Haiti | Nummer 548 - Februar 2020 | Politik

DAS ÖKONOMISCHE ERDBEBEN KAM ZUERST

Interview mit Wirtschaftsprofessor Alrich Nicolas von der Universität in Port-au-Prince

Vor zehn Jahren war Haiti nach dem verheerenden Erdbeben am 12. Januar in den Schlagzeilen der Weltöffentlichkeit. Dem Erdbeben fielen rund 300.000 Menschen zum Opfer, zwei Millionen wurden obdachlos, der Wiederaufbau kommt nur schleppend voran. Die LN sprachen mit Alrich Nicolas am Rande einer Haiti-Tagung von „Bündnis Entwicklung Hilft“ Anfang Januar in Berlin.

Interview: Martin Ling

Alrich Nicolas
Alrich Nicolas ist Professor für Ökonomie an der Universität Haiti in Port-au-Prince. Während der Diktatur von Jean-Claude Duvalier emigrierte er nach Deutschland und promovierte am Lateinamerika Institut in Berlin in Volkswirtschaft. Von 1996 bis 2005 war er Haitis Botschafter in Deutschland.
(Foto: Ambassade de France en Haïti / Ambafranceht, CC BY-NC-SA 2.0)


In den gängigen deutschen Medien wird fast nur bei runden Jahrestagen des Erdbebens ein Schlaglicht auf Haiti geworfen. Wie sehr sind die Nachwirkungen noch zu spüren?
Deutlich. Viele der zerstörten Gebäude konnten bisher nicht wieder aufgebaut werden. Es gibt ganze Stadtteile in der Hauptstadt Port-au-Prince, in denen der Wiederaufbau kaum vorangekommen ist. Das gilt auch für die Städte drum herum. Das Epizentrum lag ja nur 25 Kilometer von Port-au-Prince entfernt. Auch dort sind die Folgen noch deutlich sichtbar und das wird vermutlich auch noch einige Jahre so bleiben.

Warum läuft der Wiederaufbau so schleppend?
Beim Wiederaufbau gab es nicht nur die Herausforderung, die unmittelbaren Folgen des Erdbebens zu beseitigen. Schon vorher hatte Haiti ein ökonomisches Erdbeben erlebt, das den Staat stark geschwächt hatte und damit auch die Strukturen, die beim Wiederaufbau dringend benötigt worden wären. Denn die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) auferlegten Strukturanpassungsprogramme von 1985, noch gegen Ende der Duvalier-Diktatur (1957-1986), und 1996 sahen auch eine Liberalisierung und Staatsverschlankung vor.

Etwa 20 bis 30 Prozent der Beamten wurden durch die Liberalisierungsprogramme weggekürzt. Der Staat wurde privatisiert, ein schwacher Staat weiter geschwächt, sodass er weiter an Legitimität bei der Bevölkerung verloren hat.

Auch die aktuellen Proteste gegen die Regierung zielen darauf, dass Reformen gefordert werden, die den Menschen wieder öffentliche Basisdienstleistungen bei Bildung, Gesundheit, Wasser verschaffen. Das wurde schon vor dem Erdbeben gefordert, das wurde danach gefordert und auch bei den seit Oktober anhaltenden Protesten gegen die Regierung von Präsident Jovenel Moïse. Die Lage hat sich unterm Strich seit 2010 verschlimmert.

Wie wirkte sich das ökonomische Erdbeben jenseits der Schwächung des Staates aus?
Früher war Haiti ein Agrarland. Nahrungsmittelimporte waren nicht nötig, weil im Land genug produziert wurde. Es gab Nahrungsmittelautonomie, die durch den Code Commercial von 1987 ausgehöhlt wurde. Der sah sinkende Importzölle auf wichtige Produkte des täglichen Bedarfs vor.

Die Senkung der Importsteuern betraf vor allem Waren, die mit der einheimischen Produktion konkurrierten, insbesondere Reis. Zum Zeitpunkt des Erdbebens im Januar 2010 war diese Nahrungsmittelautonomie bereits passé. Haiti benötigt derzeit 30 Prozent seiner Devisen für Nahrungsmittelimporte.

