Mexiko | Nummer 283 - Januar 1998

Das langsame Sterben des Dinosauriers

Der Zerfall der PRI und Mexikos Abschied von der „versteinerten Revolution“

Mit „Der menschenfreundliche Menschenfresser“ überschrieb Octavio Paz Anfang der 70er Jahre einen Essay, in dem er die Anatomie des mexikanischen Staates und seines „politischen Armes“, der seit 1929 regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), analysierte. (1) In ihm sieht er im PRI-System weder eine Parteiendemokratie, noch eine Militärdiktatur, sondern ein Regime des bürokratisierten Klassenkompromisses. Das ist lange her. Paz hat sich mittlerweile an die Seite der Macht gestellt und das PRI-System mutierte seit Anfang der 80er Jahre zum Sachverwalter der alleinigen Interessen einer schmalen Elite. Was 1910 als erste soziale Revolution des 20. Jahrhunderts begann, endet heute mit dem unaufhaltbaren Zerfall der Staatspartei, dem versteinerten und korrupten Erbe der Revolution. Das Jahrhundert der Mexikanischen Revolution ist vorbei, Oppositionskräfte nehmen immer größeren Raum ein und die zugespitzten sozialen Widersprüche zerreißen das Land zusehends.

Boris Kanzleiter

Vielleicht kann man den Umbruch nur verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, wie Mexiko noch vor zwanzig Jahren regiert wurde. Eine allmächtige Staatspartei kontrollierte Gesellschaft, Medien, politische Organisationen und beherrschte das Land mit ihrem Konzept der „repressiven Integration“. Sozialen und politischen Protest hielt sie nieder durch kleine Konzessionen, große Gesten, die Korruption seiner Protagonisten und, wenn die Integration versagte, durch die Ausschaltung der führenden Aktivisten. Die PRI, das war der große Dinosaurier, der aus einer Allianz lokaler Revolutionscaudillos hervorgegangen war, die das Land nach langem Bürgerkrieg befrieden wollten. Politisch reaktionär war das Regime nur in bezug auf Bürgerrechte und demokratische Freiheiten, in sozialer Hinsicht aber bot der Dinosaurier den Mexikanern ein angenehmeres Leben als vielen Lateinamerikanern vergönnt war. Und außenpolitisch positionierte sich das Regime auf die Seite der nationalen Befreiungsbewegungen Lateinamerikas gegen die reaktionären Diktaturen der Militärs anderer Länder und den mächtigen Nachbarn mit seinen imperialen Ansprüchen im Norden.

