Nummer 464 - Februar 2013 | Venezuela

Das Herz des Volkes

Reflektionen der venezolanischen Bevölkerung über die Errungenschaften von 14 Jahren Chávez-Regierung

Überall in Venezuela fragen sich die Menschen, welche Folgen ein Ende der Ära Chávez für sie hätte. Besonders in den zahlreichen Kooperativen, die seit 1999 stark gefördert wurden.

Jan Ullrich

„Das Herz des Volkes“ weht am Fahnenmast der bolivarianischen Grundschule des Dorfes Gavidia in den venezolanischen Anden. Eine gute halbe Stunde hat sich der gut besetzte Jeep der Ko-operative Valle Encantado die schmale Bergstraße von der Kleinstadt Muchuchies in das kleine Andendorf hinaufgewunden. Bevor die Straße vor gut zwei Jahren mit Mitteln des Kommunalen Rates Gavidias restauriert worden ist, dauerte die Fahrt mehr als eine Stunde, erzählt der Fahrer. Und beklagt gleichzeitig, dass seine Kooperative durch die Anschaffung eines eigenen Transportmittels durch den kommunalen Dorfrat, dem „Taxi Comunal“, nur noch sechs (rund 0,90 Euro) statt wie bisher achtzehn Bolivares für die Fahrt fordern kann.
Auch auf 3.327 Meter über dem Meeresspiegel ist der Sozialismus des 21. Jahrhunderts angekommen. Wir passieren die „Chavéz-Brücke“ und halten in der Dorfmitte gegenüber der Schule vor dem Sitz der Näherinnenkooperative. 2001 noch maßgeblich unter der Initiative der Jesuiten gegründet, produziert die Cooperativa de Mujeres Tejedoras De Gavidia vor allem Kleinkunst, die sie in der von Tourist_innen viel besuchten Bergregion im Bundesstaat Mérida über das Netzwerk der Produzenten des Paramos (PRIONPA) verkauft.
Auch einen vom staatlichen Kulturministerium betriebenen Laden für lokales Kleinkunsthandwerk im Zentrum der Provinzhaupstadt Mérida beliefert die Kooperative. „Natürlich hat sich hier mit Chávez vieles verändert“, erklärt Berónica Zerpa de Villareal, die zu den neun Gründungsmitgliedern der Kooperative zählt. Mit Mitteln staatlicher Institutionen habe man im Jahr 2005 das zerfallene Gebäude im Dorfzentrum wieder herrichten können. Auch die Posada nebenan sei durch das staatliche Programm zur Förderung von Kooperativen entstanden. Gescheitert sei nur die Schafzüchterkooperative, die den Näherinnen als Rohstofflieferant hätte dienen sollen.
Geschlossene lokale Produktionsketten hatte die venezolanische Regierung in den Jahren 2004 bis 2006 zum Ziel ihres Modells der „endogenen Entwicklung“ erklärt und zehntausende Kooperativen bei ihrer Gründung unterstützt. In der Näherinnenkooperative arbeiten heute noch drei der neun Gründerinnen. Außer Berónica sind das ihre Schwester und eine Cousine. Es habe in der Gründungsphase sehr viel Streit gegeben, erzählt Berónica und schweigt zu den Details. „Wenn der Präsident nicht mehr kann, betrifft uns das nicht so sehr, weil er seit Langem nichts mehr für die Kooperativen tut“, so schätzt sie die Folgen eines möglichen Rückzugs von Chávez ein.
Loyo, Sprecher des kommunalen Rates im Ortsteil Micarache, sieht das anders: „Die Kooperativen haben nie für das Wohl der ganzen Gemeinde produziert. Sie waren kapitalistisch.“ Der kommunale Rat habe deshalb die Forellenzucht übernommen, die 2005 von der Kooperative „Valle Encantado“ aufgebaut worden war. Jeder im Dorf könne nun umsonst Forellen essen, die Einnahmen aus dem Verkauf gehen in den kommunalen Rat. „Das ist Sozialismus“, begeistert sich Loyo . Auf die Frage, ob es diesen Sozialismus auch ohne Chávez geben könne, meint er:. „Chávez ist ein Kämpfer und er wird für immer unser Präsident sein – Chávez sind wir alle“.
Mit dem Slogan „Chávez sind wir alle“ hat die bolivarianische Welle, die Kampagne des Regierungslager, nicht nur die Präsidentschaftswahlen klar für sich entschieden, auch 20 von 23 Governeursposten gingen bei den Wahlen im Dezember an die Parteigänger des „Herz des Volkes“. Als dieses hatte sich Hugo Chávez auf tausenden Wahlplakaten im Land präsentiert. Seine Kandidaten waren folgerichtig „Kandidaten des Herzens“. Emotionen bewegen mehr Wähler_innen als Inhalte, dies gilt nicht nur für das Regierungslager in Venezuela.
In Barquisimeto, Hauptstadt des oppositionell regierten Bundesstaates Lara, treffe ich den ehemaligen Guerillero Hernán Vargas Calles. „Die wahre Waffe der Revolution ist Liebe“, rechtfertigt er die Symbolik des Wahlkampfes. Auch als er damals in den Bergen Laras und Trujillos und später in der Stadtguerilla in Caracas kämpfte, habe er dies vor allem aus Liebe getan. Ich frage, ob für ihn als Linker die religiöse Symbolik nicht zumindest befremdlich sei. „Natürlich war der bewaffnete Kampf auch ein Kampf gegen die katholische Kirche, der größten Unterstützerin der herrschenden Klasse. Aber für mich war, wenn ich heute zurückschaue, Jesus genauso wichtig wie Karl Marx. Und das sage ich als Kommunist“, erklärt er. Aus dem gescheiterten Kampf der Guerilla in den 60er Jahren habe er gelernt, dass in einem Land mit einem tief verwurzelten Antikommunismus eine Anknüpfung an christliche Werte eine erfolgreichere Strategie sei, um „die Massen“ für ein revolutionäres Projekt zu gewinnen.