Die Produktivität im haitianischen Agrarsektor ist weiter gesunken, weil in den vergangenen Jahrzehnten nach der Liberalisierung kaum noch investiert worden ist, auch weil viele Kleinbauern keinen Zugang zu Krediten haben.

Und zudem macht die fehlende Wettbewerb­­sfähigkeit gegenüber der Importkon­kurrenz manche Investitionen unrentabel. Der Niedergang des Agrarsektors sorgte auch für eine verstärkte Landflucht.

Im Ballungsraum von Port-au-Prince leben inzwischen knapp drei der elf Millionen Haitianer und Haitianerinnen. Auf dem Land beschäftigungslos Gewordene gingen in die Städte, um sich dort mit informellen Tätigkeiten durchzuschlagen. Viele verkaufen auf der Straße Billigwaren aus dem Ausland. Auch das hat die einheimische Produktion weiter geschwächt, zum Beispiel den Textilsektor oder die Schuhfertigung.

Seit 2011 wird Haiti von neoliberal ausgerichteten Präsidenten regiert, zuerst Michel Martelly und seit Februar 2017 von Martellys Gefolgsmann Jovenel Moïse. Seit Sommer 2018 gibt es massive Proteste mit vielen Toten gegen die Korruption der Regierung, gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise als Auflage des Internationalen Währungsfonds und die katastrophale Versorgungslage. Wie kann sich Moïse überhaupt an der Regierung halten?
Eine schwierige Frage. Die vergangenen drei Monate gab es täglich Demonstrationen, das Land war quasi lahmgelegt. Derzeit ist die Demonstrationswelle zwar abgeflaut, weil die Menschen eine Pause brauchen, aber die Forderungen sind noch da.

Bisher steht die Antwort der Regierung aus. Die Oppositionsbewegung ist auch heterogen zusammengesetzt.

Auf der einen Seite gibt es traditionelle Politiker, die sich erhoffen, durch die Bewegung an die Regierung zu kommen. Auf der anderen Seite gibt es eine Massenbewegung, die das ganze politische System kritisiert, gegen die Korruption kämpft, für eine grundlegende Staatsreform eintritt, die Schaffung von Arbeitsplätzen fordert.

Diese Bewegung fordert auch ein neues Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Sie wird weitermachen, selbst dann, wenn es einen Regierungswechsel geben sollte, der unter Umständen eine oberflächliche Lösung bedeuten könnte.

Ende Januar läuft das Mandat von einem Drittel der Kongressmitglieder aus, damit gäbe es kein funktionierendes Parlament mehr und Moïse könnte theoretisch per Dekret regieren. Was bedeutet das?
Das heißt, dass die Regierung Parlamentswahlen organisieren muss. In der jüngeren Geschichte Haitis hat sich gezeigt, dass Wahljahre die politische und ökonomische Krise verschärfen. Wenn Moïse per Dekret durchzuregieren versucht, wird das die Proteste erst recht weiter anfachen. 2020 wird wieder ein sehr schwieriges Jahr für die haitianische Bevölkerung.

Der Oberste Rechnungshof Haitis hat im November 2018 festgestellt, dass Dutzende ehemalige Minister und hohe Beamte Gelder für soziale Zwecke veruntreut hätten: 3,8 Milliarden US-Dollar aus einem Sozialfonds von Petrocaribe, das Venezuelas damaliger Präsident Hugo Chávez zur Unterstützung karibischer Länder auf den Weg gebracht hatte. Gab es daraus Konsequenzen?
Die Berichte haben zu einem Verfahren geführt. Mehr ist noch nicht passiert. Die Hauptbeschuldigten sind überwiegend ehemalige Minister der Regierung von Michel Martelly, die sind einflussreich und mit der jetzigen Regierung eng verbunden.

Die haitianische Justiz ist schwach, von der Regierung abhängig und in Teilen auch korrupt. Und diese Justiz soll nun die Veruntreuung der Petrocaribe-Sozialfonds aufklären. Klar ist aber auch, dass die Zivilgesellschaft und die Demonstranten nicht locker lassen und das weiter einfordern werden. Einfach Gras über die Sache wachsen lassen, wird der Justiz nicht helfen.

„Unser Staat ist korrupt, kriminell und kaputt.“ Das ist ein Zitat von Deligny Darius, Leiter der SOS-Kinderdörfer in Haiti. Würden Sie dem zustimmen?
Es trifft im Großen und Ganzen zu. Es ist offensichtlich, dass es eine starke Korruption in Haiti gibt.

Es gibt zwar staatliche Institutionen, die die Aufgabe haben, die Korruption zu bekämpfen. Aber es geht nicht wirklich voran. Das liegt vor allem am Justizsystem, das selber korrumpiert ist. Auch die Regierung ist nicht wirklich daran interessiert, Anti-Korruptionsmaßnahmen zu treffen.

Aber solange die Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft weiter Druck macht, wird es weder für die amtierende noch für die kommenden Regierungen einfach sein, so weiter zu machen und sich über die Wünsche der Bevölkerung hinwegzusetzen.

Die Haitianer wissen, dass es mit den Finanzmitteln, die im Korruptionssumpf versickert sind, möglich gewesen wäre, den Staat zu modernisieren. Deswegen werden sie weiter fordern, dass der Korruption Einhalt geboten wird. Mit Nachdruck, wie die vergangenen drei Monate gezeigt haben.

Zivilgesellschaftliche Akteure haben die Ergebnisse der Petrocaribe-Sozialfonds in den Nachbarländern mit denen in Haiti verglichen und sie haben festgestellt, dass es dort weit besser lief, zum Beispiel in der benachbarten Dominikanischen Republik. Die haitianische Zivilgesellschaft wird ihren Kampf gegen die Korruption sicherlich nicht aufgeben.

Wie kann Haiti aus der Dauerkrise herauskommen? An welchen zentralen Stellschrauben muss gedreht werden? Bringt es eine Streichung der Auslandsschulden?
Die Frage der Auslandsverschuldung ist nicht die wichtigste. Die zentrale Herausforderung ist, die politischen Strukturen zu verändern. Die Zivilgesellschaft muss stärker beteiligt und mit mehr Einflussmöglichkeiten ausgestattet werden, mit mehr Macht.

Es muss ein gesellschaftlicher Pakt zur Modernisierung geschlossen werden, und zwar zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Wenn dieser politische Prozess gelänge, würde man auch bei den ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen weiterkommen.

Das Problem ist, dass die haitianische Verfassung von 1987 einen solchen politischen Prozess schwierig macht. Die vielen Wahlen sorgen für politischen Stress, harte Auseinandersetzungen beim Ringen um den Zugriff auf die Fleischtöpfe. Eine längerfristige Entwicklungsstrategie bleibt so auf der Strecke. Das Land kommt nicht zur Ruhe. Deswegen wächst der Druck, die Verfassung zu verändern.

Welche Verantwortung und welche Möglichkeiten hat die internationale Gemeinschaft?
Sie hat auf alle Fälle viel Einfluss. Dass die Regierung Moïse trotz der Repression der Proteste, die über 70 Menschenleben gefordert hat, immer noch im Amt ist, liegt daran, dass sie von den Geberstaaten gestützt wird. Denn 80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht nur einen Regierungswechsel, sondern eine grundlegende Reform von Staat und Gesellschaft.

Die sogenannte Core Group, in der unter anderem die Vereinten Nationen, die USA, Kanada, Frankreich und auch Deutschland vertreten sind, zeigt keinerlei Anstalten, Moïse zur Raison zu rufen. Sie unterstützt die Forderungen der Zivilgesellschaft nicht. Aber die Forderungen sind nicht revolutionär, sondern klassisch: Zugang zu öffentlichen Gütern, freie Wahlen, Sicherheit. Die Haitianer fragen sich, warum das, was in fast aller Welt gilt, nicht auch für sie gilt.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren