Nicaragua | Nummer 601/602 - Juli/August 2024

„Das Regime hat sein Machtmonopol weit konsolidiert“

Interview zur aktuellen Menschenrechtslage in Nicaragua

Nur wenigen Nicaraguaner*innen wird in Deutsch­land Asyl bewilligt, obwohl sich die Menschenrechtslage immer weiter verschlech­tert. Jan-Michael Simon ist Vorsitzender der UN-Expertengruppe zur Untersuchung von Men­schen­rechtsverletzungen in Nicaragua, die ermi­ttelt und regelmäßig berichtet.

Interview: Knut Henkel

Herr Simon, die Menschenrechtssituation in Nicaragua ist in den deutschen Medien kaum ein Thema. Sie haben als UN-Experte tiefere Einblicke. Wie ist die Entwicklung?
Die Menschenrechtssituation in Nicaragua hat sich weiter massiv verschlechtert. Das Regime hat sein Machtmonopol so weit konsolidiert, dass es heute mit subtileren Methoden als dem Verschwindenlassen von Aktivistinnen, der Ermordung von Studierenden und Menschenrechts­aktivistinnen wie 2018 und 2019 agiert. Die heutigen Methoden haben einen viel breiteten Grad an Wirksamkeit: Es werden Exempel statuiert an Personen, die sich kritisch äußern. Das letzte Beispiel ist das von Humberto Ortega, dem Bruder von Daniel Ortega, der unter Hausarrest gestellt wurde, weil er sich kritisch geäußert hatte.

Hat das Signalcharakter?
Ja, die Botschaft an das ganze Land und darüber hinaus ist deutlich: Auch Mitglieder der Familie Ortega, die sich kritisch äußern, können in den Fokus des Sicherheitsapparats geraten. Hintergrund ist, dass sich Humberto Ortega über die zunehmende Macht von Rosario Murillo, der Frau von Daniel Ortega und Vizepräsidentin des Landes geäußert und ihr abgesprochen hatte, Ortegas Nachfolgerin zu werden. Dies ist vor allem deswegen brisant, da es impliziert, dass es um Daniel Ortegas Gesundheitszustand schlecht bestellt ist.

Was sind die Szenarien im Falle des Todes von Ortega? Hat die internationale Gemeinschaft einen Plan B?
Nein, genau den scheint sie nicht zu haben. Niemand weiß, was passiert, wenn Ortega sterben sollte. Es könnte ein Machtvakuum entstehen, denn Nicaragua ist auf der einen Seite charakterisiert von bewaffneten, parastaatlichen Strukturen, auf der anderen steht die Armee und dazwischen die Nationale Polizei. Während die parastaatlichen Strukturen und die Polizei mehr und mehr unter die Kontrolle des Umfeldes von Rosario Murillo geraten sein sollen, gilt dies nicht für das Militär, jedenfalls nicht für die breite Masse. Hinzu kämen dann noch offenbar bewaffnete Gruppierungen aus dem ehemaligen Contra-Spektrum, die an der Grenze zu Honduras aktiv sein sollen.

Woher stammen Ihre Informationen? Stehen Sie und die Expertengruppe auf dem Index der Regierung Ortega?
Ja, wir können das Land nicht betreten. Die Regierung hat sich trotz mehrfacher Gesuche nie entsprechend geäußert. Wir beziehen unsere Informationen von außerhalb Nicaraguas. Mittlerweile befinden sich mehr als 20 Prozent der Bevölkerung, der 6,9 Millionen Menschen, außer Landes. Vor den Protesten von 2018 waren es lediglich zehn Prozent. Viele haben Informationen aus erster Hand. Und dann gibt es auch einige ehemalige Insider, die mit uns sprechen._

Welches sind die wichtigsten Instrumente des Machterhalts des Diktatoren-Ehepaares Murillo/Ortega?
In Nicaragua sind praktisch alle drei Staatsgewalten unter ihrer Kontrolle. Die letzten Rochaden an der Spitze des Obersten Gerichtshofes haben für persönliche Bindungen zur Familie Murillo gesorgt. Hinzu kommt, dass die Presse vollständig unter ihrer Kontrolle ist. Ein weiteres Kontrollinstrument ist die bürgernahe Polizei, die in den letzten 15 Jahren entstanden ist und vor allem lokal kontrolliert wird. Hinzu kommen Las Turbas, wie die parastaatlichen Verbände genannt werden, die für die Repression mitverantwortlich sind, oftmals lokal aus den Parteistrukturen heraus kontrolliert werden und das Regime stützen.

Es macht den Eindruck, dass das Regime in Nicaragua recht fest im Sattel sitzt. Warum greifen die internationalen Sanktionen nicht – wie finanziert sich das Regime?
Wirft man einen Blick auf die ökonomischen Strukturen, springt als erstes der hohe Anteil des Geldtransfers aus dem Ausland ins Auge. Die machen rund ein Drittel des Bruttosozialprodukts von rund 18 bis 20 Milliarden US-Dollar aus. Ein weiteres Drittel fällt auf den landwirtschaftlichen Sektor mit Kaffee, Zucker, Rindfleisch, Tabak und anderen Agrarprodukten. Eine weitere zentrale Einnahmequelle ist die Goldgewinnung: sowohl durch Unternehmen ausländischen Kapitals, als auch durch Unternehmen hinter denen Ortega und sein Umfeld stecken. Wenn man sich diese Daten genauer ansieht, dann stößt man darauf, dass mehr exportiert, als im Land gefördert wird – es wird vermutet, dass es sich unter anderem um Goldverkauf über Nicaragua aus dem venezolanischen Orinoco-Delta handelt. Die Verbindungen zur Regierung von Nicolás Maduro sind eng und auch an der Migration aus Venezuela und Kuba verdient das Regime Ortega mit. Dieser Zufluss von Mitteln lässt sich kaum kontrollieren und findet zumindest verdeckt im halblegalen und illegalen Raum statt.

Welche Rolle spielen Kredite internationaler Banken?
Eine sinkende, aber immer noch wichtige. Bislang deckten diese Kredite einen nicht unerheblichen Teil des Haushalts. Die Tendenz dürfte vor allem deswegen sinkend sein, weil die neue personelle Führung der wichtigen Zentralamerikanischen Bank für Wirtschaftliche Integration sich deutlich gegen eine Weiterfinanzierung ausgesprochen hat (siehe LN 598). Das dürfte sich in Nicaragua – nach Haiti das zweitärmste Land Lateinamerikas– bald bemerkbar machen.

Berücksichtigt die Bundesregierung Ihre Berichte über die Menschenrechtssituation in Nicaragua für ihre Asylverfahren ausreichend?
Auffällig ist, dass unsere Berichte zwar von der Bundesregierung zur Kenntnis genommen, aber scheinbar nicht herangezogen werden, wenn es um die Asylverfahren geht. Die Zahl der Bewilligungen liegt unter zehn Prozent – das ist deutlich weniger als in den USA und Costa Rica, wo sich die Masse der Geflüchteten befindet. Aus meiner Perspektive sind diese Anerkennungszahlen skandalös. Sie sind nicht zu rechtfertigen, denn ich weiß, dass in dem Referenzmaterial, auf dessen Basis die Bescheide erstellt werden, auch unsere Berichte enthalten sind. Ich frage mich, warum die Ablehnungsquote trotzdem so hoch ist.

Foto: privat

JAN-MICHAEL SIMON

ist Jurist, Strafrechtler und Senior Researcher am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg, mit Forschungsschwerpunkten auf politischer Korruption und Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika.


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