Guyana | Nummer 402 - Dezember 2007

Das Ende der Nacht?

Die Vergangenheit lastet schwer auf Guyana, doch es gibt Anlass zur Hoffnung

Armut und Brutalität prägen die Geschichte des südamerikanischen Staates. Doch trotz aller Rückschläge haben die GuyanerInnen Grund zu der Hoffnung, dass sie das Schlimmste hinter sich haben. Die Wahlen des letzten Jahres verliefen weitgehend friedlich. Wirtschaftlich hat das Land Anschluss gefunden an Brasilien, den großen Nachbarn im Süden.

Ingolf Bruckner

Eine halbe Stunde vor Mitternacht nahm die Berbice Anti Smuggling Squad (BASS) den 15-jährigen Shazad Bacchus fest. Er war gerade dabei, etliche Kisten mit Plastiktütenrollen in ein Fischerboot zu verladen, das nach Surinam auslaufen sollte.
Die BASS ist eine Spezialeinheit im Osten Guyanas, die den Schmuggel mit Surinam zu unterbinden sucht. In letzter Zeit hat sie einige Erfolge zu vermelden gehabt. So ist es ihr gelungen, mehrere SchmugglerInnen zu ertappen als sie gerade 7.000 Pfund illegal ins Land geschaffter Bananen entladen. Die Bananen wurden beschlagnahmt und zerstört.
Die schwere Kopfverletzung, heißt es später im Polizeireport, habe Shazad sich zugezogen beim verzweifelten Versuch, der Verhaftung zu entgehen. Man bringt ihn unverzüglich ins Hospital von Skeldon, wo er unter strenger Bewachung verbleibt. Skeldon liegt im Nordosten Guyanas; Guyana im Nordosten Südamerikas.
Als die ersten europäischen Abenteurer im 16. Jahrhundert nahe der Orinoko-Mündung auf ein Boot mit Indigenen stießen, so die Legende, fragten sie nach dem Namen des für sie unwirtlich und wild anmutenden Gestades. Die Insassen des Einbaumes, die das Waldland südöstlich als tabu betrachteten, weil dort kriegerische Kariben hausten, antworteten: “Wayana!” Das bedeutete in ihrer Sprache: “Dieses Land ist namenlos!” – und so, in gewisser Weise, ist es bis heute geblieben.
HolländerInnen legten erste Handelsstützpunkte und Plantagen an, welche immer wieder von FreibeuterInnen geplündert oder von UreinwohnerInnen angegriffen wurden. Später verbündeten sich die EuropäerInnen mit kämpferischen Indigenenstämmen: Die halfen gegen Lohn, entlaufene afrikanische SklavInnen einzufangen.
Als Folge von Kriegen und Feilschereien wechselte das Gebiet des heutigen Guyana mehrfach die Hände, bis sich die EngländerInnen dauerhaft etablierten und British Guiana gründeten. 1838 endete die Sklaverei.
Sieben Jahre später versammelten sich 400 “kultivierte” Indigene, von denen viele den EuropäerInnen als SklavenjägerInnen gedient hatten, nunmehr arbeitslos geworden, hungrig und ihrer ursprünglichen Lebensweise entwöhnt in einem Wald, der ihnen fremd vorkam, fielen auf die Knie, beteten – und töteten sich dann, um, wie erzählt wird, als weiße Männer aufzuerstehen.
Zur Deckung des wachsenden Bedarfs an PlantagenarbeiterInnenn warben die BritInnen KontraktarbeiterInnen in Madeira, China und Indien an, die sich zu mehrjährigem Zwangsdienst verpflichteten. Eine „globalisierte“ Gesellschaft wurde geboren, deren ethnische Gruppen untereinander nur wenig Gemeinsamkeiten sahen.
Als das Land sich in den 1950er Jahren auf seine Unabhängigkeit vorbereitete, waren die Volksgruppen erstmals gezwungen, miteinander gesellschaftlich zu verkehren und Entscheidungen zu treffen, die zuvor Kolonialherren für sie gefällt hatten. Noch bevor Guyana 1966 staatliche Souveränität erhielt, eskalierten die ethnischen Auseinandersetzungen, herrschte Terror: Gangs plünderten, vergewaltigten, brandschatzten.
