität“ anzukommen, doch das Licht am Ende des Tunnels ist noch nicht in Sicht. Die ersten Lockerungen in Kolumbien betrafen vor allem die Baubranche und die Fertigungsindustrie. Dazu kamen Einkaufszentren, Museen, Bibliotheken und Restaurants, die nun Essen zum Mitnehmen verkaufen dürfen. Die Pandemie hat die horrenden strukturellen Ungleichheiten im Land offengelegt. So wie in anderen lateinamerikanischen Ländern ist die Quarantäne eine Sache von Privilegien.
Allein in der Hauptstadt sind 56.830 Menschen an Corona erkrankt. „Vor einem Monat zählte Bogotá 400 neue Fälle, heute gibt es im Durchschnitt 1.200 pro Tag. Wir führen massenweise Tests durch, doch die Geschwindigkeit der Infektion ist sehr besorgniserregend“, schrieb die Bürgermeisterin Claudia López am 6. Juli auf Twitter. Dazu kommt, dass die Intensivstationen zu 80 Prozent belegt sind. Auch wenn López während der Pandemie einen besseren Führungsstil als der Präsident Iván Duque zeigte, wurde die Bürgermeisterin für den Einsatz der Einheit zur Aufstandsbekämpfung der Polizei (ESMAD) bei Demonstrationen Mitte Juni kritisiert. Studierende und Jugendliche protestierten gegen die Polizeigewalt, vor allem bei Zwangsräumungen im Süden der Stadt mitten in der Pandemie durch die ESMAD.

Während sich Bogotá auf die Eröffnung der großen Einkaufszentren Anfang Juni vorbereitete, wurde in dem südöstlichen Bezirk Kennedy, der mit 1,2 Millionen Einwohner*innen der bevölkerungsreichste der Hauptstadt ist, eine strikte 14-tägige Ausgangssperre verhängt. 30 Prozent der gemeldeten COVID-19-Fälle wurden in Kennedy registriert. Eine von drei Personen, die an den Folgen des Virus in Bogotá starben, wohnte dort. Es trifft die Viertel, in denen Armut weitverbreitet ist und die Menschen bereits vor der Pandemie um ihre Lebensgrundlage täglich kämpften. Nun müssen sie eine Infektion mit COVID-19 riskieren, weil der Hunger die eigentliche Pandemie ist.

Bis zu 8.000 Neuinfizierungen täglich

So wie an der Atlantikküste, im Verwaltungsbezirk Atlántico, der bis dato 41.006 positive Fälle meldete und mit 1.640 Toten die höchste Zahl an Todesfällen im Land. Die Hauptstadt Baranquilla hat mit 21.134 Corona-Fällen die Höchstzahl an Infizierten in der Region. Besonders betroffen sind die südöstlichen Bezirke Barranquillas, wo sich die Menschen mit informeller Arbeit den Unterhalt verdienen. Mitte Juni wurde in Barranquilla ein erhöhter Alarmzustand ausgerufen und die betroffenen Gebiete mit Hilfe der wegen ihrer Brutalität gefürchteten Polizeieinheit ESMAD abgeriegelt. Dort, wo die Menschen ihre Häuser nicht mehr verlassen können, warten sie nun, dass die Regierung die 120.000 Lebensmittelrationen verteilt, die bereits am 17. Juni zugesagt wurden.

Die Situation in dem Verwaltungsbezirk erschwert sich von Tag zu Tag. Seit März ist dort Regenzeit und das Denguefieber war bereits vor COVID-19 in der Region ausgebrochen. Dazu ist es sehr wahrscheinlich, dass die Dunkelziffer von positiven Fällen und Todesfällen viel höher als die realen Zahlen liegt. Seit Anfang des Monats können in Atlántico wegen einer defekten Maschine nur 200 Tests pro Tag durchgeführt werden, bislang sind 67.600 Menschen getestet worden.

Doch statt direkte Hilfe für die ärmere Bevölkerung des Landes zu leisten, hat Präsident Iván Duque eine Reihe von Maßnahmen zugunsten von Großunternehmen und Banken zur Ankurbelung der Wirtschaft eingeführt. Die Hilfe für die Menschen in den ärmeren Bezirken von Bogotá, Barranquilla und Cali kamen vor allem von sozialen Organisationen oder privaten Spender*innen.

