“Das Gespenst ist lebendig”
Interview mit Paco Ignacio Taibo II über das neue Che-Buch und die Bedeutung des utopischen Denkens für die heutige Linke
Paco, hier in Deutschland bist Du vor allem als Autor von Kriminalromanen bekannt. Was hat Dich an der Fertigstellung dieses Buches über den Che in Afrika am meisten gereizt?
Zum einen war es die Art und Weise der kriminalistischen Untersuchung. Andererseits ist es die Liebe zur Figur des Che, die Notwendigkeit, den Che zu entmystifizieren, um ihn re-mystifizieren zu können, einen neuen Mythos aus Fleisch und Knochen zu schaffen. Es geht darum, diese fotografische Ikone von der Inhaltsleere zu befreien, die T-Shirts und Poster mit Inhalt zu füllen. Ich glaube, daß genau dies eine wichtige Aufgabe ist, nicht nur für meine Generation.
Immer wenn ich beginne über das Thema zu reden, entdecke ich, daß es eine richtige Leidenschaft seitens der jüngeren Generation gibt, herauszufinden, was hinter dieser Ikone steckt: der unmögliche Revolutionär und Abenteurer – oder eine Person aus Fleisch und Blut, mit Widersprüchen, Irrtümern und Vorschlägen. Und natürlich geht es um das Interesse an einer noch nie erzählten Geschichte. Man fragt sich, warum sie bisher noch nicht erzählt wurde. Vor allem, wenn man der ureigensten Logik des Che folgt: Die Geschichte darf nicht schweigen, man muß sie erzählen. Eine Position, die auch der Che vertreten hat: Schreiten wir mit der Wahrheit voran, komme was wolle.
Warum wurden nur Teile aus Che Guevaras Aufzeichnungen veröffentlicht und nicht der gesamte Text?
Das ist schnell gesagt: Das entscheidende Kriterium war die historische Information. Alle Texte des Che, die uns wichtig erschienen, sind abgedruckt. Diejenigen, in denen Che Geschichten aus zweiter Hand erzählt und zu denen wir direkte Zeugen zur Verfügung hatten, fielen raus. Wenn zum Beispiel Che von einer Geschichte schrieb, die ihm sein Mitkämpfer Viktor Dreke erzählt hat, lassen wir diesen zu Wort kommen. Denn Victor Dreke lebt und kann die Ereignisse selbst schildern.
In der “tageszeitung” vertrat der kubanische Journalist Reynaldo Escobar die Auffassung, das Buch sei wohl ein Auftragswerk Fidel Castros, da nur dieser selbst die Publikation von Ches Aufzeichnungen genehmigen könne. Was denkst Du darüber?
Die Frage ist doch: Woher will der Verfasser des Artikels das denn wissen? Falls sich Fidel entschlossen hätte, das Tagebuch des Che zu veröffentlichen, hätte er das getan. Er hätte nicht uns als “U-Boote” mit einem Manuskript vorschicken müssen. Woher will der Journalist wissen, wie das Manuskript in unsere Hände gelangt ist? Er weiß es nicht.
In Kuba existiert eine sehr zentralisierte Herangehensweise gegenüber diesen Themen der geschichtlichen Debatte. Aber Kuba ist ein Land, in dem die Leute sich unterhalten, sich gegenseitig Sachen erzählen, in dem die Geschichte lebendig ist. Was man nicht mithilfe von Freunden im Staatsapparat löst, gelingt mithilfe von unzähligen Bekannten, mit compinches und compadres, die den Che ebenfalls bewunderten.
Ich traf bei meinen Recherchen in Kuba auf zwei völlig unterschiedliche Reaktionen: auf der einen Seite Funktionäre, die mir alle Türen versperrten, mich beleidigten und mir vorhielten, ich wolle nur die Figur des Che gegen die von Fidel ausspielen. Andere wiederum waren sehr hilfsbereit, öffneten die Schubladen und zeigten uns die Dokumente, die uns von den anderen verweigert worden waren.
Das Buch ist sicher wichtig für eine Neubewertung des philosophischen und politischen Denkens Che Guevaras. Aber haben denn seine Auffassung von Internationalismus und seine Utopie vom Neuen Menschen fast 30 Jahre nach seinem Tod noch Relevanz?
Eine Gesellschaft ohne Utopie ist eine absterbende Gesellschaft. Das philosophische Gedankengut der Konservativen benötigt keine Utopien. Es operiert unter einer Logik der Verfälschung: Du streichst die alltägliche Realität grün an, und verkaufst sie weiter. Das reaktionäre Denken braucht keine Utopie, es braucht nur eine Verkleidung der Realität.
Die Linke jedoch kann ohne die Formulierung einer Utopie, die den gegenwärtigen Alltag mit der Idee der Zukunft verknüpft, nicht überleben. Deshalb ist die Suche nach einer komplexen Utopie so wichtig: simple Utopien – schwarz-weiß gefärbt und verlogen – gibt es genug. Ich glaube, daß uns Che in zweifacher Hinsicht Material bietet, anzufangen nachzudenken: Seine Idee von Gerechtigkeit und die Übereinstimmung zwischen Wort und Tat. Dies waren zwei zentrale Elemente in Ches alltäglichem und politischem Leben. Man muß nicht nur betrachten, was er sagt, sondern auch, was er macht. Das ist fundamental für die Reformulierung eines utopischen Denkens.
In Mexiko erschien vor wenigen Tagen eine umfangreiche Che-Biographie von Dir. Welchen Stellenwert hat darin die Kongo-Episode?
Die Kongo-Episode nimmt darin einen wichtigen Platz ein. Wichtiger noch ist jedoch die Geschichte des Che als Industrieminister. Diese Geschichte ist niemals in geordneter Weise dargestellt worden. Was machte Che dreieinhalb Jahre im Industrieministerium? Welches industrielle Modernisierungsmodell entwarf er? Wie sah seine Beziehung zu den ArbeiterInnen aus? Wie kämpfte er gegen die Bürokratie? Obwohl die Industrieminister-Tagebücher noch nicht veröffentlicht wurden, konnte ich all’ diese Probleme in lebendiger Form diskutieren, da ich Einblick in die Akten der Direktion des Ministeriums bekam.
Sowohl die “Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung” (EZLN) als auch das seit kurzem agierende “Revolutionäre Volksheer (ERP) beziehen sich auf den Che. Gibt es in Mexiko eine Renaissance guevaristischer Ideen?
Dies bedeutet doch vor allem, daß das Gespenst lebendig ist. Diese Renaissance gibt es jedoch nicht nur bei den bewaffnet kämpfenden Gruppen, sondern auch und vor allem auf der Ebene der städtischen Bewegungen, die das Problem der Gerechtigkeit debattieren, den Stil der Machtausübung. Anders ausgedrückt: Wichtig ist, den Che nicht auf den Guerrilla-Krieg zu reduzieren, auf eine Methodik. Wenn Du das tust, verwandelst Du ihn eine Guerilla-Option mit ziemlich abenteuerlichem und avantgardistischem Zuschnitt; mit Konzepten, wie sie in den siebziger Jahren formuliert wurden. Das ist sehr dürftig. Die historische Distanz darf den Blick nicht überschatten; die Vergangenheit darf nicht mechanisch in die Gegenwart übertragen werden. Es gibt viele Ches, man muß sie alle sehen, nicht nur einen.
Berlin, 11. Oktober 1996