Streng an ethnischen Linien ausgerichtete Parteien kämpften um die Macht. Dem Afro-Guyaner Forbes Burnham gelang es, Staatschef des unabhängigen Guyana zu werden und bald schon Militär und Polizei direkt seiner Macht zu unterstellen. Wahlen waren von nun an nur mehr eine Farce.
Staatsziel wurde ein auf Selbsthilfe beruhender kooperativer Sozialismus. Doch auf den Staat vertrauen die BewohnerInnen Guyanas bis heute wenig. Sich selbst zu helfen, gehört ganz selbstverständlich zur sozialen Psyche der guyanischen Bevölkerung.
Und so musste Shazad, der Plastiktütenschmuggler, auch nicht lange unter Polizeiaufsicht im Hospital von Skeldon verbleiben. Wenige Stunden nach seiner Verhaftung stürmte Vater Azad zusammen mit dem 18-jährigen Cousin Faddil Ally und etwa 30 Nachbarn und Freunden unter Schüssen das Krankenhaus. Sie überwältigten einen Sicherheitsmitarbeiter und verletzten im Handgemenge einen BASS-Mann, der Shazad bewacht hatte. Die Krankenschwester, die gerade Shazads Wunde behandelte, sowie die übrigen BASS-Einsatzkräfte konnten gerade noch in den Nebenraum flüchten. Shazad und seine Retter entkamen in die Nacht.
Ende der 1970er Jahre trieben Vetternwirtschaft, Verschwendung und Verschuldung Guyana ins Chaos. Die Sekte House of Israel terrorisierte die Öffentlichkeit. Schlägertrupps trieben oppositionelle Versammlungen oder Streikende auseinander. Bevor Guyana dann dauerhaft aus dem Licht der Weltöffentlichkeit verschwand und nahezu in Vergessenheit geriet, erreichte die internationale Presse eine letzte Meldung: In der Dschungelsiedlung Jonestown nahe dem entlegenen Manganverladehafen Port Kaituma hatten 914 Anhänger der von Jim Jones geleiteten Sekte People’s Temple of Christ kollektiven Selbstmord begangen. Jones war einige Zeit zuvor aus den USA eingewandert und hatte sich für reichlich US-Dollars bei Burnham das Recht erkauft, einen “Staat im Staat” zu gründen, in dem er tun und lassen durfte, was ihm beliebte.
In seiner Neujahrsrede 1984 gab der nach Autarkie strebende Präsident Burnham zu, dass „uns einzig der Wille zu überleben, weitertreibt“. Einfuhrverbote, die selbst Grundnahrungsmittel betrafen, und Erhöhungen der Zucker- und Reisexporte sollten helfen, den Staatshaushalt zu sanieren, vergrößerten jedoch nur das Elend. Zum einzig boomenden Wirtschaftszweig entwickelte sich der Schmuggel von Gütern des täglichen Bedarfs aus den Nachbarländern.
Mit den ersten freien Wahlen 1992, sieben Jahre nach Burnhams Tod, kam trotz gewalttätiger Ausschreitungen wieder Hoffnung auf. Zwar fühlten sich insbesondere Afro-GuyaneInnen vom neuen Staatschef Cheddi Jagan unzureichend vertreten, doch leitete dieser eine verstärkte Öffnung ein und warb um internationales Vertrauen. Das Wahlverhalten der guyanischen Bevölkerung orientiert sich bis heute an ethnischen Zugehörigkeiten. Zustände allgemeiner Gesetzlosigkeit insbesondere vor und nach Wahlen konnten einen generell positiven Trend in Guyana aber nicht aufhalten. Die letzten Wahlen 2006, bei denen sich erneut die PPP behauptete und der gegenwärtige Präsident Bharrat Jagdeo wiedergewählt wurde, verliefen friedlich. Gleiches gilt für die Cricket-Weltmeisterschaft 2007, die erstmals in der Geschichte des Landes eine größere Zahl ausländischer BesucherInnen anzog. Obwohl weiterhin Fachkräfte auswandern, gibt es doch auch RückkehrerInnen, die neben sorgfältig gesparten US-Dollars neue Ideen und eine neue Mentalität in ihre traumatisierte Heimat mitbringen.
