Kolumbien | Nummer 312 - Juni 2000

Das Schiff ohne Besatzung

Korruptionsskandale, ein kopfloser Präsident und die Unterbrechung der Gespräche mit der FARC-Guerilla prägen die aktuelle Politik im Land

Präsident Andrés Pastrana ist in seinem Land unbeliebter denn je. Eigentlich wollte er politische Reformen gegen die alles umfassende Korruption einleiten, das Ansehen der Politik im Land heben und einen dauerhaften Friedensdialog mit der Guerilla aufbauen. Durch einen 56-Tage-Konflikt mit dem Kongress brachte er aber eine Erholung der Wirtschaft in Gefahr, und die Friedensgespräche mit den FARC sind ausgesetzt worden. Ersteres zeigt, wie starr die politische Elite im Land gegenüber jeder Reform ist, während mögliche Ursachen für die Unterbrechung der Friedensgespräche über die kolumbianischen Staatsgrenzen hinausgehen.

Tommy Ramm

Toilettenpapier scheint in Kolumbien eine ganze Stange Geld zu kosten. Jedenfalls dann, wenn der Präsident des Abgeordnetenhauses Armando Pomárico einkaufen geht. Dieser gab gleich 49.119 Dollar dafür aus. Doch nicht nur das stand auf seiner Einkaufsliste: In nur zwei Tagen unterschrieb er ganze 62 gefälschte Verträge über 2,8 Millionen Dollar, die er aus der Staatskasse bezahlte. Ein neues Bad war da ebenso enthalten wie eine ausgedehnte Millenniumsfeier.
Dieser Fall von Korruption gehört zu einer ganzen Reihe von Skandalen, denen die kolumbianische Generalstaatsanwaltschaft seit dem 17. März nachgeht. Über ein dutzend Senatoren und Abgeordnete wurden bisher in Untersuchungshaft genommen. Mittlerweile vermuten die Ermittler Unregelmäßigkeiten von über elf Millionen Dollar. Ungewöhnlich sind diese Fälle nicht, schließlich gehört der kolumbianische Staatsapparat zu einem der korruptesten auf dem ganzen Kontinent. Überraschend aber war die darauf folgende politische Krise zwischen Regierung und Kongress, die Anfang April begann, teils groteske Züge angenommen hat und ein fast typisch kolumbianisches Ende nahm.

Eine ausgewachsene Krise

Als Reaktion auf die Nachforschungen der Ermittler kündigte der konservative Präsident Andrés Pastrana am 30. März ein Referendum gegen die Korruption und für eine Reform des Kongresses an. Dabei sollten unter anderem die 267 Sitze im Kongress auf 170 dezimiert werden, die Lohn- und Rentenprivilegien der Abgeordneten abgeschafft und das Finanzgebahren der Beamten stärker kontrolliert werden. Als Datum war der 16. Juli geplant.
Einige Tage später, als die Regierung den Referendumsentwurf dem korruptionsgeplagten Kongress vorlegte, wurde den Abgeordneten bewusst, dass damit auch eine vorzeitige Auflösung von Senat und Abgeordnetenhaus und eine Neuwahl beabsichtigt waren. “Ein Schritt in Richtung einer Diktatur”, nannte es Horacio Serpa erzürnt, Kopf der Liberalen Partei und unterlegener Konkurrent von Pastrana bei den Präsidentschaftswahlen vor zwei Jahren.
Und dieser Schuss von Pastrana ging auch gleich nach hinten los: Um regierungsfähig zu sein gegen die liberale Mehrheit im Kongress, muss sich Pastrana seit seinem Amtsantritt 1998 auf seine so genannte Große Allianz für den Wandel stützen. Diese besteht neben den Abgeordneten seiner Konservativen Partei aus unabhängigen Abgeordneten und Abtrünnigen der Liberalen Partei. Letztere scherten nun aus, da das Referendum als ein Angriff gegen die Liberalen gewertet wurde und man persönliche Vorteile in Gefahr sah. Politik war in Kolumbien somit vorerst gelähmt, da Mehrheiten für Gesetzesentwürfe der Regierung blockiert waren.
Also besannen sich die Befürworter des Referendums auf das Gesetz 134 von 1994, mit dem sie die Abgeordneten unter Druck setzen wollten. Dieses erlaubt es, durch eine Unterschriftensammlung von zehn Prozent der eingetragenen Wähler das Referendum auch durchzuführen, wenn der Kongress den Entwurf ablehnt. Bei über 90 Prozent Zustimmung bei der Bevölkerung sah man keine Schwierigkeiten. In der zweiten Aprilwoche begann die Unterschriftensammlung.
Was Pastrana aber scheinbar bis dahin nicht gewusst hat: Die Wähler wollen nicht nur einen neuen Kongress, sondern gleichzeitig einen neuen Präsidenten. Die Zustimmung für Pastranas Politik erreichte im April mit 29 Prozent einen Tiefststand. Die Wirtschaft erholte sich schließlich bisher kaum von ihrem Einbruch aus dem letzten Jahr und die Arbeitslosenrate lag weiterhin bei über 20 Prozent. Das rief wiederum die Liberalen auf den Plan. Diese sahen nun ihre Chance, den Wahltermin komplett um ein Jahr auf das Jahr 2001 vorzuziehen. Also wurde ein eigener Entwurf für ein Referendum ausgearbeitet, das dem der Regierung entgegengestellt wurde und generelle Neuwahlen vorsah. Die Idee einer Reform des politischen Systems und der Korruptionsbekämpfung wurde nun – ob von Pastrana ernst gemeint oder nicht – zur Waffe, um sich eigene Vorteile zu erstreiten und sich gegenseitig zu demontieren.
Um gleichfalls Druck auszuüben, nahm der Kongress Mitglieder der Regierung ins Visier und leitete Misstrauensabstimmungen ein. So musste am 3. Mai Gesundheitsminister Virgilio Galvis seinen Hut nehmen. Er machte dubiose Verträge mit einer Klinik, deren Teilhaber er war. Kurz danach folgte der Generalsekretär des Präsidenten Juan Hernández, der seinen Einfluss für die Kleidungsfirma seiner Frau geltend machte. Dritter in der Reihe war der Innenminister Néstor Humberto Martínez am 9. Mai. Daraufhin wurde spekuliert, wer als nächstes in welcher Reihenfolge seinen Rücktritt ankündigen würde.
Nun war die Krise komplett für Pastrana. Er nahm den Entwurf aus dem Kongress, um ihn durch die Unterschriften durchzusetzen. Er bezichtigte die liberalen Abgeordneten, Chaos und Anarchie zu schaffen. “Der Kongress akzeptiert nicht den Wechsel”, den er sich 1998 ins Wahlprogramm geschrieben hat.