Auch die zunehmende religiöse Verehrung von Chávez seit seiner Krebserkrankung sieht er nicht als Gefahr für das politische Projekt: „Seit 500 Jahren werden wir hier unterdrückt und ausgebeutet. Dies ändert man nicht in 14 Jahren. Die kommende Zeit wird zeigen, ob wir dem revolutionären Weg weiter folgen, ob die Transition katalysiert wird oder ob wir einen fatalen Rückschritt machen. Mit oder ohne Chávez müssen wir nach vorne gehen. Chávez ist endlich und eine Revolution kann nicht von einer Person abhängen – es ist ein Projekt. Chávez selbst hat es oft gesagt: dieses Projekt ist ausgesät worden.“ Hernán bittet mich der Welt mitzuteilen, dass die alten Guerilleros trotz ihres Alters bereit sind, ihre Revolution gegen jede imperialistische Agression erneut mit der Waffe zu verteidigen.
In einem Café in Barquisimeto treffe ich den Architekten und Städtepläner Lino Alvarez. Politisiert in der studentischen Bewegung der späten 1960er Jahre war er lange Aktivist der Bewegung zum Sozialismus (MAS). Später unterstützte er Chávez‘ frühere Partei Bewegung für die Fünfte Republik (MVR), die 2007 in der neu gegründeten Vereinigten Sozialisten Partei Venezuelas (PSUV) aufging. Vor zehn Jahren hatte ich Lino zu zwei staatlichen Entwicklungsprojekten in prekarisierten Siedlungen in den Kleinstädten Carora und Siquesique begleitet. Finanziert durch die Regierung des Bundesstaates Lara sollten neben der Kartographierung und der dadurch ermöglichten Ausstellung von Landtiteln zusammen mit den Bewohner_innen Anschlüsse an die öffentlichen Netze für Wasser, Strom und Abwässer gelegt werden. Eine Grundschule und die Errichtung eines Gemeindehauses waren ebenso geplant wie die im Sinne der endogenen Entwicklung liegende Bepflanzung eines kollektiven Gemüsegartens. „Der Streit zwischen den unterschiedlichen politischen Ebenen in Lara hat das Projekt im Sande verlaufen lassen“, erzählt Lino. Als nach zwei Jahren endlich Mittel für den ersten Projektabschnitt des Anschlusses an die öffentliche Infrastruktur in Carora freigegeben wurden, hatte die Inflation die Umsetzungskosten bereits verdoppelt. „Immerhin haben wir damit Drainage verlegen und das Abwasserproblem lösen können. Bei Wasser- und Stromanschluss haben die Bewohner kreative Lösungen gefunden“, berichtet er. Die Asphaltierung der Zufahrtsstraße, der Bau von Schule, Gemeindezentrum und Gemüsegarten als zweiten Projektabschnitt konnte er nicht mehr umsetzen. Mit dem Streit zwischen dem ehemals zur Regierungspartei zählenden Gouverneurs Henry Falcón und dem Präsidenten Hugo Chávez habe die Landesregierung alle Programme zur partizipativen Entwicklung prekärer Stadtteile eingestellt. Der wiedergewählte Henry Falcón rechtfertigte sich im Wahlkampf damit, ihm seien von der Zentralregierung nach seinem Übertritt zur Opposition die Haushaltsmittel für den Bundesstaat Lara gekürzt worden. Ob dies stimmt, kann auch Lino nicht sagen.
Von der MVR hat er sich trotzdem distanziert. Beziehungsweise, Chávez habe sich von der Bewegung distanziert. „1998 hat Chávez die Wahlen gewonnen, weil ihn die Intelligenz des Landes, die gebildeten und fortschrittlichen Teile der Mittelschicht unterstützt haben. Zusammen mit der Mittelschicht hätte Chávez das Land modernisieren können. Stattdessen beginnt er ab 2005 mit einer Kampagne gegen die Universitäten und einem dümmlichen Antiakademismus“. Auf die Frage, ob Chávez nicht immerhin die soziale Ungleichheit beim Zugang zu Bildung deutlich habe verringern können, ment er: „Ja, aber mit denselben Mitteln wie es die Sozialdemokratische Partei AD es vorher auch gemacht hat. Als paternalistischer Erdölstaat, der Geschenke verteilt und sich damit politische Loyalität erkauft“, macht Lino seinen Bruch mit der Regierung deutlich.
Einen Block weiter treffe ich Milagro Furiati. Sie ist ebenfalls ehemalige MAS-Aktivistin und hat vor zehn Jahren als pensionierte Lehrerin begonnen, sich in den Bildungsmissionen zu engagieren. Sie kritisiert, dass an den Kursen der Bildungsmission kaum noch Menschen teilnähmen. Die meisten seien nur immatrikuliert, um die Ministipendien zu erhalten. Zwar gäbe es große Erfolge und viele Absolventen hätten durch die Bildungsmissionen sogar Zugang zu den Universitäten gefunden, das Stipendiensystem diene jedoch zur Alimentierung der eigenen politischen Basis. Von Nicolás Maduro, designierter Präsidentschaftskandidat sollte Chávez den Kampf gegen den Krebs verlieren, erwartet Milagro keine großen Veränderungen. „Umso länger Menschen an der Macht sind, umso weniger scheinen sie Interesse an Veränderungen zu haben.“ Man dürfe trotzdem nicht vergessen, dass in den ersten Regierungsjahren viel Positives passiert sei. Zumindest sei ihre Pension gestiegen.

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