Das Recht zu toben
Der brasilianische Spielfilm „Um copo de colera“
Was zum Teufel verbindet diesen Mann und diese Frau ? Fast gleichzeitig sind sie auf der Fazenda angekommen – sie im schicken, wendigen Kleinwagen, er in einem robusten Pick-Up mit Blecheimern auf der Ladefläche. Und jetzt sitzen sie schweigend auf der Terrasse, sie am einen, er am entgegengesetzten Ende eines langen Tisches. Er schlürft so unappetitlich wie möglich eine Tomate, während ihre Augen in angespannter Erwartung an seinen Lippen hängen. „Je indifferenter ich bin, desto ungeduldiger wird sie“, hört man seine Stimme triumphierend aus dem Off. Szenen einer Ehe nach Jahrzehnten grimmiger Langeweile? Doch dann passiert etwas Unerwartetes: In stummem Einverständnis erheben sich die beiden und gehen durch den Hof in ein Nachbargebäude. Er breitbeinig voran, sie wie ein linkisch stöckelnder Schatten hinterher. Nun beginnt ein ganz anderes Spiel. In einem kargen Raum bewegen sie sich umeinander, taxieren sich wie Verschwörer, die einander noch nicht ganz trauen. Da greift er ihr zwischen die Beine und beginnt, den langen roten Wickelrock auszuziehen. Dann gibt es nur noch zwei nackte Körper, die sich ineinander verknoten, Zungen, die lecken und sanft verschlingen, ein Orgasmus wird in den nächsten übergeblendet – und das mehr als zehn Filmminuten lang.
Der brasilianische Film „Um copo de colera“ – zu deutsch „Ein Becher Wut“ – stürzt von einem Wechselbad ins nächste. So leidenschaftlich und von bezwingender Zärtlichkeit die Grenzüberschreitungen beim Sex sind, so haßerfüllt und unerbittlich sind die Auseinandersetzungen davor und danach. Während es in den letzten Jahren ziemlich „in“ war, das Phänomen des Sadomasochismus in der Sexualität zu beleuchten, exerziert der Regisseur Aluizio Abranches das genaue Gegenteil durch. In seinem Film nach der gleichnamigen Kurzgeschichte von Raduan Nassar aus dem Jahre 1978 ist das Bett der einzige Ort, wo sich die Leidenschaft gewaltlos entfesselt. Alles andere ist Krieg.
Die Szene danach wirkt so, als wollte sie den psychologischen Allgemeinplatz widerlegen, daß sexuelle Befriedigung die Leute weniger aggressiv macht. Als „sie“ und „er“ – die Namen erfahren wir nicht – anschließend wieder auf der Terrasse sitzen, ist er noch ungenießbarer als zuvor. In Herrenreitermanier scheucht er die schwarze Hausangestellte durch die Gegend. Als er sieht, daß Ameisen über Nacht einen seiner Zäune angefressen haben, rennt er wie angestochen los, um sie zu exterminieren. Es ist da nur eine Frage der Zeit, bis sich die Wut das nächste Objekt sucht: „Da lehnt sie an ihrem Auto. Die Personifikation der emanzipierten Frau, die so demokratisch mit den unteren Klassen umgeht und zufällig einen von ihnen bevorzugt und sich mit ihm schmückt“, grollt seine Stimme aus dem Off, als er sich von den Ameisen ab und ihr zuwendet.
Derwischtoben
und spitze Lippen
Gegen das, was danach kommt, ist Elizabeth Taylors und Richard Burtons Ehehölle aus „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ ein Kinderspiel. Er steigert sich immer mehr in die Rolle des proletenhaften Wüterichs vom Dienst hinein, des Individualanarchisten, der gegen imaginäre Wände randaliert. Sie reagiert spitzlippig und arrogant, wie man es von einer intellektuellen Tussi aus der Oberschicht erwartet. „Ich bin perplex“, plappert sie immer wieder, was ungefähr so klingt wie Queen Victorias Ausspruch „We are not amused“.
So könnte der Film tatsäch- lich zu einer Fallstudie über die Verstrickungen zwischen Liebe und Haß, Haupt- und Nebenwidersprüchen werden. Leider weidet er sich jedoch zu sehr in den Attitüden seiner Figuren. Ausführlich werden sie breitgetreten, ohne daß Tiefe entsteht. Wo „er“ wie ein Derwisch tobt, dem die angegrauten Stoppeln wie Nägel aus dem Gesicht wachsen, wächst kein Gras mehr – geschweige denn eine zarte Ahnung von dem, was hinter der Fassade steckt. Und „sie“ ist irgendwann nur noch das Klischee ihrer eigenen Klasse.
Gegen Ende wird es dann ganz vulgärpsychologisch: Beide lassen genau das Gegenteil von dem raus, was ihrem äußeren Rollenbild entspricht: Sie ihre geheime Lust an der Unterwerfung und er seine Lust an der Regression. Und dann liegt er da, der böse wilde Mann, zusammengerollt wie ein rosiger Fötus. Welches feministische (Mutter–)Herz wollte da nicht vor Rührung dahin schmelzen. Oder etwa nicht?
„Um copo de Colera“; Brasilien 1998, Regie: Aluizio Abranches; Farbe; circa 110 Minuten
Der Film wird im Panorama der Berlinale zu sehen sein.
KASTEN
Denjenigen, die nach diesem Film etwas verstört oder gar verärgert sind, sei der brasilianische Kurzfilm „Pombagira“ empfohlen: Ein Dokumentarfilm über Liebeszauber in den Favelas von Rio de Janeiro. Pombagiras sind Gottheiten des Ubanda-Kultes, die angerufen werden können, um sexuelle und häusliche Probleme zu lösen. Sie sind – so der Text zum Film – „verführerisch und eitel, mögen strahlenden Luxus und ganz besonders Männer“. Schmuckbehängte Frauen und aufgestrapste Transvestiten tanzen und hantieren mit Kerzen, Zigaretten und flatternden Hühnern vor Hausaltären. Mit leuchtenden Augen sitzt eine junge Brasilianerin auf ihrem Bett und sagt: „Alle Frauen haben Pompagira.“
„Velinhas“ – „Kerzchen“– heißt ein weiterer skurriler Kurzfilm des 26jährigen Regisseurs Gustavo Spolidoro, der sich ebenfalls um das unerschöpfliche Thema Intimität dreht. Was passiert, wenn zwei Paare zusammen in einer Wohnung Fußball gucken und plötzlich der Strom ausfällt?
„Pombagira“; Brasilien 1998; Regie: Maja Vargas und Patricia Guimaraes; Farbe, 13 Minuten.
„Velinhas“; Brasilien 1998; Regie: Gustavo Spolidoro; Farbe, 10 Minuten; zu sehen im Panorama der Berlinale