Mexiko | Nummer 579 - September 2022 | Straflosigkeit

DAS ORGANISIERTE VERBRECHEN DER STRAFLOSIGKEIT

Im mexikanischen Bundesstaat Chiapas erreicht die Gewalt einen neuen Höchststand

In Chiapas sind gewaltsame Ausschreitungen krimineller Gruppen um territoriale Kontrolle massiv angestiegen. Menschen werden zwangsvertrieben, verschwunden gelassen und ermordet, wobei die meisten Verbrechen aufgrund der praktizierten Straflosigkeit des Justizsystems ungeahndet bleiben. Die Arbeit von Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen wird durch den mexikanischen Staat kriminalisiert, der mit der Militarisierung des Landes die Gewalt weiter verschärft und dadurch ebenso Migrant*innen und Frauen gefährdet.

Von Finja Henke

Fotos: Finja Henke

An einem Montagmorgen zieht Simón Pedro Pérez López los, um mit einem seiner vier Kinder einkaufen zu gehen. In der Nähe des Marktes in der Gemeinde Simojovel hält ein Motorradfahrer an und zielt direkt auf seinen Kopf. Ein einziger präziser Schuss beendet das Leben des 35-jährigen Tzotzil-Mannes, Menschenrechtsaktivist und Mitglied der zivilgesellschaftlichen Organisation Las Abejas de Acteal. Er fällt vor den Augen seines Sohnes mit dem Gesicht nach unten zu Boden. Es ist 10 Uhr morgens am 5. Juli 2021, und der Markt ist voller Menschen, die sich um ihn versammeln, während sein Blut in Strömen fließt.

Neun Tage zuvor hatte Simón Pedro die Bewohner*innen von Pantelhó begleitet, um eine förmliche Beschwerde bei der Landesregierung einzureichen. Sie forderten die Behörden auf, angesichts des Vormarschs bewaffneter Gruppen zu intervenieren. Die Ermordung des Menschenrechtsverteidigers ist nur ein Beispiel für Zwangsvertreibung, Erpressung und den Einsatz von Gewalt im Kampf um die von Drogenkartellen begehrten Gebiete. Heute, über ein Jahr später, ist der Mörder noch immer nicht verurteilt worden. Die extreme Gewaltsituation im Landkreis Pantelhó hält derweil weiter an. Mehr als dreitausend indigene Personen wurden aus ihren Gemeinden zwangsvertrieben. Zeitgleich kam es dort zur Entstehung der selbsternannten bewaffneten Selbstverteidigungsgruppe El Machete, die sich als Reaktion auf die „hohe Präsenz des organisierten Verbrechens und die Abwesenheit der Landes- und Bundesregierung “ versteht. El Machete verlangt Gerechtigkeit im Fall der Ermordung von über zweihundert Personen und ließ aus diesem Grund den gewählten Landrat von Pantelhó im letzten Jahr sein Amt nicht antreten, da ihn die Gruppe mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung bringt. Gleichzeitig wird von der Nationalen Suchkommission (Comisión nacional de búsqueda) nach 21 Personen gesucht, die im Juli 2021 − zur Zeit der Machtübernahme von El Machete − verschwunden gelassen wurden.

Die Gewalt in Chiapas hängt eng mit der strukturellen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Marginalisierung der indigenen Bevölkerung zusammen. Chiapas gehört zu den Bundesstaaten mit dem höchsten Anteil indigener Bevölkerung und gleichzeitig der höchsten Armutsrate.

Im Juli dieses Jahres prangerte das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas (Frayba) die gewaltsame Vertreibung von sechs zapatistischen Familien, die Verbrennung ihrer Häuser und ihres Besitzes in der autonomen Gemeinde Comandanta Ramona an. Dies geschah durch die Mitglieder der Landgenossenschaft von Muculum Bachajón zusammen mit der städtischen Polizei und dem Zivilschutz, so Frayba. Durch diesen Angriff werde „die Autonomie und Selbstbestimmung der Bevölkerung ernsthaft gefährdet”, und er stelle „eine schwere Verletzung des Rechts auf Sicherheit, Leben und Unversehrtheit” dar. Ein weiterer Grund für die Zunahme der Gewalt beruht auf Gebietsstreitigkeiten zwischen verschiedenen Drogenkartellen. Dies äußerte sich im vergangenen Jahr durch eine hohe Gewaltrate bei den Landtags- und Kommunalwahlen. Chiapas hat landesweit die höchste Rate von Morden an Politiker*innen. Die Einrichtung von 232 Wahllokalen wurde verhindert. Im Juni 2022 wurde der Landrat von Teopisca, Rubén de Jesús Valdez Díaz, ermordet. Damit steigt die Zahl der ermordeten Landräte und Bürgermeister*innen während der Legislaturperiode von Andrés Manuel López Obrador (AMLO) auf 17 Personen.

