Argentinien | Nummer 381 - März 2006

Das Kämpfen hat sich gelohnt

Osvaldo Bayer erinnert sich an Diktaturzeit und Exil

Der argentinische Schriftsteller Osvaldo Bayer musste während der Diktaturzeit ins Exil nach Deutschland. Viele Jahre lebte er in Berlin und kämpfte von hier aus für die Verschwundenen. In den Lateinamerika Nachrichten berichtet er über die Auswirkungen, die die acht finsteren Jahre auf sein Leben gehabt haben.

Osvaldo Bayer, Übersetzung: K. Wieland

Dreißig Jahre sind seit jenem 24. März 1976 vergangen. An diesem Tag war ich in Buenos Aires. Nein, falsch. Eigentlich war ich schon seit Februar 1975 im Exil in Deutschland, verfolgt von Isabel Peróns Todesschwadronen der Triple A. Zum Tode verurteilt wegen des Films „La Patagonia Rebelde“ und wegen meiner Bücher. Aber ich kehrte ein Jahr später, im Februar 1976, in mein Land zurück, da Wahlen ausgerufen worden waren und ich glaubte, dass wir wieder eine Demokratie mit mehr Freiheit bekommen würden. Ein großer Fehler. Schon vier Wochen nach meiner Rückkehr putschten die Streitkräfte und errichteten eine extreme Diktatur.
Mit dem Putsch begannen das Verschwinden von Personen und die grausamsten Verfolgungen der argentinischen Geschichte. Die Methode des Verschwindenlassens, heute als „argentinischer Tod“ bekannt, ist eine ewige Schande für all diejenigen, die wir auf argentinischem Boden geboren sind. Ein unglaublich grausames System: die Gefangenen wurden in ein Konzentrationslager gebracht, wo sie mit furchtbaren Methoden gefoltert wurden. Sie blieben verschwunden, bis sie schließlich mit einem Schuss in den Nacken getötet oder bei lebendigem Leibe aus Militärflugzeugen ins offene Meer geworfen wurden. Das wirklich bestialische Extrem der argentinischen Militärs bestand jedoch darin, schwangere Frauen in Gefangenschaft zu halten und ihnen bei der Geburt ihre Kinder wegzunehmen. Diese Kinder wurden vorzugsweise Familien von Polizisten oder Militärs in Obhut gegeben, um sie so vor ihren „marxistischen Eltern“ zu retten. Kurz nach der Geburt wurden die gefangenen Mütter umgebracht.
Tausende Verschwundene, tausende Exilanten, tausende Gefangene. Aber auch die Madres de Plaza de Mayo. Ein epischer Moment in der Geschichte des Völkermords. Ein Symbol, ein Zeichen für Zivilcourage um jeden Preis. Der nackte Fuß, der über den Armeestiefel triumphiert. Sogar das bestialischste aller Unterdrückungssysteme konnte sie nicht klein kriegen. Die Henker in Uniform wurden besiegt.

Geheimnisse der Geschichte

1976 war es sehr schwierig für mich, Argentinien wieder zu verlassen. Ich versteckte mich auf den Ländereien republikanischer Veteranen aus dem Spanischen Bürgerkrieg, die nach der Niederlage gegen Franco im Jahre 1939 nach Argentinien geflohen waren. Nach drei Monaten schließlich konnte ich das Land verlassen. Der Kulturattaché der Deutschen Botschaft in Buenos Aires, Gottfried Arens, bot mir schließlich seine Hilfe an und überwand alle Hindernisse, um mich zum Flughafen Ezeiza zu bringen. Eine Geste, für die ich ihm Zeit meines Lebens dankbar sein werde.
Ich kam nach Deutschland und war sehr traurig. Auch in Deutschland waren schon gute Freunde verschwunden, von anderen hatten sie die Kinder entführt. Ich musste meine historischen Forschungen aufgegeben, ebenso meine Filmprojekte. Mein eigentliches Ziel war es, die Geheimnisse der argentinischen Geschichte zu erforschen, ihre anonymen Helden. Meine Ergebnisse wollte ich später in Büchern veröffentlichen, sie auf die Leinwand bringen, damit sie einem großen Publikum zugänglich gemacht werden könnten. So wie bei „La Patagonia Rebelde“. Aber all das war Vergangenheit.

Rückblick

Mein erstes Jahr 1975 in Deutschland war bereits ziemlich traurig gewesen. Ich hatte trotz vieler Bemühungen keine Arbeit gefunden. Ein einziges Mal konnte ich für den Südwestfunk arbeiten. Ich wohnte in Essen, zusammen mit meiner Frau. Wir lebten mehr schlecht als recht von dem, was sie als Sekretärin verdiente, während unsere vier Kinder in Aachen studierten. Wahrscheinlich war es vor allem der Mangel an Beschäftigung, der mich dazu veranlasste, im Februar 1976 nach Argentinien zurückzukehren. Aber ich musste erneut gehen, denn in Argentinien zu bleiben hätte bedeutet, den gleichen Tod zu sterben wie viele meiner Kollegen und Freunde. Nach meiner Rückkehr ins Exil nach Deutschland, widmete ich mich mit Leib und Seele der Verbreitung der schrecklichen Tatsachen, die in Argentinien geschahen. Und natürlich der Arbeitssuche. An der Universität konnte ich keinen Fuß fassen, was ich eigentlich angestrebt hatte. Aber ich erhielt eine Arbeit als Übersetzer. Es war einer dieser Zufälle, die das Leben für uns bereit hält. Meine Frau hatte eine Freundin, die Altistin an der Bonner Oper war, Lotte Kluge. Einmal waren dort Journalisten der Deutschen Welle, die eine Reportage machten. Und diese Frau erzählte ihnen, dass sie einen argentinischen Schriftsteller und Historiker kenne, der im Exil lebe und arbeitslos sei. Sie haben mich auf der Stelle angerufen. So wurde ich Übersetzer von Nachrichtentexten und, wenn nötig, Nachrichtensprecher im Fernsehen. Einige Zeit später empfahl mich ein deutscher Soziologe, den ich in Argentinien kennen gelernt hatte, der Deutschen Stiftung für Internationale Entwicklung (DES) und ich konnte dort Unterricht geben.

Kampf für die Verschwundenen

Ansonsten widmete ich jede freie Minute, die ich im Exil verbrachte, dem Kampf für die Verschwundenen in Argentinien. Und hier erhielt ich schließlich die Unterstützung, die mir in anderen Aspekten in Deutschland versagt geblieben war. Vor allem die Evangelische Kirche hat mich sehr unterstützt. In diesem Zusammenhang werde ich mich immer an Pastor Walter Zielke aus Essen erinnern, der wie Wenige sonst, sehr viel Zeit darauf verwendete, sich der lateinamerikanischen Problematik zu widmen. Eine weitere Person, an die ich mich voller Dankbarkeit erinnere, ist Bischof Scharf, der in Bonn zum ersten Mal in der Geschichte eine Auszeichnung an die Madres de Plaza de Mayo verlieh, noch mitten in der Zeit der Diktatur. Damals war ich gerade nach Berlin gezogen, das Zentrum der Solidaritätsbewegung mit Lateinamerika.
Wir Exilanten brachten mindestens genauso viele, wenn nicht mehr Veröffentlichungen gegen die Militärdiktatur hervor wie die NazigegnerInnen im Exil gegen den Faschismus.
Darin bestand meine Aufgabe: Jeden Tag zu schreiben, zu Seminaren und Veranstaltungen zu reisen, die fast überall von StudentInnenverbänden an deutschen Universitäten abgehalten wurden. Daneben gab es noch die Veranstaltungen von amnesty international und anderen Menschenrechtsorganisationen. Von den verschiedenen deutschen Regierungen gab es wenig oder keine Hilfe. Sie verkauften Waffen an die Militärs und schickten parlamentarische Delegationen zur Fußballweltmeisterschaft 1978 nach Argentinien. Die Gespräche, die ich im Außenministerium in Bonn, immer in Begleitung von Bischof Helmut Frenz, geführt habe, um ein Wort für die deutschen Verschwundenen in Argentinien einzulegen, führten zu nichts.
Aber schließlich kam die Stunde der Rückkehr. Die Dummheit der argentinischen Militärs wurde im Falklandkrieg mehr als deutlich und brachte die Diktatur zu Fall. Eine Woche vor der Wahl, im Oktober 1983, kehrte ich nach Buenos Aires zurück. Das ZDF filmte meine Rückkehr und Wochen später zeigten sie im Nachtprogramm: Cuarentena: exilio y regreso. Für mich ein unvergessliches Dokument – nicht, weil ich der Hauptdarsteller bin, sondern weil man darin die Freude der argentinischen Bevölkerung über den Sturz der Henker spüren kann.