Bewegung im Jurrasic Park

Doch in den letzten Jahren kam Bewegung in den Jurrasic Park des PRInosauriers. Der zapatistische Aufstand Anfang 1994 katapultierte Mexiko auf einmal als Unruheherd in die Weltpresse, wo rebellierende Kleinbauern vom Militär niedergeschlagen werden. Und in diesen Tagen übernimmt mit Cuauhtémoc Cárdenas zum ersten Mal ein linksoppositioneller Politiker die Regierungsgewalt im strategisch wichtigen Hauptstadtdistrikt Mexiko D.F. Oft wird nun vom „Demokratisierungsprozeß“ gesprochen, den das Land durchlaufe. Hoffnung macht sich breit. Wer aber von oberflächlicher Betrachtung Abschied nimmt, wird schnell erkennen, daß hier eher der Wunsch Vater des Gedankens ist. Den Zerfall der PRI-Kontrolle mit einer Demokratisierung der Gesellschaft gleichzusetzen, greift zu kurz. Es handelt sich vielmehr um einen vielgesichtigen Wandlungsprozeß, dessen einzige Konstante seine Widersprüchlichkeit ist. Einerseits entstehen neue und größere Freiräume, andererseits aber kommt es zu gesellschaftlicher Desintegration, der Formierung neokorporativistischer Beziehungen und neuen Kontrollmechanismen, die nicht sympathischer sind als die alten.
Das offensichtlichste Phänomen der gefährlichen Desintegration ist der Anstieg sozial und politisch motivierter Gewalt. An der Nordgrenze zu den USA liefern sich Mafiaclans, die um die Kontrolle des Drogenmarktes konkurrieren, tägliche Showdowns. Der Alltag in Tijuana etwa läßt die Fiktionen von Blade Runner und Mad Max real werden. In der Hauptstadt-Metropole sind bewaffnete Raubüberfälle in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf der Straße mittlerweile unspektakuläre Normalität. Gleichzeitig weisen die Statistiken einen deutlichen Anstieg von Menschenrechtsverletzungen mit politischem Hintergrund aus. 563 Aktivisten allein der linksorientierten PRD (Partei der Demokratischen Revolution) sind seit ihrer Gründung 1988 von Polizei, Militär, Weißen Garden oder Killern umgebracht worden, davon fast die Hälfte in den letzten drei Jahren unter dem Regime Präsident Zedillos. (2) Im gleichen Zeitraum sind 67 Journalisten ermordet worden, nach Kolumbien die höchste Zahl in Lateinamerika. (3) Ungezählt sind die Inhaftierten, Gefolterten und Ermordeten der zahlreichen sozialen und politischen Oppositionsgruppen außerhalb der PRD. Allein die Mitgliedsgruppen der an einer traditionellen Linken orientierten FAC-MLN (Breite Front zum Aufbau der Nationalen Befreiungsbewegung) beklagen über 500 politische Gefangenen und in Chiapas ermorden Paramilitärs täglich rebellierende Campesinos und Indígenas. Dabei bleiben die meisten Morde ungesühnt, obwohl die Verantwortlichen bekannt sind. Rubén Figueroa Alcocer beispielsweise, der ehemalige Gouverneur von Guerrero und zweifelsfreie Drahtzieher des Massakers an 17 oppositionellen Bauern in Aguas Blancas, kann in Mexiko-Stadt seelenruhig seinen Geschäften nachgehen. Als im September Pierre Sané, Präsident von amnesty international, Präsident Zedillo einen alarmierenden Bericht über die Menschenrechtssituation übergeben wollte, wurde ihm brüsk die Türe gewiesen.

Alle Gewalt geht von oben aus

Die Brutalisierung der sozialen und politischen Beziehungen durchdringt die gesamte Gesellschaft, wobei die ungehemmtesten Protagonisten nicht nur der politischen, sondern auch der sozialen Gewalt ohne Zweifel die Eliten und der Staatsapparat selbst sind. Am deutlichsten wird dies am Beispiel des Drogenhandels, der in Mexiko mittlerweile zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen zählt. Mitte Februar kam beispielsweise ans Tageslicht, daß General González Rebollo, oberster Chef der nationalen Drogenfahndung, auf der Gehaltsliste von Amado Carrilo Fuentes, einem der wichtigsten Drogenbarone stand. Diese Allianz ist symptomatisch, denn kein ernsthafter Beobachter Mexikos wird abstreiten, daß Militär- und Polizeiapparate, genauso wie eine große Anzahl von hohen Regierungsfunktionären und Politikern in das lukrative Geschäft mit den Drogen verstrickt sind, wenn sie es nicht sogar kontrollieren. (4)
Auch die Privatisierungspolitik seit Beginn der 80er Jahre zeichnet sich durch die kriminelle Energie der Eliten aus. Unter der Administration von Carlos Salinas zwischen 1988 und 1994 wurden 160 staatliche Unternehmen privatisiert, darunter befanden sich Stahlwerke genauso wie Bergbauunternehmen oder Fluglinien. Am Beispiel der Telefongesellschaft TELMEX läßt sich deutlich machen, wie die PRI-Eliten die politische Kontrolle über den Privatisierungsprozeß nutzen, um ihre eignen Taschen zu füllen. TELMEX wurde zum lächerlichen, bewußt unterbewerteten Preis von 1,7 Milliarden US-Dollar an den Salinas Freund und Geschäftspartner Carlos Slim verkauft. Kurze Zeit nach der Privatisierung waren die TELMEX-Aktien an der Börse zwölf Milliarden US-Dollar wert und Carlos Slim wird heute mit einem Privatvermögen von 6,1 Milliarden US-Dollar als reichster Mann Lateinamerikas gehandelt. (5) Privatisierung als Raubüberfall auf öffentliches Eigentum, die Straßenkriminalität nimmt sich dagegen aus wie dilettantischer Kinderkram. Der Klassenkompromiß ist aufgelöst.

Bereichert Euch!

Hier wird deutlich, wo die eigentlichen Ursachen des Zerfalls der PRI-Macht liegen: Bestimmt nicht im politischen Willen auf eine Demokratisierung, sondern vielmehr im Verlust von Integrationsmöglichkeiten, nachdem 15 Jahre neoliberale Politik die Grundlagen des sozialen Paktes der Mexikanischen Revolution ausgehebelt haben. Während der Dinosaurier in seinen besten Jahren die hohe Staatsquote an Produktionsmitteln und die progressiven Möglichkeiten der Verfassung von 1917 nutzte, um die Mexikaner mit Land, Arbeit und Tortillas zu versorgen, folgt die durch IWF und Weltbank diktierte Politik der PRI-Eliten seit der Schuldenkrise von 1982 nur noch einer Maxime: „Bereichert Euch!“
Dabei sind es sehr wenige, die absahnen, während eine große Mehrheit marginalisiert wird. Eine Gruppe von 183.000 Individuen – 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung – verfügt in Mexiko über 51 Prozent des gesamten Bruttosozialproduktes. Ihre Profite sind größer als die gesamten Ausgaben des Staates für alle öffentlichen sozialen Ausgaben. (6) Gleichzeitig ist die Kaufkraft des Mindestlohns seit 1982 um beinahe 70 Prozent gefallen und die durchschnittlichen Reallöhne gingen zwischen 34 Prozent in der Industrie und 27,5 Prozent in der Maquila zurück. (7) Die Reform am Artikel 27 der Verfassung schnitt außerdem den Kleinbauern jede Aussicht auf eine Landreform ab, während sich gleichzeitig der sogenannte Neolatifundismo, also neuer Großgrundbesitz, breit macht. Nach dem Peso-Crash vom Dezember 1994 sind auch große Teile des davor noch relativ prosperierenden Mittelstands in die Verarmung gestürzt, so daß die Einkommenspyramide heute ein riesiges Fundament mit einer Nadelspitze darstellt. Die wirtschaftliche Erholung nach dem Krisenjahr 1995, in dem Mexiko die schärfste Rezession seit den 30er Jahren aushalten mußte, bringt bisher keine sozialen Verbesserungen oder Lohnerhöhungen.

