„Das ganze Land ist anwesend in dem, was meinen Figuren geschieht“
Tomás González im Gespräch über reale Vorbilder und literarische Figuren, notwendige Distanz und politisches Engagement
Herr González, Ihre Bücher handeln stets von ganz individuellen Persönlichkeiten, die sich mehr oder weniger stark von der übrigen Gesellschaft absondern. Warum?
Das hat viel mit mir selbst zu tun. Ich halte mich gern etwas abseits von den Konventionen der Gesellschaft und versuche, weniger auf Geld und Ruhm aus zu sein als darauf, mein Leben nach meinen eigenen Vorstellungen zu leben. Was ich selbst immer gesucht habe, suchen auch meine Romanfiguren. Sie ziehen sich zurück, bei Am Anfang war das Meer in den Wald. In dem Roman Die Teufelspferdchen bleiben sie in der Stadt, aber auf ihrem Grundstück lassen sie einen eigenen Wald wachsen, in dem sie verschwinden.
Hat dieser Rückzug etwas mit den konkreten Verhältnissen in Kolumbien zu tun?
Die Verhältnisse in Kolumbien sind sicher problematisch. Um sich ein Stück Freiheit zu bewahren, ist eine gewisse Distanz geradezu notwendig. Wer das nicht schafft, versinkt im Strom der historischen Ereignisse, in der alltäglichen Politik, in der täglichen Gewalt, in den wirtschaftlichen Bedingungen.
In Ihren Romanen taucht die politische Realität des Landes aber kaum jemals konkret auf.
Sie ist der Hintergrund. Das ganze Land ist anwesend in dem, was meinen Figuren geschieht. In Die Teufelspferdchen etwa ist die Gewalt sehr spürbar, aber auf eine eher atmosphärische Weise.
Fernando Vallejo, ein Schriftsteller, der wie Sie aus Medellín stammt, schreibt auch über Gewalt und den Verlust von Lebensqualität, aber auf eine ganz andere Art und Weise: sehr drastisch, sehr direkt. Wie gefällt Ihnen das?
Wir haben uns beide derselben Thematik verschrieben, diesem von Gewalt geprägten alltäglichen Leben in den achtziger, neunziger Jahren in Kolumbien. Vallejo nimmt die Gewalt in seine Bücher hinein, scheinbar ohne zu vermitteln, ganz direkt. Ich hingegen habe versucht, die Menschen so zu zeigen, als ob der friedliche Alltag weiterhin möglich wäre. Das ist wohl der Unterschied zwischen Fernando Vallejo und mir.
Sie wollen den Frieden als Möglichkeit am Leben erhalten. Verstehen Sie sich als engagierter Schriftsteller?
Ja, engagiert in dem Sinne, dass es mir sehr wichtig ist, die Menschen auch in den dunkelsten, schwärzesten Situationen spüren zu lassen: Es gibt die Chance auf Frieden. Es gibt Licht.
Viele Ihrer Romanfiguren basieren auf realen Angehörigen Ihrer Familie. Wie können Sie die Figuren von ihren Vorbildern lösen?
Für mich ist es wichtig, dass die LeserInnen dieses Hintergrundwissen nicht benötigen. Die Personen sollen als literarische Figuren funktionieren. Am Beginn steht immer die Art der realen Personen, sich in der Welt zu bewegen, die Art zu sprechen. Sehr bald, schon nach den ersten zwei, drei Dialogen, beginnt die Figur selbst zu leben, wie ein eigener Mensch. Für mich ist das die Magie der Literatur: dass es plötzlich eine neue Person auf der Welt gibt, die sich von dem löst, was ihr auf die Welt verholfen hat.
Bei welcher Ihrer Figuren haben Sie das erlebt?
Dem Horacio aus Horacios Geschichte liegt mein Onkel Jorge zugrunde. Und mittlerweile fällt es mir schon schwer, Jorges Leben von dem von Horacio zu trennen: Horacio ist für mich immer wirklicher geworden, Jorge hat sich immer weiter entfernt.