Chile | Nummer 351/352 - Sept./Okt. 2003

„Das Haben dominiert jetzt das Sein“

Die chilenische Psychotherapeutin Paz Rojas über das Trauma der Militärdiktatur und die Folgen der Straflosigkeit

Immer mehr Menschen suchen ihren Rat – sie können die erlittene körperliche und seelische Erniedrigung nicht länger verdrängen. Dr. Paz Rojas Baeza ist Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Corporación de Promoción y Defensa de los Derechos del Pueblo (CODEPU). Sie arbeitet in Santiago de Chile und behandelt dort seit 1975 vor allem Folteropfer und deren Angehörige. Sie schätzt, dass in den siebzehn Jahren Diktatur unter Augusto Pinochet fast achthunderttausend Menschen misshandelt worden sind. Das entspräche etwa acht Prozent der Bevölkerung. Die meisten ihrer PatientInnen haben lange über ihre traumatischen Erfahrungen geschwiegen, viele betrachten deren Auswirkungen als individuelles Problem.
Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit der Psychotherapeutin über die Langzeitwirkung der Diktatur auf ihre Opfer und die gesamte chilenische Gesellschaft.

Stephanie Zeiler

Dr. Rojas, sind die Chilenen heute glücklich?

Ich glaube, ein bedeutender Teil der chilenischen Gesellschaft ist sehr zufrieden – der Teil, der vom wirtschaftlichen Modell profitiert, dem die Diktatur nicht geschadet hat. Das gilt nicht für den anderen Teil, der unter der Diktatur gelitten hat. Er hat einen Mentalitäts- und Wertewandel durchgemacht.

Worin bestand dieser Wandel?

Ich glaube, dass die Gesellschaft ihre Fähigkeit zu kämpfen verloren hat. Es hat sich ein Mentalitätswechsel durchgesetzt: Das Haben dominiert jetzt das Sein. Natürlich gibt es Ausnahmen. Aber die Bedeutung des Kaufen-Könnens, des freien Marktes, des persönlichen Wohlstands – das wird durch die Medien doch ständig verbreitet. Als ich noch klinische Ärztin war, legte das ganze Krankenhaus die Arbeit nieder, wenn ein Mitarbeiter gefeuert wurde. Heute ist eine solche Solidarität nicht mehr vorstellbar. Stark zu diesem Werteverlust hat übrigens das politische Phänomen der Straflosigkeit beigetragen. Die Negation wichtiger menschlicher Werte durch den Staat hat zu einer Reduzierung des Menschlichen geführt. Solange die Straflosigkeit bestehen bleibt, wird sich auch diese kollektive Persönlichkeitsstörung nicht auflösen.

Welches Interesse hat Chiles Jugend an diesen gesellschaftlichen Problemen?

Ich glaube, dass die Jugend anfängt, auf diese Situation zu reagieren. In den vergangenen Jahren war die Diktatur als Thema immer noch stark tabuisiert. Jetzt fangen die Jugendlichen an, darüber zu sprechen, sie wollen wissen, was damals passiert ist.

Empfinden die Opfer der Diktatur immer noch Hass?

Ich habe in meinen 30 Jahren therapeutischer Erfahrung weniger Hass als ein starkes Verlangen nach Gerechtigkeit und Wahrheit beobachtet. Und das, obwohl viele Opfer fürchterlich traumatisiert wurden. Andererseits war Hass für viele Menschen, die gefoltert wurden, ein Gefühl, das ihnen überhaupt ermöglichte, die Folter zu überstehen. Wut und Hass waren praktisch überlebensnotwendig.

Können die Opfer vergessen?

Die direkt Betroffenen vergessen nicht. Diese perverse zwischenmenschliche Beziehung zu einem Folterer lässt sich nicht aus dem Gedächtnis löschen.

Wenn Vergessen nicht funktioniert, wie können Sie den Opfern dann helfen?

Die Opfer erinnern sich ja nicht pausenlos. Sie stellen den psychischen Verletzungen andere Aspekte ihrer Persönlichkeit gegenüber, die sie sehr stark machen: der Mut zum Weitermachen, der Wille, sich als Person weiterzuentwickeln, für Wahrheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Das versuchen wir zu fördern.
Ist es besser, das Trauma zu unterdrücken oder daran zu arbeiten?
Unterdrücken funktioniert nicht, das Trauma äußert sich immer irgendwie. Diejenigen, die sehr lange gebraucht haben, um Hilfe in Anspruch zu nehmen, litten unter Angstzuständen, Albträumen, Schlaflosigkeit und Depressionen. Überhaupt weisen diese Menschen Schäden an allen ihren psychischen Funktionen auf. Etwa an der Sprache: Es gibt keine Worte, um das Erlebte angemessen zu schildern. Oder an ihrem Gedächtnis, das von den fürchterlichen Erlebnissen in Beschlag genommen wird. Selbst das Zeitempfinden ist gestört – in Bezug auf die Erfahrung der körperlichen und seelischen Verletzung ist es quasi stehen geblieben.

Was ist mit den Tätern?

Meiner Ansicht nach können wir uns nicht mehr nur mit den Opfern beschäftigen. Wir müssen auch die andere Seite ins Auge fassen: die Person, die dazu fähig war, zu vergewaltigen, zu foltern. Dieses Böse steckt als Potenzial in uns allen, und wir müssen uns damit beschäftigen. Sonst kümmern wir uns – aus der Sicht einer Ärztin gesprochen – immer nur um die Symptome und nicht um die Ursachen.

Viele Menschenrechtsorganisationen stehen heute vor dem finanziellen Aus. Auch Ihre Organisation hat große Schwierigkeiten. Warum?

Ich glaube, der große Irrtum vieler bestand darin zu verkennen, dass viele menschliche Tragödien nach dem Ende der Verbrechen erst beginnen. Und die Unterstützung dann noch genauso notwendig ist. Unter einer Diktatur zu leben und zu arbeiten, ist sehr schwierig, über viele Probleme haben die Menschen einfach nicht gesprochen. Seitdem das vorüber ist, stehen wir vor der Herausforderung, uns um die Opfer zu kümmern, sie zu behandeln, Gerechtigkeit wiederherzustellen. Und das kostet Geld – wovon wir immer weniger bekommen. Meine Organisation CODEPU macht eine wichtige Arbeit: Wir bereiten Klagen gegen Folterer vor. 260 Verantwortliche haben wir identifiziert, für 76 liegt derzeit ein Haftbefehl vor. Aber wir haben in der Tat kein Geld.

Was halten Sie davon, dass sich eine Gruppe von Angehörigen Verschwundener mit der Bitte um ein Schlusspunktgesetz an die rechte Partei UDI gewandt hat?

Diese Angehörigen wollen keinen Schlusspunkt. Diese Menschen, die sich in der Tat an die extreme Rechte gewandt haben, sind von den demokratisch gewählten Regierungen vollkommen im Stich gelassen worden. Sie wollen lediglich auf materielle Wiedergutmachung verzichten, nicht aber auf Gerechtigkeit. Ihre tiefe Verzweiflung hat die UDI für ihre Zwecke auszunutzen gewusst.

Stellen Sie sich vor, Sie treffen Pinochet auf der Straße. Wie würden Sie reagieren?

Ich würde wahrscheinlich gar nichts sagen, sondern ihn nur voller Verachtung ansehen. Auch mit Hass. Ich habe selbst Angehörige, die verschwunden sind.

Übersetzung: Claudius Prößer

www.menschenrechte.org
www.codepu.cl
www.medico-international.de

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