„Kartell des Südostens“ und „Deserteure“

Die neoliberale Umstrukturierung ist nicht nur mit einer radikalen Privatisierungspolitik und der Vertiefung des Abgrundes zwischen den sozialen Klassen verbunden, sondern mit zwei weiteren bedeutsamen Aspekten: Einerseits dem fortschreitenden Verlust nationaler Souveränität durch Weltmarktöffnung, dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) und der wachsenden Abhängigkeit von ausländischem Kapital. Die Politik der mexikanischen Regierung erfüllt heute die Funktion der Wahrnehmung der Interessen transnationaler Konzerne und geostrategischer Interessen der USA, ganz anders als zu Zeiten des Gründers der modernen PRI, dem Präsidenten Lázaro Cárdenas von 1934–40. Andererseits koppeln sich die Dynamiken der regionalen Entwicklungen immer deutlicher voneinander ab. Während die an bestimmte Regionen gebundenen Maquila- und Tourismussektoren boomen, werden andere Regionen, insbesondere die indigen geprägten Gebirgszonen, zu ausgepowerten Wastelands, die dem völligen Niedergang preisgegeben sind. Raubbau und die Überflutung mit billigen Agrarprodukten durch NAFTA haben hier die kleinbäuerliche Wirtschaft ruiniert.
Das Auseinanderbrechen der PRI ist nichts weiter als die Widerspiegelung des Desintegrationsprozesses der Gesellschaft. Innerhalb der Partei selbst haben sich verschiedene Fraktionen herausgebildet, die teilweise sich widersprechenden Interessen folgen. Da ist einerseits das „Kartell der Gouverneure des Südostens“, in dem sich die mit dem alten, mittlerweile in Irland lebenden Präsidenten Carlos Salinas verbundenen Regionalfürsten der südöstlichen Bundesstaaten alliiert haben. Sie stehen für ein hartes Durchgreifen gegen die Oppositionen. Roberto Madrazo, der amtierende Gouverneur von Tabasco, hat mit einem von langer Hand geplanten Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen in seinem Staat im Oktober deutlich gemacht, daß sie jedes Milligramm Macht zu verteidigen bereit sind. Daneben, als deutlichster Konterpart, hat sich in der Grupo Galileo eine Strömung formiert, der zahlreiche Abgeordnete angehören, die für ein Ausloten von Verständigungsmöglichkeiten mit der PRD und der rechten PAN (Partei der Nationalen Aktion) stehen. Über den Fraktionen steht Präsident Zedillo mit seiner Gruppe, der versucht, die zentrifugalen Kräfte in seiner Partei zusammenzuhalten. Aber es mehren sich die „Deserteure“ unter den regionalen PRI-Machthabern, die samt ihrem Troß aus klientelistischen Beziehungen in eine der Oppositionsparteien eintreten.

Demokratisierung oder Neokorporativismus?