Der Hunger ist die eigentliche Pandemie

Präsident Duque führte am 19. Juni den Tag ohne Mehrwehrsteuer ein, um den Konsum anzukurbeln. „COVID-Friday“ wird der Tag in der Presse genannt, an dem Menschenmengen ohne Distanz und Mundschutz, die Supermärkte überfluteten, um hauptsächlich Fernseher und andere Elektrogeräte günstiger zu kaufen. Doch ob diese Maßnahme eine nachhaltige Wirkung auf die ohnehin paralysierte Wirtschaft haben wird, ist zweifelhaft. Auch für die Konsument*innen halten sich die Vorteile in Grenzen. Große Supermarktketten wie „Falabella“ und „Olímpica“ hatten in den Tagen vor dem COVID-Friday die Preise angehoben.
Dennoch kündigte das Staatsoberhaupt zwei weitere solcher mehrwehrsteuerfreien Tage im Juli an, allerdings unter strengeren Hygiene-Auflagen.
Die Wirtschaft des Landes war bereits vor der Pandemie durch den niedrigen Ölpreis – Kolumbiens Exportprodukt Nr. 1 – und der darauffolgenden Währungsentwertung in einer schwierigen Lage. Nun befindet sich Kolumbien in einer Rezession mit wachsender Arbeitslosigkeit. Diese stieg im Mai um 21,4 Prozent an und war somit doppelt so hoch wie im selben Monat des letzten Jahres. Deshalb fordern 48 Senator*innen und Mitglieder des Repräsentantenhauses, dass über ein temporäres bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert wird. „Wir stehen vor einer sozialen Unruhe, weil die Menschen Hunger haben“, sagte Armando Benedetti, Senator der „Partei der Einheit“, Mitunterzeichner der Petition, bei einer Debatte über das Grundeinkommen in Semana TV.

Hilfe kommt vor allem von sozialen Organisationen oder privaten Spender*innen

„Der einzige Weg, um die steigende Infektionskurve zu bremsen, ist die Einkommenssicherung der Kolumbianer*innen, sodass sie die nötige Zeit in ihren Häusern bleiben können“ schrieben die Abgeordneten in einem Brief an den Präsidenten.

Es wird ein Grundeinkommen von 900.000 Pesos (ca. 220€) für drei Monate gefordert, das durch eine außerordentliche Steuer an Superreiche, den Stopp der beschlossenen Steuerreform und durch die Neustrukturierung der Auslandsverschuldung eingetrieben werden könnte. Doch auch wenn Finanzminister Alberto Carrasquilla versicherte, dass sich Kolumbien perspektivisch in diese Richtung bewege, könne ein Grundeinkommen nach Aussage des Ministers nicht die, in eine tiefe Rezension fallende Wirtschaft auffangen, da es sich um „eine strukturelle Änderung“ handele.

Indessen steigen die Infektionskurve sowie die Perspektivlosigkeit der Bevölkerung und die Gewalt in den abgelegenen Gebieten des Landes weiter an. In dieser multidimensionalen Krise hat Präsident Duque vehement seine Unfähigkeit gezeigt, das Land zu regieren. Fast täglich macht Duque 30- bis 60-minütige Videoansprachen und berichtet, wie er die Krise zu meistern versucht. Dabei wirkt er immer mehr wie die Karikatur eines Präsidenten, der eher beunruhigt als beruhigt.

Bereits vor der Pandemie hatte sich die Regierung von Präsident Iván Duque in eine Sackgasse manövriert. Seitdem überschlagen sich die Skandale. Kurz bevor die landesweiten Quarantäne­maßnahmen verhängt wurden, wurde ein Prozess gegen den kolumbianischen Präsidenten wegen Wahlbetrugs in der zuständigen parlamentarischen Kammer und im nationalen Wahlrat eröffnet. Anfang Mai enthüllte die Wochenzeitschrift Semana den größten militärisch-geheimdienstlichen Abhörskandal der jüngsten Geschichte des Landes. 130 Zivilist*innen, darunter Journalist*innen, Politiker*innen und Anwält*innen, wurden vom Nachrichtendienst des Militärs über Monate bespitzelt. Betroffen waren vor allem nationale und internationale Journalist*innen, die kritisch über den Konflikt berichten. Auch Anwält*innen von dem Anwaltskollektiv CAJAR, welche die Opfer von staatlichen Verbrechen verteidigen, waren Zielscheibe der Bespitzelungen.

In Juni enthüllte das Online-Portal La Nueva Prensa noch einen weiteren Skandal, der die Vizepräsidentin Marta Lucía Ramírez in Schwierigkeiten bringen dürfte. Marta Lucía Ramírez, eine der einflussreichsten kolumbianischen Politikerinnen des letzten Jahrzehnts, hatte im Jahr 1997 eine Kaution von 150.000 Dollar für ihren Bruder bezahlt, nachdem dieser in Miami wegen Heroinschmuggels festgenommen wurde. Nachdem Ramírez bisher stets behauptet hatte, keine Kaution bezahlt zu haben, nahm sie ihre Aussage in Folge der neuerlichen Enthüllungen zurück. Bereits im April war bekannt geworden, dass die Firma der Vizepräsidentin gemeinsam mit einer Firma des mutmaßlichen Drogenhändlers Guillermo Acevedo an einem Megabauprojekt im Norden Bogotás beteiligt war.

Ebenso unangenehm für Ramírez dürften die Anschuldigungen der Webserie „Matarife“ sein. Laut dem Matarife-Macher, dem Journalisten und Anwalt Daniel Mendoza Leal, verkehrte Marta Lucía Ramírez Ende der 1990er und Anfang der 2000er im elitären Club Nogal in Bogotá mit zentralen Figuren des Paramilitarismus.