Seit Juli 2021 ist auch das Grenzgebiet von Chiapas zu Guatemala von der Gewalttätigkeit krimineller Gruppen um die territoriale Kontrolle geprägt. Ein Ereignis im Juni dieses Jahres, das sowohl national als auch international für viel Aufmerksamkeit sorgte, waren Schießereien, Straßenblockaden und brennende Autos durch bewaffnete Gruppen in San Cristóbal de Las Casas, die für mehrere Stunden die Kontrolle über verschiedene Straßen der Stadt einnahmen. Als Polizei und Militär endlich in Erscheinung traten, hatten sich die bewaffneten Gruppen, bereits zurückgezogen. Eine Farce angesichts der Tatsache, dass die mexikanische Regierung besonders in Chiapas eine massive Militarisierung und den Einsatz der Nationalgarde vorangetrieben hat. Dies geschah im Namen der Bekämpfung des organisierten Verbrechens und der Pflichten gegenüber der mit den USA vereinbarten Migrationspolitik an der Grenze zu Guatemala, die darauf abzielt, Migrant*innen in ihrem Recht auf Ein- und Durchreise Richtung USA einzuschränken.

Mehr als dreitausend indigene Personen wurden aus ihren Gemeinden zwangsvertrieben


Verschiedene feministische Gruppen und Frauenrechtsorganisationen berichten über die schwerwiegenden Auswirkungen der Militarisierung auf die massive sexualisierte Gewalt mit 11 Feminiziden pro Tag in Mexiko. Laut der Nationalen Erhebung zur Dynamik der Haushaltsbeziehungen (ENDIREH), die zuletzt 2016 vom Nationalen Institut für Statistik und Geografie (INEGI) durchgeführt wurde, wurden allein im Jahr vor der Erhebung rund 97.000 Frauen über 15 Jahre von Soldaten oder Marinesoldaten vergewaltigt. Die Dunkelziffer soll weitaus höher liegen.

Eine weitere gefährdete Gruppe sind Journalist*innen, die in Mexiko durch die Regierung selbst eine massive Kriminalisierung ihrer Arbeit und Bedrohungen erfahren. So wurden von Januar bis Ende August 2022 in Mexiko 15 Journalist*innen ermordet. Die journalistische Arbeit ist in Mexiko durch die verbreitete Korruption und das organisierte Verbrechen bedroht. Die Todesfälle werden gewöhnlich Drogenhändler*innen angelastet, die nicht wollen, dass ihre Geschäfte über die Medien öffentlich werden. Fachleute, die sich der Dokumentation dieser Verbrechen widmen, wie die Organisation Artículo 19, haben jedoch bei zahlreichen Gelegenheiten darauf hingewiesen, dass die meisten Taten von Beamt*innen ausgehen: etwa von Polizeichef*innen oder Politiker*innen, um ihre Verwicklung in Korruption oder ihr Zusammenspiel mit dem Drogenhandel zu schützen, wie die Zeitung El País berichtet. Im Mai mussten zwei Journalist*innen, die in der Stadt Tapachula, im Süden von Chiapas, arbeiteten, aufgrund von Morddrohungen und dem Ausbleiben von Schutzmaßnahmen der Regierung das Land verlassen.

Brutal ermordet Kollektive Trauer um den Menschenrechtsaktivisten Simón Pedro


Zur Kriminalisierung von Seiten des Staates kommt das erschreckend hohe Maß an Straflosigkeit hinzu. Diese beträgt bei der Aufklärung von Morden an Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalistinnen in Mexiko 99 Prozent. Zudem werden im Falle einer Ermittlung häufig unschuldige Personen verhaftet und mittels Folter Geständnisse erpresst.

Angesichts dieses Panoramas wurden 2022 in Chiapas bereits in mindestens 10 Landkreisen von Kirchen und der Zivilgesellschaft Demonstrationen und Kundgebungen für den Frieden organisiert. Im Juli nahmen mindestens 10.000 Personen daran teil. Vergangenes Jahr besuchte eine Delegation des EU-Parlaments Chiapas und prangerte die Menschenrechtsverletzungen an. Die vom EU-Parlament ausgedrückte Besorgnis über die Kriminalisierung der Arbeit von Journalist*innen durch die Regierung und die hohe Rate an Mordopfern nahm der mexikanische Präsident AMLO zum Anlass, um einerseits die Gewalt in Mexiko zu verharmlosen und sich der Verantwortung zu entziehen, und andererseits dem EU-Parlament koloniales Verhalten vorzuwerfen.

Inzwischen stattete die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte Chiapas einen Besuch ab, um die Einhaltung der gewährten Schutzmaßnahmen für die 22 Gemeinden in Aldama, Chalchihuitán und Chenalhó zu überprüfen. Für Anfang September hat auch die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die Menschenrechte von Binnenvertriebenen einen Besuch angekündigt.

Die Intervention internationaler Menschenrechtsorganisationen könnte den Kampf vieler indigener Gruppen für Gerechtigkeit stärken und auch Las Abejas de Acteal wieder Hoffnung schöpfen lassen, dass ihnen im Fall des Massakers in ihrer Gemeinde 1997 sowie der Ermordung von Simón Pedro 2021 Gerechtigkeit widerfährt.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren