Das stille Sterben im Tal der Hundertjährigen
Im bergigen Süden Ecuadors leben die vielleicht ältesten Menschen der Welt
Märchenhafte Sagen über die Existenz eines Jungbrunnens, der ewiges Leben verleiht, hat schon viele Menschen beflügelt. Wissenschaftler machten sich auf, die Gründe für das Altwerden zu erforschen und Orte zu finden, die dem Menschen ein längeres Leben verleihen. Vor gut dreißig Jahren fragte der kränkelnde Multimillionär John Smith während einer Behandlung, ob es nicht einen solchen Ort gebe. Sein Hausarzt erinnerte sich zufällig an die Reisebeschreibung eines US-Amerikaners, der im 19. Jahrhundert Südamerika bereiste. Danach habe dieser ein Tal in Ecuador gefunden, in dem ungewöhnlich viele Alte lebten.
Mister Smith fing Feuer und finanzierte umgehend zwei Expeditionen in diese Gegend. Und siehe da: in dem 3000-Seelendorf Vilcabamba, gelegen in einem milden Tal, tummeln sich die Hundertjährigen. So habe es einen Bauern namens Gabriel Erazo gegeben, der 130 Jahre alt gewesen sein soll und noch ungewöhnlich agil auf seinem Feld arbeitete.
Ein Ansturm von Medienvertretern, Ärzten und Hippies setzte in den Siebzigern auf das Tal ein. Während Letztere sich einem langen, geruhsamen und ausgeflippten Leben hingaben, versuchten die Anderen hinter das Geheimnis des hohen Alters zu kommen. Zunächst stießen die Forscher jedoch auf Probleme, dieses zu bestimmen. In Ecuador wurde die Registrierung der Bevölkerung erst Anfang des letzten Jahrhunderts eingeführt. Wie alt die Alten tatsächlich waren, konnte nicht nachgewiesen werden. Dennoch wurden die Wissenschaftler auf einen Umstand aufmerksam. So seien die meisten Betagten biologisch rund 20 bis 30 Jahre jünger, als es dem weltweiten Durchschnitt ihrer Altersgenossen entspreche. Die Quelle dieser Entdeckung ließ sich schnell finden: wegen des mineralhaltigen Wassers litten die Menschen nicht an Durchblutungsstörungen oder Arterienverkalkung. Ihre einfache, ballastreiche Nahrung aus Mais- und Kartoffelprodukten tat ihr Übriges und das beständige, warme Klima belastete nicht den Kreislauf. Krankheiten waren damals so selten wie ausländische Touristen.
Platz für Touristen, nicht für Alte
Das hat sich bis heute geändert. Vilcabamba ist zu einem beliebten Touristenort geworden. Ausländische Reisende verbringen ruhige Tage in dem Dorf. Am Kirchplatz haben sich kleine Souvenirläden neben internationalen Restaurants angesiedelt. Gepflegte tropische Kleingärten, die zu heimeligen Familienhotels gehören, zeigen, dass sich der Tourismus hier lohnt. Er ist die einzige Einnahmequelle.
Allerdings nicht für die Alten. In den Nebenstraßen reihen sich im Verfall befindliche Lehmhäuser aneinander, auf deren Terrassen mehrere Alte sitzen. Sie verfolgen den Tag über die Schatten, die die hoch stehende Sonne vor ihren Füßen wandern lässt. Mehr nicht.
”Früher arbeiteten die Alten noch auf ihren Feldern”, meint Victor, ein leutseliger Mittvierziger, der im kleinen Krankenhaus die Medikamente verteilt. Doch damit sei es nun weitgehend vorbei. Warum? Seit die Touristen in das Dorf gekommen sind und der Ruf des Dorfes in die Welt getragen wurde, seien die Bodenpreise explodiert. Ausländer oder bemittelte Einheimische kauften das Land auf, um sich hier vielleicht später einmal anzusiedeln. Victor erzählt von einem Gerücht, wonach sich irgendwo in der Nähe der Vizechef von Microsoft ein Stück Land gekauft habe, um sich später einmal hier niederzulassen.