Die „Geflohenen“

Aber in Buenos Aires erwartete uns Exilanten eigentlich niemand. Die großen Zeitungen, das Fernsehen, die Radiosender hatten sich nicht verändert. Alfonsín rührte nichts an. Die gleichen Leute, die die Diktatur unterstützt hatten, prägten nach wie vor die öffentliche Meinung. Die Tageszeitung Clarín hatte zum Beispiel unter der Federführung von Luis Gregorich die Intellektuellen im Exil, vor allem Osvaldo Soriano, Juan Gelman, David Viñas und mich, angegriffen. Nun ja, Alfonsín ernannte niemand geringeren als eben jenen Gregorich zum argentinischen Botschafter bei der UNESCO und machte ihn später zu seinem Kulturstaatssekretär. Wenn Alfonsín auf die Exilanten zu sprechen kam, nannte er sie „die, die geflohen sind“. Ernesto Sábato hatte nur Worte der Missachtung für uns. Als Alfonsín ins Amt eingeführt wurde, lud er keinen Intellektuellen ein, der im Exil gewesen war, nicht einmal Julio Cortázar. Darin bestand der Komplex derjenigen, die während der Diktatur in Argentinien geblieben waren und die einfach weggeschaut hatten, wenn es um Gefangennahme oder das Verschwinden von anderen Intellektuellen ging.

Keine Wiedergutmachung

Kein Intellektueller, der ins Exil ging, hat je eine Wiedergutmachung dafür erhalten, dass seine Werke verbrannt wurden oder dass er den Ort, an dem er lebte, unter Bedrohung seines Lebens verlassen musste. Eine kleine Anekdote drückt dies sehr gut aus: Als ich nach acht Jahren Exil zurückkam, führten mich meine ersten Schritte zum argentinischen Schriftstellerverband (Sociedad Argentina de Escritores, SADE), wo ich vier Jahre Sekretär für Öffentlichkeitsarbeit gewesen war und an dessen Beschlüssen ich aktiv beteiligt gewesen war. Bei meiner Rückkehr empfing mich eine Angestellte mit den Worten: „Herr Bayer, Sie schulden uns den Mitgliedsbeitrag für acht Jahre.“ Ich zahlte, und ging nie wieder dorthin. So etwas kann man nicht vergessen. Auch die Universitäten blieben verschlossen. Die Verlage publizierten nichts von den ExilantInnen. Um in meinem Land leben zu können, musste ich für sechs Monate in Europa arbeiten, um dann in Argentinien von den Devisen leben zu können.
Dies änderte sich langsam, vor allem durch das Engagement verschiedener Menschenrechtsorganisationen. In den Universitäten wurden nach und nach die Kollaborateure der Diktatur ersetzt. Nach vier Jahren akzeptierte die Tageszeitung Página 12 schließlich einen Beitrag von mir. Später berief mich die Philosophische und Literaturwissenschaftliche Fakultät der Universidad de Buenos Aires auf den Lehrstuhl für Menschenrechte. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich endlich von meiner Arbeit in Argentinien leben.
Ich bin sehr froh, in mein Land zurückgekehrt zu sein und den schwierigen Kampf weiterzuführen. Ich komme regelmäßig nach Deutschland zurück, um meine vier Kinder und meine zehn Enkel zu besuchen. Aber mein Platz ist in Argentinien. Ich bin bald achtzig Jahre alt, aber immer noch besteht die größte Freude für mich darin, zu Universitäten im ganzen Land zu reisen, die mich zu Vorträgen über unsere Geschichte und die Menschenrechte einladen. Am 30. April 1997 erhielt ich die Auszeichnung der Madres de Plaza de Mayo. Sie ist die wertvollste Auszeichnung, die ich je erhalten habe. Es hat sich gelohnt zu kämpfen. Ich würde es jederzeit wieder tun.

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