Einigung nach altem Vorbild

Die Auswirkungen des Konflikts blieben nicht aus, besonders wirtschaftlich. Die Finanzmärkte reagierten gereizt und der Peso verlor gegenüber dem US-Dollar über sieben Prozent an Wert im Zeitraum April/Mai. Um an einen vereinbarten 2,7 Milliarden Dollar-Kredit vom IWF zu kommen, mussten wichtige Reformen verabschiedet werden, die aber im Kongress blockiert wurden. So wurde Präsident Pastrana immer mehr von allen Seiten attackiert. “Seine langfristige Politikplanung reicht nur für die nächsten zwei Stunden”, so der Gewerkschaftsführer Luis Garzón. Die unabhängige Abgeordnete und ehemalige Präsidentschaftskandidatin Noemí Sanín behauptete, Pastrana halte an “den alten, klientelistischen Praktiken fest”.
So kam es denn auch. Wie schon des öfteren in der rund 150-jährigen Geschichte der beiden dominierenden Parteien einigte man sich auf einen Konsens, wenn man in einer zu großen Krise steckt. Am 26. Mai erklärte Pastrana, dass er die Idee einer vorzeitigen Auflösung des Kongresses zurücknehmen und das Referendum vorerst ad acta legen will, um zunächst wichtigere Dinge in Angriff zu nehmen. Die Liberalen stimmten zu und nahmen ihren Referendumsentwurf ebenfalls zurück.
Dagegen verraten fühlten sich die unabhängigen Vertreter, die das Referendum des Präsidenten unterstützten. “Das ist eine neue Nationale Front, die die unabhängigen Kräfte aus dem Prozess ausschließt”, so der Politikwissenschaftler Francisco Leal. Die Nationale Front wurde als Reaktion auf die violencia in den 50er Jahren und den Machtverlust durch eine Militärdiktatur geschaffen. Man einigte sich ab 1957 auf ein Rotationsprinzip bei den Posten bis hin zum Präsidenten. Diese Nationale Front existierte offiziell bis 1974, aber an dem Grundprinzip des Zweiparteiensystems von Liberalen und Konservativen hat sich kaum etwas geändert.
So ohne weiteres ließ sich die Idee des Referendums aber nicht von der Tagesordnung streichen. Eine Gruppe von acht unabhängigen Abgeordneten protestierte gegen die Entscheidung und kündigte an, die Unterschriftensammlung weiter zu verfolgen. Sie gehen davon aus, dass sie bis Anfang Juni die benötigten 2,1 Millionen Unterschriften zusammenbekommen, um das Referendum und die gewünschte Auflösung des Kongresses durchführen zu können.

