Brasilien | Nummer 485 - November 2014

Das Spiel der Malucos

Die gefährliche Kunstform pixação prägt das Stadtbild der Metropole São Paulo und spaltet die Bewohner_innen

Jede Nacht ziehen hunderte Jugendliche durch die Straßen der brasilianische Metropole São Paulo und besprühen die höchsten Gebäude der Stadt. Pixação nennt sich die Bewegung. Die „gute“ Gesellschaft stempelt das Phänomen als Vandalismus ab und die Polizei reagiert mit Gewalt. Die wachsende Repression gipfelte Anfang August in dem Tod von zwei Sprühern.

Niklas Franzen

„Os Mortos, Vicio, TMX, Sustos, Lixomania”. Thiago* zeigt auf das vollgesprühte Hochhaus. Riesige, verschnörkelte Buchstaben zieren die komplette Fassade des Gebäudes. „Die Schriftzüge stehen für einen Namen oder eine Gruppe.“
Thiago ist pixador und nennt sich Poder. Seit fast 20 Jahren sprüht er. „Als Kind haben mich die Schriftzüge fasziniert und ich habe mit pixação angefangen“, erinnert er sich. Mit Freund_innen aus der Nachbarschaft gründete Poder 1997 die Chamas-Crew, eine heute bekannte Sprüher_innengruppe aus dem Norden São Paulos. Immer noch zieht es den heute 30-Jährigen jeden Donnerstagabend ins Zentrum vor die Galeria Olido. Die Rua Dom José de Barros ist bei Tag eine belebte Einkaufspassage. Doch wenn es dunkel wird und die Rollläden der Geschäfte heruntergelassen werden, versammeln sich pixadores aus allen Teilen São Paulos in der engen Gasse im Herzen der Millionenstadt. Der Geruch von Marihuana liegt in der Luft. Aus einer Bar dröhnt laute Rap-Musik. Es wird getrunken und diskutiert. Die meisten Anwesenden sind jung, schwarz und männlich. Gefaltete Blätter, die folhinhas, werden herumgereicht, auf denen die Sprüher_innen unterzeichnen. In der Szene gilt es als Zeichen des Respekts, nach der „Unterschrift“ eines anderen pixadors zu fragen. Der sogenannte „Point“ ist zweifellos der wichtigste Treffpunkt der pixadores in der Stadt.
Pixação entstand Anfang der 1980er Jahre in São Paulo und ist eine spezielle Form des Graffitis beziehungsweise des Taggens (Signaturkürzel der Sprüher_innen, Anm. d. Red.). Als Vorläufer gelten die politischen Slogans, die Gegner_innen der Militärdiktatur an die Wände der brasilianischen Großstädte malten. In Stil, Anordnung und Aussage unterscheidet es sich jedoch von allen verwandten Arten, die man aus Europa, den USA und anderen brasilianischen Städten kennt. „Pixação wurde in den Straßen von São Paulo geboren, diese Art zu malen gibt es nur hier“, sagt Poder. Die einfarbigen, kryptischen Buchstaben bedecken mittlerweile große Teile der Metropole. Man findet kaum noch eine Mauer, Brücke oder ein Gebäude ohne die eigenwilligen Markierungen. Die ersten pixadores waren Heavy-Metal-Fans und eigneten sich die Schriftzüge ihrer Lieblingsbands an. Auch der Einfluss von nordischen Runen ist bis heute sichtbar. „Die Sprache der Barbaren von damals ist die Sprache der Barbaren von heute“, sagt der Fotograf und Szenekenner Choque.
Das Stadtbild mit zu prägen hat seinen Preis. Da die höchsten und gefährlichsten Orte am meisten Anerkennung bringen, setzen sich die pixadores beim Sprühen einem enormen Risiko aus. In waghalsigen Aktionen klettern sie die Fassaden von Hochhäusern hinauf, um in schwindelerregender Höhe ihre Schriftzüge anzubringen. Oft kommt es zu schweren Unfällen. Auffällig viele Rollstuhlfahrer_innen sind am Point anzutreffen. „Die meisten von denen sind beim Sprühen abgestürzt“, erklärt Poder, der selbst mehrere Freunde bei Unfällen verloren hat. Pixação ist damit wohl die einzige Kunstform, bei der die Künstler_innen ihr Leben riskieren. Auch kommt es nicht selten zum Bruch mit der Familie und dem sozialen Umfeld. „Alle sagen, dass ich meine Zukunft aufs Spiel setze und verrückt bin. Sie haben recht, aber ich kann nicht aufhören. Pixação ist eine Sucht“, sagt Poder.
Bei regelrechten Kriegen zwischen verfeindeten Crews ließen zudem in der Vergangenheit viele pixadores ihr Leben. Wie auch beim Graffiti organisieren sich die Sprüher_innen nämlich in Gruppen, den sogenannten grifes oder bondes. In der Regel bestehen diese aus fünf bis zehn Mitgliedern. Die Szene ist nach wie vor männlich dominiert, jedoch beginnen auch immer mehr Frauen mit pixação. Die Gruppenzugehörigkeit und ein territorialer Bezug spiegeln sich in den gesprühten Buchstaben wieder. Meist wird erst das eigene Kürzel gesprüht, gefolgt vom Namen der Gruppe und des Stadtteils.
Poder ist wie die große Mehrheit der pixadores in der Peripherie von São Paulo aufgewachsen. Im Gegensatz zum modernen und wohlhabenden Zentrum fehlt es in den Randgebieten der Stadt an grundlegender Infrastruktur und Bildungsmöglichkeiten. Armut, Gewalt und Chancenlosigkeit bestimmen das Leben vieler Bewohner_innen. Mittlerweile lebt Poder in einem besetzten Haus in der Innenstadt. Das Gebäude wurde von wohnungslosen Familien besetzt, nachdem sie aufgrund der stetig steigenden Mieten ihre Häuser verlassen mussten. Während viele pixação als Vandalismus und Langeweile von Jugendlichen abtun, sehen andere wie der Soziologe Sergio Franco die Bewegung vielmehr als eine Gegenöffentlichkeit von marginalisierten Jugendlichen, die auf eine eigene und unkonventionelle Weise auf ihre alltägliche Ausgrenzung und Diskriminierung reagieren. „Pixação ist die Stimme derer, die keine Stimme haben”, erklärt Franco.
„Für mich ist pixação zu 100 Prozent politisch und war immer eine Form des Protests gegen die Verhältnisse“, sagt Poder. Die pixadores eignen sich bestimmte Punkte der Stadt symbolisch an und verschaffen sich damit Aufmerksamkeit. Mit der brutalen Gestalt der Buchstaben brechen sie bewusst mit ästhetischen Standards. Die Provokation ist gewollt. Die Bewegung lebt von der Ächtung. „Für mich sind das bloß Kriminelle“, sagt Alvaro Santos, der ein kleines Geschäft auf der Rua Helvetia betreibt.
Im Gegensatz zu pixação hat es die Graffiti-Szene in Brasilien geschafft, die gesellschaftliche Abneigung zu überwinden und Einzug in den Mainstream zu halten. São Paulo gilt seit Langem als Welthauptstadt des Graffitis, die bunten Wände der Millionenstadt sind Touristenattraktion. Etliche Graffiti-Maler_innen der Stadt haben den Durchbruch auf dem internationalen Kunstmarkt geschafft. Die Werke der Zwillinge Os Gemeos werden in Kunsthallen von New York bis Tokio gehandelt. „Immer mehr Graffiti-Maler_innen stellen ihre Werke in Galerien aus. „Für die pixadores wäre so was undenkbar“, sagt der Sprüher AmorOdio. Diese suchen bewusst den Bruch mit der Gesellschaft. Mit spektakulären Aktionen gelingt es den pixadores immer wieder Unverständnis und Hass auf sich zu ziehen. Im Jahre 1991 reisten zwei Jugendliche aus São Paulo nach Rio de Janeiro und besprühten die Christusstatue, das heißgeliebte Symbol der Stadt. Mehrmals „überfielen“ Gruppen von pixadores Vernissagen und Galerien und übermalten Kunstwerke. Im Jahre 2010 folgten zwei pixadores der Einladung zur Biennale nach Berlin. Statt auf der vorgesehenen Fläche zu malen, kletterten die beiden die St.-Elisabeth-Kirche in der Invalidenstraße hinauf und besprühten das Bauwerk. Beim darauffolgenden Handgemenge schütteten die beiden dem Kurator Artur Zmijewski gelbe Farbe über den Anzug.