Unter den RückkehrerInnen war auch Shazads Familie, die zuvor in Surinam gelebt hatte. Gegen 4 Uhr morgens, wurde der Minibus, in dem Shazad geflohen war, entdeckt und gestoppt. Ergebnis der darauf folgenden Schießerei: fünf Personen entkommen, drei bleiben tot im Minibus zurück: Shazad, sein Vater Azad und Cousin Faddil Ally.
Doch Sabita Shivgobin, Shazads Stiefmutter, die nahe dem Hospital wohnt, erzählt eine andere Geschichte: Kurz nach der Flucht, gegen 2 Uhr 30, habe ihr Mann Azad sie von der Straße aus zu Hilfe gerufen: „Shabo, es hat mich erwischt!“ Woraufhin sie aus dem Haus gerannt sei und ihn mit erhobenen Händen gesehen habe. BASS-Männer hätten auf ihren Mann und die Jungs geschossen und seien anschließend mit ihnen fortgefahren. Ein anderer berichtet, alle drei seien wenig später, trotz des Flehens der Nachbarn, vor seinem Haus in Race Course hingerichtet worden.
Das ließen die AnwohnerInnen nicht auf sich sitzen. In den folgenden Tagen protestierten hunderte von ihnen vor der BASS-Station. Die Situation erhitzte sich und erneut gab es Tote. In der Folge wurden Spezialeinheiten angekarrt, um die Gegend zu befrieden. Die Gewalt in Guyana richtet sich gegen den Staat, gegen das Volk, gegen Nachbarn, die eigene Familie, den eigenen Körper.
In einer Zeit gesellschaftlichen Umbruchs sind dabei vor allem guyanische Frauen Gewinnerinnen und Hoffnungsträgerinnen. Die Männer, denen traditionell die finanzielle Versorgung der Familie obliegt, treiben Landwirtschaft, oft wie ehedem mit der Machete und ertänken ihren Frust im Rum. Oder sie verlassen frühzeitig die Schule, um irgendwie Geld zu verdienen, wie Shazad. Währenddessen graduieren die Mädchen erfolgreich, eignen sich EDV-Kenntnisse an, nehmen teilweise lukrative Beschäftigungen im Dienstleistungssektor auf.
Trotz zeitweiliger Rückschläge ist das Wirtschaftswachstum bemerkenswert, auch wenn es oft zu Lasten der Natur geht und damit der indigenen Bevölkerung schadet, die in und von ihr lebt: Internationale Holzfirmen sichern sich hunderttausende Hektar Urwald zur Ausbeutung der wertvollen Tropenholzbestände. Brasilianische, US-amerikanische und kanadische InvestorInnen nutzen das Potenzial Guyanas vor allem im Bergbausektor. Neben Gold, Diamanten und Bauxit verfügt das Land über erhebliche, noch nicht erschlossene Erdölvorkommen.
Geplant ist die Einrichtung eines Tiefseehafens an der Mündung des Essequibo, der es auch Kreuzfahrtschiffen erlauben würde, vor Guyana zu ankern. Zu den wichtigsten nationalen Projekten der letzten Jahre gehören die Ausweitung des Straßennetzes sowie die Erschließung von ehemaligen Zuckerrohrfeldern für dringend benötigte Wohngebiete. Eine reguläre Fährverbindung wurde zum Nachbarstaat Surinam aufgenommen.
Die zweifellos größte Auswirkung auf Guyanas Zukunft hat die vor wenigen Jahren gebaute Straße von der Hauptstadt Georgetown nach Brasilien. Nur über sie steht das Land in unmittelbarer Verbindung zum übrigen Südamerika, nur über sie vermag die Staatsgewalt das weite Hinterland zu erreichen und zu kontrollieren. 1991 wurde ein sogenannter trail (Pfad) buchstäblich mit der Machete in den Busch geschlagen. Noch fünf Jahre später dauerte die Reise im robusten Truck bis zu einer Woche. Heute befahren selbst Minibusse in kaum 24 Stunden die Strecke. Ein zunehmend brasilianischer Einfluss wird im viktorianischen Georgetown spürbar. Der Wandel, der im Land spürbar ist, verheißt hoffentlich das Ende der langen guyanischen Nacht.

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