Nachruf | Nummer 227 - Mai 1993

Das Leben ist zu kurz zum Weinen

Nachruf auf den mexikanischen Filmkomiker Mario Moreno

Wenn in Mexiko-Stadt 15.000 Menschen an nur einem Tag an einem Sarg vorbeiziehen, und sie dies freiwillig tun, dann trauern sie mit Scherheit nicht um einen Präsidenten, sondern um einen Volkshelden. Der Filmkomiker Mario Moreno “Cantinflas” war so einer, und nicht nur in Mexiko, sondern in ganz Lateinamerika. Er starb am 20.April mit 81 Jahren an Lungenkrebs. Seine Figur des “Cantinflas” wird in Lateinamerika mit dem “Tramp” des Charlie Chaplin verglichen. Aber, so schreibt es ein Nachruf:”Chaplin war was anderes. Chaplin war die Geste, und zwar die traurige. Cantinflas war das Wort, und zwar das übersprudelnde.”

Rafael Pérez Herández (aus "Hoy"/Ecuador) Übersetzung: Karin Gabbert und Bernd Pickert

Mit dem Tod von Mario Moreno “Cantinflas” endet eine wichtige Epoche der mexikanischen Volkskultur. Die Figur des “Cantinflas” wird als letzter Mythos des klassischen mexikanischen Kinos in die Geschichte eingehen. Er hinterläßt eine Lücke, die schwer gefüllt werden kann. Der kleine Mann mit den halbunterhängenden Hosen und seiner wirren Sprache hat sich tief ins Herz der MexikanerInnen und IberoamerikanerInnen gespielt. Er verkörperte die Ideale und geheimen Wünsche der Masse der Armen. Besonders in seinen frühen Schwarz-Weiß-Filmen war Cantinflas Ausdruck des Volkes. Von seinem ersten Filmerfolg “Aguila o Sol” bis zu einem ersten Farbfilm “El Bolero de Raquel” war sein Thema die soziale Ungleichheit , seine Rolle die des ungebildeten und respektlosen armen Schluckers, der sich über die Reichen lustig macht. Seine verwickelte Sprache zielte gegen die PolitikerInnen, die viel reden und nichts sagen. Catinflas führte ein neues Thema in die lateinamerikanische Kultur ein: die Charakteristika einer sich industrialisierenden Gesellschaft. In einer Zeit, in der das mexikanische Kino vor allem das ländliche Gesicht einer bäuerlich bestimmten Gesellschaft zeigte, stieg Cantinflas zur ersten populären urbanen Figur auf. Er war der Pionier der MigrantInnen vom Land, die in der Stadt Lohn und Brot zu finden hofften. Die Entwicklung der mexikanischen Gesellschaft drückte Mario Moreno in Rollen von einfachen Arbeitern aus: Schuhputzer, Fahrstuhlfahrer , Straßenkehrer, die im Asphaltdschungel ums tägliche Überleben kämpfen. Mit Hilfe dieser Figuren zeigten seine Filme die menschliche Seite des Industrialisierungsprozesses in Mexiko von 1930 bis 1970. Vielleicht unbewußt machte Cantinflas aus seinen Filmen kritische Dokumente über die tiefen Widersprüche unserer abhängigen Länder. Er nahm die Themen wie Armut, Korruption, Despotismus und Ungleichheit auf. Mit seiner Sprache, konfus und versponnen, drückte er geschickt die Gedanken des Volkes aus, aus dem er selbst stammte. Genau deswegen wurde er zum Symbol. Für das Volk verschmolzen Mario Moreno und Cantinflas zu einer Person. Der Mensch Mario Moreno geht, aber “Cantinflas” bleibt. Nicht nur als Idol, sondern als Mythos. In einer Zeit, in der KünstlerInnen als Produkte geschickter Marketing-Strategien entstehen, zeigt Cantinflas seine ganze Dimension und erinnert uns daran, daß das Leben zu kurz ist, um zu weinen. Deshalb hat er immer versucht, uns zum Lachen zu bringen.


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