Das Nicht-Erzählbare erzählen
Nachruf auf den kolumbianischen Journalisten und Schriftsteller Gabriel García Márquez
Als Lateinamerika und die Welt sich am Montag, den 21. April im Palacio de Bellas Artes in Mexiko-Stadt von Gabriel García Márquez verabschiedeten, waren mehrere tausend Menschen anwesend – die Mehrheit von ihnen keine Staatsoberhäupter oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, sondern passionierte Leser_innen. Der weltweit meist gelesene lateinamerikanische Schriftsteller war am Donnerstag, den 17. April im Alter von 87 Jahren in seinem Haus in Mexiko-Stadt verstorben.
Der Hauptvertreter des lateinamerikanischen Booms der Literatur der sechziger und siebziger Jahre hat mit Cien años de soledad (Hundert Jahre Einsamkeit) nicht nur ein neues literarisches Genre begründet, den Magischen Realismus, sondern auch wie kein anderer das Interesse an der Literatur Lateinamerikas geweckt. Sein Werk zeichnet sich vor allem durch Wahrhaftigkeit aus, durch die verschwimmenden Grenzen zwischen Fiktion und nicht-Fiktion und durch die Fähigkeit, den Wunsch verschwinden zu lassen, diese Grenzen abzustecken und zu erkennen.
García Márquez war ein wichtiger Autor für Lateinamerika, sowohl im Sinne der Politisierung und Bewusstseinsbildung der Gesellschaft, als auch im Konservieren von lokaler Tradition und Identität. Wichtig war er auch außerhalb Lateinamerikas. Sein mexikanischer Schriftstellerkollege José Emilio Pacheco beschrieb im Jahr 2007 zum vierzigjährigen Jubiläum von Cien años de soledad die Ausmaße, die der Einfluss jenes Romans im Laufe der Jahrzehnte annahm: So markierte beispielsweise seine Veröffentlichung in Beirut einen nie zuvor erlebten Bruch, bis heute ist der Magische Realismus ein beliebtes Genre in der arabischsprachigen Literatur. In Tibet, so Pacheco, ist Cien años de soledad der am meisten studierte Roman aller Zeiten. Laut einer Einschätzung des García-Márquez-Biographen, dem Engländer Gerald Martin, wurde bereits in den achtziger Jahren, als er seine Recherchen für die ebenfalls 2007 erschienene Biographie begann, etwa alle 15 Minuten ein wissenschaftlicher Beitrag zu Márquez’ Werk veröffentlicht.
Wer allerdings nur sein mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnetes literarisches Werk würdigt, lässt außer Acht, dass García Márquez, wie er selbst oftmals hervorhob, in erster Linie Journalist war, der sich der Sprachrohr-Funktion des Journalismus verpflichtet fühlte: „Meine erste und einzige Berufung ist der Journalismus. Ich wurde weder aus Zufall noch aus Notwendigkeit Journalist, sondern weil ich Journalist sein wollte.“ Er übernahm 1998 gemeinsam mit seiner Frau Mercedes Barcha die Zeitschrift Cambio und war bereits im Jahr 1974 Mitgründer von Alternativa, einer Publikation die von verschiedenen Intellektuellen veröffentlicht wurde. Diese setzten sich für politischen Widerstand und eine kritische Union der zersplitterten kolumbianischen Linken ein.