Als Indizien für einen Demokratisierungsprozeß werden oft die gewachsenen politischen Spielräume genannt. Die PRD hat den D.F. gewonnen, die klerikalkonservative PAN regiert einige Bundesstaaten im Norden. Seit dem 6. Juli ist die PRI nun auch mit einem mehrheitlichen Oppositionsblock im Abgeordnetenhaus konfrontiert, Wahlen sind nicht mehr nur Rituale zur Bestätigung des PRI-Kandidaten. Von der Studentenbewegung 1968 über die Entstehung der Stadtteilbewegungen nach dem Erdbeben 1985, die Proteste gegen den Wahlbetrug 1988 und die Formierung der PRD bis zum zapatistischen Aufstand 1994 und den Wahlen am 6. Juli 1997 reichen die Etappen des Verlustes der politischen Kontrolle der PRI. Dieser Prozeß wurde begleitet von der Entstehung unabhängiger und kritischer Medien zuerst im Printbereich, dann im Radio- und zuletzt auch im Fernsehbereich. Bei dieser Analyse wird aber ausgeblendet, daß viele der Oppositionen, die alten Funktionsmechanismen des PRI-Systems reproduzieren und die Gesellschaft zunehmend militärisch und nicht politisch kontrolliert wird.
So ist der Charakter der PRD durchaus zwiespältig. Ihre Wurzeln hat die Partei einerseits in einer PRI-Abspaltung, die unter Führung von Cuauhtémoc Cárdenas, Sohn des legendären Lázaro Cárdenas, die Mutterpartei verlassen hat und sich gegen ihre neoliberale Politik wandte. Andererseits sind die alte Kommunistische Partei, ehemalige Trotzkisten und Maoisten sowie zahlreiche soziale Bewegungen in der Partei aufgegangen. Mit dem Parteivorsitzenden Manuel López Obrador und Cárdenas, dem neuen Bürgermeister von Mexiko-Stadt, stehen zwei Figuren im Vordergrund, die eher für die Verbindung mit sozialen Bewegungen und Mobilisierung der Basis stehen, aber gleichzeitig die unverkennbaren Züge paternalistischer, populistischer Caudillos der alten PRI-Schule tragen. Nach dem Wahlsieg vom 6. Juli ist die PRD überdies zu einer realen Machtoption in einigen Bundesstaaten und für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 geworden. So wundert es nicht, daß es die PRI-Deserteure an die neuen Futtertröge drängt. Ein bekanntes Beispiel dafür ist etwa Dante Delgado, ehemaliger Gouverneur von Veracruz, der für seine korrupte Amtsführung berüchtigt war und nun auf dem PRD-Ticket die erneute Kandidatur anstrebt. Dabei handelt es sich keinesfalls um einen Einzelfall.
Die Basis der PRD ist vielerorts offen prozapatistisch, vor allem dort, wo sie von der Repression durch lokale PRI-Größen bedrängt wird, wie in Oaxaca und Guerrero. Aber dort, wo die PRD an der Macht ist, entwickeln sich häufig neokorporativistische Strukturen, die an alte Zeiten erinnern. Überdies kommen die programmatischen Aussagen der PRD oft über Wunschvorstellungen und Absichtserklärungen nicht hinaus. Cárdenas wurde beispielsweise kürzlich gefragt, ob er sich als „Antiimperialist“ bezeichnen würde, worauf er antwortete: „Selbstverständlich“. Im nächsten Satz sagte er aber, daß er das NAFTA-Abkommen befürworte und lediglich modfizieren wolle. Wie das zusammenpaßt, bleibt sein Geheimnis. Es ist zu befürchten, daß die PRD auf alte klientelistische Kontrollmechanismen zurückgreifen wird, ist sie erst an der Macht. Eine böse Vorahnung dafür geben Teile der mit der PRD verbundenen sozialen Bewegungen in den Stadtvierteln der Hauptstadt, die nach dem Erdbeben von 1985 als hoffnungsvolle Basisorganisationen begannen und mittlerweile oft von der Korruption zerfressen sind.
Die PAN als rechtsgerichtete Oppositionspartei fügt sich, was ihr wirtschaftliches Programm angeht reibungslos in den neoliberalen Kurs der PRI ein. Nachdem sie sich lange Zeit als saubere Alternative zu PRI und PRD profilierte, ist der Lack nach Korruptionsskandalen in den von ihr regierten Bundesstaaten ab. Die PAN als demokratische Alternative zur PRI zu benennen, ist als ob man behauptete, Opus Dei und die katholische Kirche seien eine basisdemokratische Bürgerinitiative. Die PAN repräsentiert den konservativen bis offen reaktionären Flügel eines Teils des Mittelstandes und der Oberschichten, die sich insbesondere durch ihren Rassismus gegen die indianische Bevölkerung auszeichnen.

Linke in der Defensive

Wichtige Impulse für den fortschreitenden Zerfall der PRI gingen von den Rebellen der EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) in Chiapas aus, doch die anfängliche Dynamik der Bewegung ist längst verloren gegangen. Dafür sind zwei Faktoren verantwortlich: Einerseits die Militarisierung der Aufstandsregion und die Führung eines „Krieges niedriger Intensität“, der die zapatistische Basis brechen und demoralisieren soll. Andererseits die mangelnde Bereitschaft der als „Zivilgesellschaft“ bezeichneten Sektoren auf nationaler Ebene, sich den Zapatismus zu eigen zu machen und eine gemeinsame Oppositionsbewegung aufzubauen. So bleibt die EZLN auch nach der Gründung der zivilen Frente (FZLN) eine regional beschränkte Kraft, die zudem in einen schwierig zu führenden Verteidigungskrieg verwickelt ist. Ihre Forderungen beschränken sich heute vornehmlich auf Demilitarisierung und die Erfüllung des „Abkommens über indianische Rechte und Kultur.“ Vom ursprünglichen gesamtmexikanischen Projekt ist aufgrund der ungünstigen Kräfteverhältnisse wenig übriggeblieben. Eine Perspektive könnte der Zapatismus als linke, basisdemokratische Opposition gegen eine PRD an der Macht gewinnen. Aber momentan geht es für die Zapatistas eher um das tägliche Überleben als um die Zukunft.
Mit der FAC-MLN ist auf der Linken eine dritte Kraft entstanden, die aber wie der Zapatismus lediglich regionale Bedeutung hat. Die mitgliederstärksten Organisationen, die sich in der FAC-MLN koordinieren, sind in den südlichen Bundesstaaten und der Hauptstadt angesiedelt. Sie stellen legitime soziale Forderungen, aber dabei bleibt es. Von ihnen geht ebenfalls kein mobilisierendes politisches Projekt aus, das in Mexiko momentan eine breitere Anziehungskraft entfalten könnte. Dasselbe gilt für die EPR (Revolutionäre Volksarmee), die in letzter Zeit versucht, mit Kommuniqués auf sich aufmerksam zu machen, während sie von bewaffneten Aktionen absieht. Der Ton ihrer Erklärung hat sich deutlich verändert. So fordert die EPR die Einheit der Linken, hat die Wahl Cárdenas im D.F. begrüßt und schmückt ihre Kommuniqués jetzt auch mit poetischen Nahuatl-Versen, obwohl sie letztes Jahr in einem Seitenhieb auf die ihrer Ansicht nach zu zivilgesellschaftlich orientierte EZLN noch erklärt hatte, daß man mit „Gedichten keine Kriege gewinnen kann“. Die EPR-Basis ist von der Repressionswelle am härtesten getroffen worden, ihre militärische Struktur konnte die Bundesarmee aber nicht zerschlagen. So bleibt sie momentan eine Guerilla im Wartestand.

Todesstoß im Jahr 2000?

Mexiko befindet sich in einer schwierigen Phase des Umbruchs, in der es an Aufbruchstimmung mangelt. 15 Jahre Neoliberalismus haben eine soziale Verwüstung hinterlassen, in der die Menschen vor allem eines im Sinn haben: Wie kann ich bis morgen überleben? In dieser Situation politischen Protest zu formieren, ist äußerst schwierig, ganz zu Schweigen von einer gesellschaftlichen Alternative. Sicher, das PRI-System zerfällt unter dem Druck der gesellschaftlichen Widersprüche, Freiräume entstehen, aber auch Menschenrechtsverletzungen und Militarisierung nehmen zu. Die exorbitanten Ausgaben für die Armee machen deutlich, wie Teile der Herrschenden mit einer zu radikalen Opposition umzugehen gedenken. Noch windet sich der Mutter-Saurier PRI in Agonie, die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 könnten zum endgültigen Todesstoß werden. Unter den gegebenen Bedingungen werden den „Menschenfresser“ dann möglicherweise eine ganze Schar von Mutanten im Taschenformat und gar nicht netten Baby-Saurier beerben, die ihrerseits einen brutalen Kampf um die Macht ausfechten. Hoffnung ist nie fehl am Platz, aber zu denken, daß das Ende der PRI-Herrschaft den Beginn mexikanischer Glückseligkeit markieren könnte, kann sich als eine große Fata Morgana erweisen.

Anmerkungen:
(1) Octavio Paz: Der menschenfreundliche Menschenfresser. Geschichte und Politik 1971-1980, Frankfurt a.M. 1981.
(2) Proceso, Nr. 1091, 28.9.97.
(3) Excelsior, 12.11.97.
(4) Vgl.: „Drogenhandel und Filz in Tabasco. Mexiko oder ein Land wird geplündert“ von Jaime Aviles, Ex-Chefredakteur La Jornada, in Le Monde Diplomatique, August 1996.
(5) Vgl.: Carlos Marichal: The rapid rise of the neobanqueros. Mexico’s new financial elite. In: NACLA, Vol. XXX, No. 6, May/June 1997.
(6) Latin America in the age of the billionaires. In: NACLA, Vol. XXX, No. 6, May/June 1997.
(7) La Jornada Laboral, 25.9.97.

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