Friedensprozess im “Urlaub”

Dass Pastrana im Mai die Kontrolle verlor, bekam auch der Friedensprozess mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) zu spüren. Nach einem makabren Mordanschlag durch eine “Halskettenbombe” an einer 56-jährigen Bäuerin, der am 15. Mai stattgefunden hatte, verkündeten der neue Friedensbeauftragte der Regierung Camilo Gómez und der Präsident eine Unterbrechung der Gespräche. Unbekannte hatten der Frau eine “Halskettenbombe” mit Zeitzünder angelegt und sie erpresst, binnen weniger Stunden 7.500 US-Dollar Lösegeld aufzutreiben. Die Bombe explodierte während der Entschärfung, neben der Frau kam ein Sprengstoffexperte dabei ums Leben.
In ungewöhnlich scharfem Tonfall machte Pastrana daraufhin die Guerilla dafür verantwortlich, obwohl der Vorfall noch immer nicht aufgeklärt ist. Die Regierung gestand mittlerweile zu, dass die Unschuld der FARC immer offensichtlicher wird. Trotzdem blieb der Friedensprozess en receso – im Urlaub, wie die kolumbianischen Zeitungen titelten. Die FARC bestritten sofort energisch eine Verantwortung für diese Bluttat und verurteilten die Urheber. Sie nannten den Mord einen “ersten Anschlag auf die Verhandlungsrunde”. Die Schuldigen liegen ihrer Ansicht nach in Kreisen, die den Friedensprozess behindern wollen. Gemeint sind sowohl ultrarechte Paramilitärs als auch Militärkreise. Zudem war zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei Monaten keine Guerillaeinheit mehr in dieser Gegend gewesen.
Es ist das erste Mal, dass der 18-monatige Friedensprozess von Regierungsseite unterbrochen wurde. Im Januar 1999 wurde dieser von den FARC ausgesetzt, weil die Paramilitärs zu Beginn der offiziellen Gespräche das Land mit einer Gewaltwelle überzogen hatten. Über 150 Zivilisten waren in kürzester Zeit bei Massakern ums Leben gekommen. Die Entscheidung Pastranas hat verschiedene Ursachen. Zum einen haben die FARC mit einer Art “paralleler Gesetzgebung” Beschlüsse gefasst, die der kolumbianischen Oberschicht den Schweiß auf die Stirn treiben. Das “Gesetz 002” etwa droht allen Dollarmillionären im Land direkt mit Entführung und Erpressung, sollten sie nicht freiwillig eine Steuer an die Guerilla zahlen. Dieses Thema will Pastrana bei neuerlichen Gesprächen behandelt wissen. Kurioserweise passte der Anschlag dafür wie die Faust aufs Auge.

Europa mischt sich ein

Größeres Aufsehen aber hat die fragwürdige Regierungsentscheidung erregt, ein internationales Treffen über Drogensubstitution und Umweltfragen abzusagen. 22 Länder, überwiegend europäische, unter der Schirmherrschaft von Norwegen und Spanien, wollten sich am 29. Und 30. Mai mit Regierungsvertretern und den FARC am Verhandlungstisch treffen, um über friedliche Wege der Drogenbekämpfung zu sprechen. Eine italienische Kommission hatte sich kurz darauf eingeschaltet, um zu vermitteln. “Wir wollen keine Internationalisierung des Konflikts und noch weniger eine Militarisierung”, sagte Marco Pezzoni, Abgeordneter im Europaparlament. Die Befürchtung scheint nun auch bei den Europäern zu wachsen, dass es durch US-Milliardenhilfen für den Plan Kolumbien zur Aufrüstung des kolumbianischen Militärs für den “Antidrogenkampf” kommt (siehe LN 308, 310).
Die Abstimmung dazu im US-Senat verzögert sich allerdings weiter. Nachdem keine Mehrheit abzusehen war, hat eine Senatskommission Kürzungen in Höhe von etwa 300 Millionen US-Dollar vorgenommen. Dagegen hat die US-Regierung protestiert. Außenministerin Madeleine Albright drohte am 17. Mai gar mit einem Veto des Präsidenten, sollte nicht das ursprüngliche Paket verabschiedet werden. Sie sieht “nationale Interessen” bedroht. Der “Anti-Drogenzar” Barry McCaffrey äußerte gegenüber der Zeitung El Colombiano, dass das Finanzpaket in der ersten Juniwoche abgestimmt werden soll.
Vor diesem Hintergrund würde es nicht verwundern, wenn der angeschlagene Präsident Pastrana das Treffen über Drogensubstitution bewusst verzögern wollte. Ihm wäre es lieber, erst die Milliarden aus den USA für sein Militär einzusacken und dann das internationale Treffen abzuhalten. Dessen scheinen sich die FARC bewusst zu sein und kommen der Regierung ungewöhnlich entgegen. Sie haben angekündigt, dass sie bereit sind, über Erpressung und Entführung zu reden. Und nicht nur das: erstmals besteht die Aussicht auf einen ausgehandelten Waffenstillstand. Ende Mai gab es wieder nach fast zwei Wochen ein Treffen zwischen den Konfliktparteien. Als neuer Termin für das internationale Treffen wurden der 29. und 30. Juni genannt. Mal sehen, ob nicht wieder etwas dazwischen kommt.

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