Für Alternativa schrieb García Márquez aus Chile, Angola, Vietnam und mehreren Ländern der ehemaligen Sowjetunion. 1994 gründete er in Cartagena de Indias, Kolumbien, die Stiftung für einen neuen iberoamerikanischen Journalismus (FNPI). Als Verfechter der Pressefreiheit und des Schutzes von Journalist_innen auf der ganzen Welt, war ihm deren ethische und praktische Ausbildung wichtig und er kämpfte gegen die Ethik-Krise im Journalismus an. Dieser war seiner Meinung nach das „beste Gewerbe der Welt“, habe jedoch durch seine Akademisierung und Modernisierung, die statt Formation nur noch auf Information Wert lege, an Kreativität und Bezug zur Lebenswirklichkeit verloren. Der ethischen Unerschrockenheit vieler Journalist_innen versuchte er in den Workshops der FNPI die Ästhetik innerhalb der Ethik entgegenzubringen. Laut García Márquez sollte jede Form von Journalismus investigativ sein, das war ein Hauptaspekt seiner journalistischen Ethik. Er verteidigte das Notizheft gegenüber dem Diktiergerät, davon überzeugt, dass die Essenz der im Text erzählten Realität nur mit ersterem einzufangen sei und die Leser_innen nur so bewegt würden. Zudem glaubte er an die sich täglich bietende Möglichkeit aller Journalist_innen, gesellschaftliche Zustände nicht nur aufzuzeigen, sondern in deren Entwicklung aktiv einzugreifen. Er war der Überzeugung, dass jede Nachricht das Potenzial habe, das Leben eines oder mehrerer Menschen zu verändern. Journalismus, so García Márquez, habe die Verantwortung das nicht-Erzählbare zu erzählen. Der Verfall genau dieser Ethik ist, was er an der lateinamerikanischen Presse am meisten kritisierte. Für ihn stellte das Fehlen von Engagement und Ernsthaftigkeit im Journalismus eine größere Gefahr für Lateinamerika dar als Imperialismus und Drogenhandel.
Seinen politischen Überzeugungen verlieh er vor allem durch den Journalismus Ausdruck, weniger durch seine Literatur. Beide dienten ihm jedoch als Ausdrucksformen eines Ringens mit der Realität, die einen komplementären Widerspruch darstellten: In seinen Romanen ließ er die Figuren stets scheitern, während sein journalistischer Nachlass ein hoffnungsvoller Aufruf zu sozialem Widerstand ist. Als linker Intellektueller war er der Realität Lateinamerikas verpflichtet. Er war Mitgründer des ersten kolumbianischen Solidaritätskomitees mit politischen Gefangenen und führte ab 1973, nach dem Militärputsch in Chile, einen „literarischen Streik“ gegen den Faschismus, der mehrere Monate anhalten sollte. In Lateinamerika müsse jeder einzelne Mensch politisch sein, sonst würde sich nie etwas verändern. „Gabo“ war ein treuer Freund Fidel Castros, und das, obwohl sich viele Intellektuelle von Castro abwandten, nachdem dieser den kubanischen Dichter Heberto Padilla für seine Regimekritik inhaftiert hatte. García Márquez selbst kritisierte sehr wohl die autoritäre Richtung, welche die Kubanische Revolution eingeschlagen hatte, wandte sich jedoch als Freund nie von Castro ab. In Mexiko, seiner zweiten Heimat, in der er mehr als vierzig Jahre lebte, wurde er häufig dafür kritisiert, dass er, entgegen seiner eigentlichen politischen Haltung, nie Kritik an der Regierungspartei PRI ausübte. Er bewunderte die Organisation Mexikos, die „Funktionstüchtigkeit“ des Landes im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern, trotz Korruption und Gewalt. Mit dem kolumbianischen System war er hingegen nie einverstanden und hat aus diesem Grund nie einen öffentlichen Posten akzeptiert.
In den letzten Jahren seines Lebens erlitt er dasselbe Schicksal wie seine Romanfiguren aus Cien años de soledad: den schleichenden Verlust des Gedächtnisses. Für einen Schriftsteller, der vor allem von der Erinnerung lebte – seiner eigenen, der seiner Großeltern, der Lateinamerikas – und der es sich zu einer Lebensaufgabe gemacht hatte, die mündlichen Überlieferungen Kolumbiens in Schrift zu verewigen, war dies der Anfang vom Ende. Im Jahr 2007 entschloss er sich dazu, nicht mehr zu schreiben. Leben sei nicht das, was man gelebt hat, sondern woran man sich erinnere. Ohne Erinnerung gebe es kein Leben mehr. Ebenso war er jedoch davon überzeugt, dass das Interessante an literarischen Figuren nicht ihr Leben, sondern ihr Tod ist. So beginnen viele Werke mit dem (sich ankündigenden) Tod einer Person. Während der Journalismus für García Márquez Auseinandersetzung mit den Lebenden war, galt ihm die Literatur als Erholung von diesen Auseinandersetzungen. Sein Tod hat ihn selbst zu einer dieser literarischen Figuren erhoben, die im Gedächtnis von Menschen aus aller Welt noch lange Zeit nachwirken wird.
// Elena von Ohlen