Mit dem Einzug der Moderne haben die alten Einwohner Vilcabambas ihren Lebensrhythmus verloren. Über Jahrhunderte bildete die Gemeinde eine geschlossene Talgesellschaft, die sich auf ihren Feldern selbst versorgte. Bis zu fünf Generationen einer Familie lebten noch bis vor wenigen Jahren gemeinsam von der Landwirtschaft, die nun zusammengebrochen ist.
Der vielleicht folgenreichste Einschnitt für die Alten des Tals und Vilcabambas stellt die Auflösung der Familienbande dar. Die Jugendlichen im arbeitsfähigen Alter flüchten in die Städte Ecuadors, um etwas Geld zu verdienen. Vom Tourismus profitieren die Wenigsten in dem Dorf. Wer kann, geht ins Ausland. Es gibt fast keine Familie mehr, die nicht ein Mitglied im europäischen Ausland hat. Die Zurückgebliebenen sind abhängig von deren Geldzuwendungen, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Die Einführung des US-Dollars vor zwei Jahren, der die einheimische Währung Sucre nach einer verheerenden Wirtschaftskrise als offizielle Währung ablöste, hat vielen wirtschaftlich das Genick gebrochen. Denn die Preise schießen seitdem unaufhörlich in die Höhe. Wer einige Dollar besitzt, steckt sie sofort in “Immobilien” oder kauft sich ein Auto. Das nächste Jahr wird schließlich teurer werden.
Segundo Cruzero sitzt in vor Schmutz starrender Kleidung vor seiner Hütte. Autos, die über die asphaltierte Straße nur zwei Meter vor seinen Füßen vorbeirauschen, verfolgt er nicht mehr. Er sitzt jeden Tag hier. Seine Schwiegertochter meint später, er sei ”um die hundert Jahre alt”. Während er eine dünne Suppe schlürft, erzählt er schwer verständlich. Es macht ihm Spaß, zu reden. Seine Augen leuchten. Er arbeite noch auf der anderen Seite der Straße im Feld, um sich etwas zum Überleben zu verdienen. Offenbar nicht viel. Aber es ist eine Existenzberechtigung vor sich selbst und seiner Familie, meint er.
Nur zehn Meter oberhalb der Hütte bauen sich seine Angehörigen das Haus aus. Cruzeros Hütte dient zum Lagern der Ziegelsteine. Hinein geht man lieber nicht, ein beißender Geruch nach Urin strömt aus dem Dunkel, das nur eine Pritsche beherbergt. Es gäbe ziemlich viele Flöhe hier, meint Cruzero verlegen. Er ist nur noch Ballast für die Familie, daran besteht kein Zweifel. Auf die Frage, wie lange er noch leben möchte, kann er nicht antworten. Er versteht sie nicht. Seine erloschenen Augen schauen wieder auf die Straße.
Eine vergessene Vergangenheit
”Zum Teufel mit diesem Land”, schießt es aus Rosa Pérez heraus, nachdem sie die verzogene Tür ihres noch verzogeneren Hauses öffnet. ”Nächstes Jahr werden die Strom- und Wasserkosten wieder teurer. Wie sollen wir das bezahlen?”, flucht die 55jährige frei von der Leber weg. ”Wir”, das sind ihre Tochter und ihr 98jähriger Vater Levi Pérez. ”Wir”, das hätten auch sieben Kinder des alten Pérez, 40 Enkel bis hin zu zwei Ururenkeln sein können. Doch diese sind nicht mehr im Dorf. Rosa ist die Einzige, die noch auf ihren Vater aufpasst. Sie ist verbittert, denn ihre Perspektiven sind aussichtslos. Sie müssen von einen Tag in den anderen leben, ohne zu wissen, wovon. Dennoch ist sie eine der Wenigen im Dorf, die sich um ihren Vater kümmern.
Das Einzige, was das Haus zu bieten hat, ist Spärlichkeit. Aber Levi Pérez wirkt gepflegt. Bis vor zwei Jahren arbeitete der Vater noch auf einer kleinen Parzelle in der Nähe. Doch nachdem er vor dem Haus hingefallen sei, habe er bleibende Schäden davon getragen, sagt Rosa. Er höre kaum noch, sein körperlicher Zustand sei labil.
Mit Stolz erzählt sie von ihrem Vater, wie er damals vor gut 70 Jahren begonnen habe, die Bauern gewerkschaftlich zu organisieren. Auch er fängt plötzlich Feuer, erzählt vom schrecklichen Patrón Francisco Igurén, der sie damals wie Sklaven gehalten habe. Als Kind konnte er sich noch erinnern, dass einigen Bauern ein Siegel auf die Wange gebrannt wurde. Wie Vieh seien sie vom Grundbesitzer auf der eine Stunde entfernt gelegenen Hacienda Palmira behandelt worden.
Anfang der vierziger Jahre sei es dann zur Konfrontation gekommen, sagt Pérez. ”Carajo! Hätte ich damals eine Waffe gehabt, hätte ich mich diesem Hurensohn persönlich gestellt!”, regt sich Pérez wild gestikulierend auf. 50 Polizisten seien damals gekommen, um ihn zu töten. Sein Sohn wurde angeschossen, ein Freund umgebracht. Er musste mit Hilfe seiner Freunde und samt Familie in die Berge flüchten. Hunger hätten sie gelitten. Und kalt war es auch. Aber die Bauern hätten ihnen geholfen, sagt er.
Winzige Häuser
Der Landkampf in der Region weitete sich so weit aus, dass selbst die Nationalregierung aufmerksam wurde. Levi Pérez wurde als örtlicher Bauernführer bekannt und flog in den fünfziger Jahren das erste und einzige Mal mit dem Flugzeug nach Quito. ”Mann! Waren die Häuser vielleicht winzig von da oben!”, sagt Pérez und kichert dabei. Er sprach mit dem Landwirtschaftsminister, der ihm und weiteren Bauern Parzellen versprach. Pérez siedelte mit seiner Familie nach Vilcabamba um, bekam ein paar Hektar Land zum Kauf auf Raten angeboten, von denen er und seine Familie die folgenden Jahrzehnte leben konnten.
Das hat seit zwei Jahren ein Ende. Pérez sitzt nun ebenfalls jeden Tag unter dem morschen Vorbau seines Hauses und verfolgt den Lauf der Sonne. Für seine Geschichten interessiert sich hier niemand. Ohne seine Tochter wäre er verloren.
Verantwortung zum Überleben
”Hier gibt es keinen Terrorismus”, meint der politische Verantwortliche des Dorfes Victor Quaicha auf eine Frage, die nie gestellt wurde. Hinter der dicken Brille versprühen seine Augen Verantwortung. Er ist faktisch der Bürgermeister des Ortes, praktisch hat er aber nichts zu sagen. Seine vielleicht einzige Aufgabe besteht darin, den Tourismus für die Hotelbesitzer zu fördern. ”Nein, wirklich. Hier gibt es keine Probleme. Ach ja, die Alten. Da gibt es viele von”, fällt ihm ein. Etwa 50 gebe es noch, die über hundert seien. Wo sie leben, weiß auch er nicht. ”Irgendwo auf dem Land um das Dorf herum. In Champé gibt es eine 120jährige”, habe er gehört. Aber nachweisen könne er dies nicht. Einer 106jährigen aus Vilcabamba wurde kürzlich eine Medaille als älteste Frau des Dorfes verliehen, Doña Barbarita hieße sie. Wenn es schon keine Unterstützung gibt, so wenigstens Anerkennung auf Blech gepresst.
Seit geraumer Zeit versucht eine Gruppe älterer Frauen, ein eigenes Kulturzentrum aufzubauen. Denn nur dann, wenn man aktiv bleibe, habe man den Willen weiterzuleben, sagen alle. Um sich einige US-Dollar zu verdienen, drehen die Frauen zwischen 70 und 90 Jahren Zigaretten, die sie versuchen, an die Touristen weiterzuverkaufen. Denn Rente vom Staat gibt es nicht. Und Gelder für das Zentrum erst recht nicht. Dennoch freuen sich die Frauen. Lachend sitzen sie um einen Tisch herum, schneiden den Tabak und erzählen sich Witze. Sie wirken erstaunlich jung, zumindest noch einmal die Woche, wenn sie sich hier treffen. Zwar gebe es weiter oben im Dorf eine Sozialstation der Fürsorge, wo es kostenloses Mittagessen für die Alten gibt. Doch da gehen sie nicht hin. Es würde sie alt machen, sagt eine. Was sie wollen, ist Verantwortung, ein Platz im sozialen Leben. Ohne diesen sterben sie. So wie viele Andere in den letzten Jahren.