Aktuell | Feminismus | Musik | Nummer 585 - März 2023 | Queer

DAS EINZIG KONSTANTE IM LEBEN IST DER WANDEL

Wie Reggaeton eine neue Form des Perreo weiterentwickelt und sechs Lieder, um ihn besser zu verstehen

Reggaeton ist ein Genre, das vom Musikmarkt und aus den Diskotheken kaum weg zu denken ist. Auch in Deutschland. Bad Bunnys jüngster Erfolg „Un Verano Sin Ti“ räumte im vergangenen Jahr fünf Latin Grammys ab. Musik entwickelt sich weiter: Wie schon im Punk, Metal, Hip-Hop und Techno entstehen neue Sub-Genres. Das gleiche geschah auch im Reggaeton mit dem Neoperreo.

Von @fuega_mami

Ihr fragt wer sie ist? Rosa Perreo veranstaltet Partys in New York (Foto: rosaperreo.com)

„Neoperreo ist der Schnittpunkt zwischen dem digitalen Zeitalter und dem Einfluss des Reggaeton auf neue Künstler“, definiert ihn die Künstlerin Tomasa del Real. Er entstand in den 2010er Jahren in Chile, im Zeitalter der Digitalen Welt. Zwar wurde er in Chile geboren, hat aber, in Zeiten von Internet und Globalisierung, keine geografischen Grenzen. Neoperreo ist die natürliche Evolution des Reggaeton. Der Rhythmus des Dembow bleibt gleich und immer noch tanzbar, meist elektronischer, alternativer zu populärerem Reggaeton mit starkem Einfluss des Deconstructed Club – einem experimentellen Stil elektronischer Tanzmusik, der sich durch einen postmodernen Ansatz und einen aggressiven oder dystopischen Ton auszeichnet. Tomasa del Real, eine der bekanntesten Referentinnen des Neoperreos, sagt dazu: ,,Er ist eine neue Art des Reggaetons, was gleich geblieben ist, ist, dass er gemacht wurde um zu tanzen, also eine neue Form des Perreo. Der Neoperreo.” Ein weiteres Merkmal des Neoperreo ist die Klangästhetik, die nicht scheut, auch mal zu Autotune zu greifen, ein Stilmittel, das gerne im Trap oder Pop verwendet wird. Es ist der natürliche Futurismus, der keine Angst hat, bestehende Dinge zu revolutionieren. 2018 bezieht sich die kolumbianische Fachzeitschrift Shock auf den Neoperreo als ,,eine Einladung jenseits des geographischen Herkunftsortes, Größen und Farben als grundlegendes Werkzeug eines jeden Menschen zu akzeptieren, um mit der Realität und mit anderen zu kommunizieren und zu interagieren.” Was sich nicht nur auf der Tanzfläche und in der Art und Weise, wie dieser neue Stil getanzt wird – schneller und mit mehr weiblicher Beteiligung – widerspiegelt, sondern auch in den Zielen: Gleichheit und Bruch mit der patriarchalen Vorherrschaft des männlichen Geschlechts.

Dieses Mal sind es also nicht nur Männer, die darüber sprechen, was sie mit Frauen machen würden, sondern FLINTA*, die frei über ihre sexuellen Wünsche und ihren Wunsch singen, sich zu amüsieren. In diesem Sinne ist es die Intention des Neoperreo, mit dem typischen Kanon der Weiblichkeit zu brechen und sich so frei zu fühlen und auszudrücken, wie es ihnen gefällt. Was sich auch in der Art sich zu kleiden widerspiegelt: Die Looks, die Künstlerinnen wie Tomasa del Real, Ms Nina oder Lizz tragen, sind eine Mischung aus Futurismus, Gothic und Perreo.

Neoperreo ist das lebende Beispiel dafür, dass der Wandel die einzige Sache ist, die sich nicht ändert

Jede Art von Reggaeton hat etwas zu sagen. Das Genre entstand in Panama in den 1980er Jahren und spiegelte die Realität der Jugend wider. Es geht um Armut, Gewalt, Freundschaft, Drogen, Liebe und Sex. Meist wirkt es, als würde es nur um Partys, Drogen oder Sex gehen, weshalb Reggaeton oft als oberflächliches Genre abgestempelt wird. Dabei ist auch das alles politisch, gerade wenn man den Blickwinkel ändert. Die Mehrheit der Protagonistinnen des Neoperreo sind FLINTA*. Und vielmehr als eine neue Antwort auf Reggaeton zu geben will der Neoperreo zeigen, dass FLINTA* auch über ihr Vergnügen sprechen können. Neoperreo, gemacht von FLINTA*, singt in einer aktiven Position über Spaß, Vergnügen und Sex. Es geht darum, die Entscheidung zu treffen, was man wie mit seinen Körpern machen möchte. Es geht aber auch um Zugänge und Klasse. Ein Grund, warum Menschen Reggaeton und Neoperreo viel zu explizit finden, ist unter anderem, dass sie daran nicht gewöhnt sind. Sie finden vielleicht, dass so etwas zu sagen sich nicht gehört, und schon gar nicht als Frau. Es ist nur ungewöhnlich, weil man es nicht kennt. Dort wo Reggaeton geboren wurde und sich weiter entwickelt, spricht man nicht in Hochsprache. Er spiegelt Menschen wider, die in der lateinamerikanischen Gesellschaft marginalisiert sind, vor allem wegen ihres sozialen Status. Reggaeton soll leicht verständlich sein. Er soll dreckig und explizit sein, weil er widerspiegelt, woher er kommt. Tomasa del Real sagt dazu: „Wenn die Kunst einer Person ihre Realität widerspiegelt, sollte sie sich nicht von jemandem, der angeblich auf einer höheren sozialen, wirtschaftlichen oder moralischen Leiter steht, sagen lassen, dass das, was sie tun, nicht gültig ist.“

Wo Reggaeton geboren wurde und sich weiter entwickelt spricht man nicht in Hochsprache

Der Neoperreo ist also der kleine rebellische, laute, fast punkige Gen Z-Bruder des Reggaeton. Sein Erkennungsmerkmal besteht vor allem im futuristischen Sound und dass er versucht, mit alten Konzepten der Maskulinität zu brechen. Er hat keine Angst, auch mal hässlich zu klingen, fast unmelodisch, „billig“ produziert. Es muss nicht professionell klingen, um gut zu sein. ,,Ich mag Reggaeton, der über hässliche Sachen spricht, der über Dinge redet, über die keiner reden möchte und unhöflich erscheint. Ich mag diese Art von Reggaeton besonders, weil ich ihn als befreiend empfinde“, erzählt Tomasa del Real.

Es muss nicht jedem gefallen, es muss Spaß machen. Es ist wichtig und notwendig für Genres, sich weiterzuentwickeln. Seit ewiger Zeit gibt es die Debatte, was besser wäre: Oldschool oder Newschool. Und das funktioniert nicht in dies oder das. Es geht um das Genießen, nicht um das Vergleichen.

Sechs Lieder, die den Neoperreo repräsentieren

  1. Safety Trance, Arca – „El Alma que te trajo“
  2. Ms Nina – „Chupa Chupa“
  3. Tomasa del Real, DJ Blass, Maicol Superstar, DJ Urba, El Licensiado – „Perrea conmigo“
  4. Isabella Lovestory – „Mariposa“
  5. Salvaje – „2009“
  6. Rosa Perreo – „Rosa Perreo“

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