Überhaupt hat die Youtube-Serie „Matarife“ für viel Wirbel in Kolumbien gesorgt. Seit dem 22. Mai erscheint jede Woche ein Kapitel, das die Verstrickungen des „Matarife“, des „Schlachters“ Álvaro Uribe mit Drogenmafia und Paramilitarismus aufdeckt. So berichtet Mendoza unter anderem über die Arbeit von Álvaro Uribe als Direktor der zivilen Luftfahrtbehörde 1980 bis 1982, in der er mehr als 200 Fluglizenzen für Flugzeuge und Landebahnen an Drogenhändler*innen vergab und so den internationalen Schmuggel des Medellín-Kartells ermöglichte. Es war ausgerechnet der Vater des heutigen Präsidenten und Uribes politischem Ziehsohn Iván Duque, der als damaliger Gouverneur von Antioquia auf die Fluglizenz-Vergabe an die Mafia aufmerksam wurde und dem Präsidenten Cesar Turbay über Uribes Machenschaften berichtete. Trotzdem behielt Uribe seinen Posten. 1984 machte es sich der Justizminister Rodrigo Lara zum Ziel, den Narcos die Fluglizenzen zu entziehen und deckte außerdem Tranquilandia auf, eine der großen Kokainfabriken Pablo Escobars. Bei der Razzia entdeckte die Polizei auf Tranquilandia auch einen Helikopter von Alberto Uribe Sierra, dem Vater von Álvaro Uribe. Zeitgleich machte die Zeitung El Espectador die Verbindungen der Uribes mit der Mafia bekannt – wenig später wurden sowohl Rodrigo Lara als auch Guillermo Cano, Herausgeber des Espectador, von Auftragskillern umgebracht. „Matarife“ berichtet auch von den Verbindungen Uribes zum Ochoa-Clan, den Geschäftspartnern Pablo Escobars, welche laut Aussagen eines Ex-Senators die Wahlkampagnen Uribes in den 1980ern finanzierten.

„Wir stehen vor einer sozialen Unruhe, weil die Menschen Hunger haben“

Das nächste Kapitel, so kündigt Mendoza an, wendet sich Uribes Rolle beim Aufbau des Paramilitarismus in den 90ern zu und seiner Verantwortung für diverse Massaker. Eine Million Aufrufe erreichen die einzelnen Kapitel der Webserie und tragen so die Vergangenheit des wohl nach wie vor mächtigsten Politikers des Landes ins allgemeine Bewusstsein. Einen Bezug zur Gegenwart zu ziehen ist dabei nicht schwer: Ob im Zuge des Ñeñepolítica-Skandals zum Stimmenkauf Uribes mit Hilfe paramilitärischer Strukturen (siehe LN 550), der Vorwürfe, Uribe habe dem mexikanischen Drogenboss El Chapo beim Kokainexport von Bogotás Flughafen El Dorado aus geholfen oder der jüngsten Berichte über die Waffengeschäfte des kolumbianischen Militärs mit Paramilitärs, bei denen unter anderem Pistolen der deutschen Carl Walther GmbH illegal weiterverkauft wurden. In einem Land, in dem weite Regierungskreise und das Militär in den illegalen Handel verstrickt sind, ist Aktivismus gegen diese Interessen lebensgefährlich. Laut der Stiftung IndePaz wurden allein in diesem Jahr 153 Aktivist*innen in Kolumbien ermordet. Dabei nutzen illegale bewaffnete Gruppen die häusliche Quarantäne, um ungestört zu morden. Während sich die Schutzmechanismen für gefährdete Personen als nutzlos erweisen, nimmt die Gewalt in den abgelegenen Gebieten des Landes rasant zu. Ein Trend, der schon vor der Pandemie zu verzeichnen war. Die steigende Kriminalität in den kolumbianischen Städten und die Gewalt auf dem Land sind Symptome eines Staates, der in kriminellen, sexistischen, klassistischen und rassistischen Strukturen verharrt. Trauriger jüngster Ausdruck davon ist die Massenvergewaltigung eines 12-jährigen indigenen Mädchens durch sechs Armeeangehörige im Verwaltungsbezirk Riseralda. Die Soldaten hatten die Angehörige der Embera zunächst entführt und dann vergewaltigt. Mittlerweile haben die Täter ihre Schuld zugegeben und wurden festgenommen. Die indigene Gemeinde der Embera fordert, dass sie sich neben der kolumbianischen Justiz auch vor der indigenen Justiz verantworten müssen. Gemeindesprecher wiesen auch darauf hin, dass es bereits in der Vergangenheit zu sexuellem Missbrauch gegen Angehörige der Gemeinde durch Armeesoldaten gekommen war, frühere Fälle aber keine öffentliche Beachtung oder Strafverfolgung fanden.

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