Die pixadores werden jedoch nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch von staatlicher Seite scharf beobachtet. Die Polizei geht alles andere als zimperlich mit ihnen um. „Wenn sie uns erwischen, leeren sie die Sprühdosen auf unseren Gesichtern und unserer Kleidung aus und verprügeln uns“, erklärt AXS, der seit vier Jahren Sprayer ist und in São Mateus, am äußersten Rand von São Paulo, lebt. Auch an diesem Donnerstagabend vor der Galeria Olido zeigt die Polizei ihre harte Hand. Wie aus dem Nichts erscheinen mehrere Polizist_innen mit gezogener Waffe am Point. Die Beamt_innen greifen sich eine Gruppe von fünf Jugendlichen und drücken diese unsanft gegen die Fassade eines Schuhgeschäftes. Bis auf einige Sprühdosen und Marker finden die Polizist_innen jedoch nichts und müssen die Jugendlichen laufen lassen. „Die Repression ist Alltag. Sie versuchen uns fertig zu machen“, sagt TNS von den legendären Os Mais Imundos, den „Dreckigsten“.
Anfang August endete ein Polizeieinsatz tödlich. Heute erinnert vor dem Gebäude auf der Avenida Paes de Barros nichts mehr an die traurigen Ereignisse. Jets und Anormal, zwei bekannte pixadores aus dem Osten São Paulos, waren losgezogen, um das 17-stöckige Gebäude im Stadtteil Mooca zu besprühen. Die beiden schmuggelten sich am Pförtner vorbei und fuhren mit dem Aufzug in die letzte Etage. Was dann geschah, ist unklar. Die Polizei erklärte später, dass es sich um Banditen handelte und deshalb das Feuer eröffnet wurde. Die Familien der Opfer bestreiten dies und erklärten, dass die beiden entgegen der Aussage der Polizist_innen unbewaffnet gewesen seien. „Mein Mann war kein Krimineller, sondern pixador“, sagte die Witwe von Jets später in einem Fernsehinterview. „Die Polizist_innen wussten ganz genau, warum die beiden an dem Gebäude hinaufkletterten. Sie wussten, dass es pixadores waren und keine Einbrecher. Das war Mord“, sagt Poder, der Jets kannte und mehrmals mit ihm zusammen gesprüht hat. Eine Woche vor seinem Tod erzählte Jets ihm von seinen Plänen, das Gebäude in Mooca zu bemalen. „Warum sie geschossen haben? Das ist eine Playboy-Gegend, ein schicker Stadtteil. In den letzten Wochen gab es dort viele Beschwerden wegen pixação. Sie haben die Gelegenheit genutzt und jemanden von uns ermordet.“ In der Tat waren die beteiligten Polizist_innen schon vorher in ähnlich zweifelhafte Fälle mit Todesfolge verwickelt. Obwohl die Beamt_innen vom Dienst suspendiert wurden und ein Verfahren eingeleitet wurde, gibt es kaum Hoffnung auf eine Verurteilung.
„Die ersten Wochen nach dem Tod von Jets und Anormal waren alle geschockt. Jeder kannte die beiden“, sagt Poder. Für die versammelten pixadores am Point war Jets einer der wichtigsten und besten Sprüher der letzten Jahre. Jeden Tag sei er nach der Arbeit sprühen gegangen. Nach den tödlichen Schüssen folgten wütende Demonstrationen gegen Polizeigewalt, eine Neuheit für die Szene, die sich sonst nie direkt politisch äußert. Wochenlang sprühten pixadores in der ganzen Stadt die Namen der beiden Toten. „Je mehr sie versuchen uns zu unterdrücken, desto mehr werden wir malen“, sagt Poder, gegen den mehrere Gerichtsverfahren wegen Sachbeschädigung laufen. Trotz wachsender Repression scheint die Stadt mit pixação überfordert zu sein. Die Einsätze der Polizei wirken angesichts der tausenden Sprüher_innen oft wie ein Tropfen auf den heißen Stein. „Pixação wird niemals sterben, denn wir sind malucos, Verrückte.“ Poder trinkt sein Bier aus und verabschiedet sich für heute vom Point. Er habe noch Pläne, sagt er. Sprühdosen klackern in seinem Rucksack, als er in der Nacht der Millionenstadt verschwindet.

* Name von der Redaktion geändert

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